Appiah | Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Appiah Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-446-26510-3
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



'Appiah zerlegt die Dogmen und die Propaganda, die harnäckig bestimmen, wie wir über Identität sprechen.' Zadie Smith
In den politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart wird immer wieder eine Kategorie aufgerufen: Identität. Wer sind wir? Oder besser: Was sind wir? Diese Fragen beantworten wir gewohnheitsmäßig mit kollektiven Kategorien wie Religion, Nationalität, Hautfarbe, Klasse oder Kultur. Kwame Anthony Appiah zeigt, dass hinter den politischen Kategorien von Zugehörigkeit und Abgrenzung häufig paradoxe Zuschreibungen stehen, und schöpft dabei aus einem schier unendlichen Reservoir historischen Wissens sowie persönlicher Erfahrungen - und schafft mit dem Handwerkszeug des Philosophen Ordnung und Orientierung in einer häufig unübersichtlichen und politisch brisanten Diskussion. Sein Buch ist grundlegende Lektüre für eine komplexe Welt.

Kwame Anthony Appiah, geboren 1954 in London und aufgewachsen in Ghana, studierte in Cambridge und bekleidet heute nach Professuren in Yale, Cornell, Duke, Harvard und Princeton einen Lehrstuhl für Philosophie und Jura an der New York University. Seit 2009 schreibt er eine Ethik-Kolumne für das New York Times Magazine.
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Über Identität sprechen   Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts hätte niemand, der nach der Identität eines Menschen fragte, die Kategorien race, Gender, Nationalität, Region oder Religion erwähnt. Wenn George Eliot in Middlemarch schreibt, Rosamond hätte »fast das Bewusstsein ihrer Identität« verloren, weil ihre Protagonistin mit tiefgreifenden neuen Erfahrungen konfrontiert ist, als sie erfährt, dass Will Ladislaw, der Mann, den sie zu lieben glaubt, hoffnungslos in eine andere verliebt ist.1 Identität ist hier etwas ganz Besonderes und Persönliches. Die Identitäten, an die wir heute denken, haben wir dagegen meist mit Millionen oder Milliarden anderen Menschen gemeinsam. Sie sind sozialer Natur. In den sozialwissenschaftlichen Theorien des frühen 20. Jahrhunderts sucht man nach solchen Identitäten vergebens. In seinem 1934 veröffentlichten Buch Mind, Self, and Society skizzierte George Herbert Mead eine einflussreiche Theorie des Selbst als Produkt eines »Ich«, das auf die sozialen Anforderungen der anderen reagiert und durch deren Verinnerlichung das »Mich«, wie er dies nannte, herausbildet. Doch in diesem bedeutenden klassischen Werk des soziologischen Denkens im frühen 20. Jahrhundert findet sich nirgendwo der Begriff der Identität in unserem modernen Sinne. Von Identität begann man in nennenswertem Umfang erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu sprechen, und zwar in der Sozialpsychologie, mit dem einflussreichen Werk des Psychologen Erik Erikson. In seinem ersten Buch, Kindheit und Gesellschaft, das 1950 erschien, verwendet er den Ausdruck in mehr als einer Bedeutung. Vor allem aber erkannte er, wie wichtig soziale Rollen und die Zugehörigkeit zu Gruppen für die Ausbildung eines Selbstbewusstseins sind, das er in psychoanalytischer Manier als »Ich-Identität« bezeichnete. Später erforschte Erikson die Identitätskrisen im Leben Martin Luthers und Mahatma Gandhis und veröffentlichte Bücher mit Titeln wie Identität und Lebenszyklus (1959), Jugend und Krise (1968) und Dimensionen einer neuen Identität (1974). Erikson, der in Südwestdeutschland aufwuchs, erzählt über seine Herkunft eine Geschichte, die den Kern unserer heutigen Vorstellungen trifft:   Mein Stiefvater war der einzige (und hochgeachtete) Akademiker aus einer streng jüdischen Kleinbürgerfamilie, während ich selbst (mit meiner gemischt-rassischen, skandinavischen Herkunft) blond und blauäugig war und zu auffälliger Größe heranwuchs. Alsbald galt ich daher in der Synagoge meines Stiefvaters als »Goy« – während ich für meine Schulkameraden ein »Jude« war.   