Anders | Die Antiquiertheit des Menschen Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 319, 397 Seiten

Reihe: Beck Paperback

Anders Die Antiquiertheit des Menschen Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution

E-Book, Deutsch, Band 319, 397 Seiten

Reihe: Beck Paperback

ISBN: 978-3-406-72653-8
Verlag: C.H.Beck
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



"Die drei Hauptthesen: daß wir der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen sind; daß wir mehr herstellen, als wir uns vorstellen und verantworten können; und daß wir glauben, das, was wir können, auch zu dürfen: diese drei Grundthesen sind angesichts der im letzten Vierteljahrhundert offenbar gewordenen Umweltgefahren leider aktueller und brisanter als damals."

Günther Anders Anders' Hauptthema ist aktueller denn je: die Zerstörung der Humanität und die mögliche physische Selbstauslöschung der Menschheit. Der bisherige Mensch ist überholt, "antiquiert"?, der gegenwärtige und auch der zukünftige sind gekennzeichnet durch die Diskrepanz zwischen der noch immer wachsenden Kapazität der Technik und dem Unvermögen der Phantasie, sich die katastrophalen Folgen der Technik vorzustellen.
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Einleitung
Aus einem Zeitungsbericht: 
«Die zum Tode Verurteilten können frei darüber entscheiden, ob sie sich zu ihrer letzten Mahlzeit die Bohnen süß oder sauer servieren lassen.» Weil über sie verfügt ist. Auch wir können frei darüber entscheiden, ob wir uns unser Heute als Bombenexplosion oder als Bobsleighrennen servieren lassen. Weil über uns, die wir diese freie Wahl treffen, weil über unsere freie Wahl, bereits verfügt ist. Denn daß wir als Rundfunk-, bzw. Fernsehkonsumenten die Wahl zu treffen haben: als Wesen also, die dazu verurteilt sind, statt Welt zu erfahren, sich mit Weltphantomen abspeisen lassen; und die Anderes, selbst andere Arten von Wahlfreiheit, schon kaum mehr wünschen, andere sich vielleicht schon nicht einmal mehr vorstellen können – darüber ist bereits entschieden. Als ich diesen Gedanken auf einer Kulturtagung ausgesprochen hatte, kam der Zwischenruf, schließlich habe man doch die Freiheit, seinen Apparat abzustellen, ja sogar die, keinen zu kaufen; und sich der «wirklichen Welt» und nur dieser zuzuwenden. Was ich bestritt. Und zwar deshalb, weil über den Streikenden nicht weniger verfügt ist als über den Konsumierenden: ob wir nämlich mitspielen oder nicht – wir spielen mit, weil uns mitgespielt wird. Was immer wir tun oder unterlassen – daß wir nunmehr in einer Menschheit leben, für die nicht mehr «Welt» gilt und Welterfahrung, sondern Weltphantom und Phantomkonsum, daran ist ja durch unseren Privatstreik nichts geändert: diese Menschheit ist nun die faktische Mitwelt, mit der wir zu rechnen haben; und dagegen zu streiken, ist nicht möglich. – Aber auch die sogenannte wirkliche Welt, die der Geschehnisse, ist durch die Tatsache ihrer Phantomisierung bereits mitverändert: denn diese wird ja bereits weitgehend so arrangiert, daß sie optimal sende-geeignet ablaufe, also in ihrer Phantom-Version gut ankomme. – Vom Wirtschaftlichen ganz zu schweigen. Denn die Behauptung, «man» habe die Freiheit, derartige Apparate zu besitzen oder nicht, zu verwenden oder nicht, ist natürlich reine Illusion. Durch freundliche Erwähnung der «menschlichen Freiheit» läßt sich das Faktum des Konsumzwanges nicht aus der Welt schaffen; und daß gerade in demjenigen Lande, in dem die Freiheit des Individuums großgeschrieben wird, gewisse Waren «musts», also «Muß-Waren» genannt werden, verweist ja nicht gerade auf Freiheit. Diese Rede von «musts» ist aber vollkommen berechtigt: denn das Fehlen eines einzigen solchen «must»-Geräts bringt die gesamte Lebensapparatur, die durch die anderen Geräte und Produkte festgelegt und gesichert wird, ins Wanken; wer sich die «Freiheit» herausnimmt, auf eines zu verzichten, der verzichtet damit auf alle und damit auf sein Leben. «Man» könnte das? Wer ist dieses «man»? Was von diesen Geräten gilt, gilt mutatis mutandis von allen. Daß sie noch «Mittel» darstellen, davon kann keine Rede sein. Denn zum «Mittel» gehört wesensmäßig, etwas Sekundäres zu sein; das heißt: der freien Zielsetzung nachzufolgen; ex post, zum Zwecke der «Vermittlung» dieses Ziels, eingesetzt zu werden. Nicht «Mittel» sind sie, sondern «Vorentscheidungen»: Diejenigen Entscheidungen, die über uns getroffen sind, bevor wir zum Zug kommen. Und, genau genommen, sind sie nicht «Vorentscheidungen»; sondern die Vorentscheidung. Jawohl, die. Im Singular. Denn einzelne Geräte gibt es nicht. Das Ganze ist das Wahre. Jedes einzelne Gerät ist seinerseits nur ein GeräteTeil, nur eine Schraube, nur ein Stück im System der Geräte; ein Stück, das teils die Bedürfnisse anderer Geräte befriedigt, teils durch sein eigenes Dasein anderen Geräten wiederum Bedürfnisse nach neuen Geräten aufzwingt. Von diesem System der Geräte, diesem