Ich denke, während die jüdische Gemeinde die jiddische Bezeichnung für einen Nichtjuden verwendete, dürften die deutschen Kinder nicht immer ein so höfliches Wort wie »Jude« benutzt haben. Sein biologischer Vater war ein Däne namens Salomonsen gewesen; sein Stiefvater hieß Homburger. Irgendwann nahm er den Familiennamen Erikson an, womit er gleichsam zum Ausdruck brachte, wie seine Tochter einmal trocken bemerkte, dass er sein eigenes Geschöpf war.2 Daraus können wir mit Gewissheit schließen, dass Identität für ihn selbst eine stark belastete Frage war. In seinem ersten Buch legte Erikson eine Theorie vor, in der er darlegte, warum »wir« – und angesichts unseres Themas ist es interessant, dass er damit »wir Amerikaner« gemeint haben dürfte – uns gerade zu diesem Zeitpunkt »mit der Identität beschäftigen, da diese problematisch geworden ist. Und zwar beginnen wir damit in einem Lande, in dem sich eben aus all den durch die Einwanderer importierten Identitäten eine Super-Identität bilden will; und der Zeitpunkt unseres Unternehmens ist der der rasch wachsenden Mechanisierung, welche die im Wesentlichen bäuerlichen und patriarchalischen Identitäten auch in den Ursprungsländern all dieser Einwanderer zu vernichten droht.«3 Das ist eine gute Geschichte. Aber ich glaube sie nicht. Wie wir immer wieder in diesem Buch sehen werden, war Identität in unserem Sinne bereits ein Problem, als wir noch gar nicht begonnen hatten, in dieser modernen Weise darüber nachzudenken. Während Erikson, der zwischen persönlichen und kollektiven Formen der Identität schwankte, für eine weite Verbreitung des Begriffs sorgte, gehörte der einflussreiche amerikanische Soziologe Alvin B. Gouldner zu den ersten, die eine detaillierte Definition der sozialen Identität als solcher anboten. »Offenbar ist mit ›Stellung‹ die soziale Identität gemeint, die einer Person von Mitgliedern ihrer Gruppe zugeschrieben wird«, schrieb er 1957 in einem Aufsatz. Und er stellte dar, was das im sozialen Leben praktisch bedeuten mochte. Zunächst, so glaubte er, beobachten die Menschen »an einer Person oder unterstellen ihr bestimmte Merkmale«, die es ihnen erlauben, »die Frage zu beantworten, wer sie ist«. Als Nächstes »werden diese beobachteten oder unterstellten Merkmale auf der Grundlage eines Satzes kulturell vorgegebener Kategorien interpretiert«.   Auf diese Weise wird der Einzelne »eingeordnet«, das heißt, man hält ihn für eine bestimmte »Art« von Person, einen Lehrer, einen Schwarzen, einen Jungen, einen Mann oder eine Frau. Der Prozess, in dem der Einzelne von anderen Mitgliedern seiner Gruppe auf der Grundlage vorgegebener Kategorien klassifiziert wird, kann als Zuschreibung einer »sozialen Identität« bezeichnet werden. Die Typen oder Kategorien, denen er zugeordnet wurde, sind seine sozialen Identitäten. Verschiedenen Identitäten entsprechen dabei verschiedene Erwartungen, Rechte und Pflichten.4   Wie Sie sehen werden, glaube ich, dass Gouldner in vielem recht hatte. Appelle an die Identität nahmen während der 1960er Jahre beträchtlich zu, und Ende der 1970er Jahre gab es in vielen Gesellschaften politische Bewegungen, die in Geschlechterfragen und sexueller Ausrichtung, race, Religion und ethnischer Zugehörigkeit gründeten (während der Klassenbezug in der Politik in den Hintergrund trat). Vielerorts redeten regionale Bewegungen, die versuchten, teils seit langem bestehende Staaten aufzulösen, von nationaler Identität. Allein in Europa gibt es den schottischen, walisischen, katalanischen, baskischen, padanischen und flämischen Nationalismus. Ende des 20. Jahrhunderts zerbrach Jugoslawien in eine Reihe eigenständiger Staaten. Gerüchte gibt es auch im Blick auf Britannien, Korsika und die Normandie – und diese Liste ist alles andere als vollständig.     Ein wenig Theorie
  Ich schreibe und grüble nun seit mehr als drei Jahrzehnten über Fragen der Identität. Mein theoretisches Denken nahm seinen Ausgang mit Gedanken über die Kategorie race, denn ich war äußerst verwundert darüber, wie Menschen an verschiedenen Orten auf mein Aussehen reagierten. Das galt nicht so sehr für Asante, wo ein einheimisches Elternteil, wie mir schien, in der Regel genügte, um als zugehörig zu gelten. Jerry Rawlings, Staatspräsident Ghanas von 1981 bis 2001, hatte einen schottischen Vater. Er wurde ursprünglich nicht vom Volk gewählt, denn er kam zweimal durch einen Staatsstreich an die Macht, doch dann wählten ihn seine Landsleute zweimal zum Präsidenten. Anders als meine drei Schwestern, die wie mein Vater in Asante geboren wurden, besitze ich nicht die ghanaische Staatsbürgerschaft. Ich wurde in England geboren, bevor Ghana die Unabhängigkeit erlangte, von einer englischen Mutter, und kam erst mit einem Jahr nach Asante. Deshalb hätten meine Eltern die ghanaische Staatsbürgerschaft für mich beantragen müssen, aber das taten sie nicht. Als ich dann selbst dafür zuständig war, hatte ich mich daran gewöhnt, ein Ghanaer mit britischem Pass zu sein. Als Vorsitzender der ghanaischen Anwaltskammer war mein Vater einmal beim Aufsetzen einer der zahlreichen Verfassungen des Landes beteiligt. »Warum verändert ihr nicht die Gesetze, sodass ich gleichzeitig ghanaischer und britischer Staatsbürger sein kann?«, fragte ich ihn damals. Und er antwortete mir: »Man hat nur eine Staatsbürgerschaft.« Mir war klar, dass ich in dieser Sache bei ihm nichts ausrichten konnte. Aber trotz fehlender staatsrechtlicher Verbindung kommt es doch gelegentlich vor, dass zumindest manche, wenn ich denn etwas Bemerkenswertes tue, mich für das Land reklamieren, aus dem die Hälfte meiner Vorfahren stammt. Auch in England war die Sache recht kompliziert. Im Dorf meiner Großmutter, Minchinhampton in Gloucestershire, wo ich in meiner Kindheit viel Zeit verbrachte, schienen die Leute, die uns kannten, nie an unserem Recht zu zweifeln, dort zu sein. Meine Tante und mein Onkel lebten gleichfalls in diesem malerischen Markflecken im Westen Englands. Meine Tante war dort geboren. Mein Großvater hatte in diesem Tal als Kind viel Zeit in einem Haus verbracht, das seinem Onkel gehörte, dessen Textilfabrik einst Tuche für die Umhänge britischer Soldaten und grüne Wollstoffe für die Bezüge von Billardtischen gewebt hatte. Mein Urgroßvater, Alfred Cripps, hatte kurze Zeit als Abgeordneter für das ein paar Meilen nördlich gelegene Stroud im Parlament gesessen, und dessen Urgroßvater, Joseph Cripps, hatte für einen Großteil der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das einige Meilen östlich gelegene Cirencester vertreten. Und es gab noch mehr Leute mit diesem Namen in der Gegend, bis zurück ins 17. Jahrhundert – einige davon sind auf dem Friedhof in Cirencester begraben. Aber die Hautfarbe und die afrikanische Abstammung, die ich mit meinen Schwestern teilte, wies uns in einer Weise als anders aus, die mir nicht immer bewusst...


Appiah, Kwame Anthony
Kwame Anthony Appiah, geboren 1954 in London und aufgewachsen in Ghana, studierte in
Cambridge und bekleidet heute nach Professuren in Yale, Cornell, Duke, Harvard und
Princeton einen Lehrstuhl für Philosophie und Jura an der New York University. Seit 2009
schreibt er eine Ethik-Kolumne für das New York Times Magazine.


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