Makrogerät, zu behaupten, es sei ein «Mittel», es stehe uns also für freie Zwecksetzung zur Verfügung, wäre vollends sinnlos. Das Gerätesystem ist unsere «Welt». Und «Welt» ist etwas anderes als «Mittel». Etwas kategorial anderes. – Es gibt nichts Prekäreres heute, nichts, was einen Mann so prompt unmöglich machte, wie der Verdacht, er sei ein Maschinenkritiker. Und es gibt keinen Platz auf unserem Globus, auf dem die Gefahr, in diesen Verdacht zu geraten, geringer wäre als auf einem anderen. In dieser Hinsicht sind sich Detroit und Peking, Wuppertal und Stalingrad heute einfach gleich. Und gleich sind in dieser Hinsicht auch alle Gruppen: Denn in welcher Klasse, in welchem Interessenverband, in welchem sozialen System, im Umkreis welcher politischen Philosophie auch immer man sich die Freiheit herausnimmt, ein Argument über «entwürdigende Effekte» dieses oder jenes Gerätes vorzubringen, automatisch zieht man sich mit ihm den Ruf eines lächerlichen Maschinenstürmers zu, und automatisch verurteilt man sich damit zum intellektuellen, gesellschaftlichen oder publizistischen Tode. Daß die Angst vor dieser automatischen Blamage den meisten Kritikern die Zunge lähmt, und daß eine Kritik der Technik heute bereits eine Frage von Zivilcourage geworden ist, ist also nicht erstaunlich. Schließlich (denkt der Kritiker) kann ich es mir nicht leisten, mir von jedermann (von Lieschen Müller bis hinauf zur computing machine) sagen zu lassen, ich sei der einzige, der der Weltgeschichte in die Speichen falle, der einzige Obsolete und weit und breit der einzige Reaktionär. Und so hält er seinen Mund. Jawohl, um nicht als Reaktionär zu gelten. – Auf der soeben schon erwähnten Tagung ist dem Schreiber das Folgende passiert: Er schilderte, im Zusammenhang mit dem, was er «post-literarisches Analphabetentum» nennt, die globale Bilderflut von heute: die Tatsache, daß man den heutigen Menschen, und zwar überall, mit allen Mitteln der Reproduktionstechnik: mit illustrierten Blättern, Filmen, Fernsehsendungen, zum Angaffen von Weltbildern, also zur scheinbaren Teilnahme an der ganzen Welt (bzw. an dem, was ihm als «Ganze» gelten soll) einlade; und zwar um so generöser einlade, je weniger man ihm Einblick in die Zusammenhänge der Welt gewähre, je weniger man ihn zu den Hauptentscheidungen über die Welt zulasse; daß man ihm, wie es in einem molussischen Märchen heißt, «die Augen stopfe»: ihm nämlich um so mehr zu sehen gebe, je weniger er zu sagen habe; daß die «Ikonomanie», zu der man ihn durch diese systematische Überflutung mit Bildern erzogen habe, schon heute alle diejenigen unerfreulichen Züge des Voyeurtums aufweise, die wir mit diesem Begriff, im engeren Sinne, zu verbinden gewohnt seien; daß Bilder, namentlich dann, wenn sie die Welt überwucherten, stets die Gefahr in sich trügen, zu Verdummungsgeräten zu werden, weil sie, qua Bilder, im Unterschied zu Texten, grundsätzlich keine Zusammenhänge sichtbar machten, sondern immer nur herausgerissene Weltfetzen: also, die Welt zeigend, die Welt verhüllten. – Nachdem der Verfasser diesen Gedankengang ausgeführt hatte – in reiner Darstellung wohlgemerkt, ohne alle therapeutischen Vorschläge – geschah es also, daß er, und zwar von einem Vertreter des juste milieu, ein «romantischer Reaktionär» genannt wurde. Diese Apostrophierung machte ihn einen Augenblick lang stutzig, denn als Reaktionär verdächtigt zu werden, ist ihm keine gerade vertraute Situation. Aber doch nur einen Augenblick lang, denn der Zwischenrufer verriet in der nun einsetzenden Diskussion sofort, was er mit seiner Apostrophierung gemeint hatte. «Wer derartige Phänomene und Effekte ausdrücklich ins Licht rückt», erläuterte er nämlich, «der kritisiert. Wer kritisiert, der stört sowohl den Entwicklungsgang der Industrie wie den Absatz des Produktes; mindestens hat er die naive Absicht, solche Störung zu versuchen. Da aber der Gang der Industrie und der Absatz auf jeden Fall vorwärtsgehen soll (oder etwa nicht?), ist Kritik eo ipso Sabotage des Fortschritts; und damit eben reaktionär.» Daß diese Erklärung etwas an Deutlichkeit übriggelassen habe, darüber konnte ich nicht klagen. Besonders instruktiv an ihr schien mir, daß sie die robuste Wiederauferstehung des Fortschrittsbegriffes bewies, von dem man unmittelbar nach der Katastrophe 45 den Eindruck gehabt hatte, daß er im Eingehen begriffen war; und daß sie zeigte, daß dieser Begriff, der früheren Restaurationsepochen ein Dorn im Auge gewesen war, nun zum Argument der prosperierenden Restauration selbst geworden war. – Was aber das Epitheton...


Günther Anders (1902 – 1992), promovierte 1923 bei Husserl, emigrierte 1933 nach Paris und 1936 nach Amerika. Er lebte von 1950 bis zu seinem Tod in Wien. Günther Anders war „der wahrscheinlich schärfste und luzideste Kritiker der technischen Welt“ (Jean Améry), sein Hauptwerk ist „Die Antiquiertheit des Menschen“.


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