Thriller
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-423-43835-3
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Eine nächtliche Fahrt durch die Wüste von New Mexico. Zwei Frauen in einem Auto, die sich nie zuvor begegnet sind. Beide haben Geheimnisse, die sie um jeden Preis bewahren wollen. Doch jetzt haben sie ein gemeinsames Ziel. Und einen gemeinsamen Verfolger. Denn jemand beobachtet sie. Jemand will sie töten. Aber welche der beiden hat der mysteriöse Unbekannte im Visier? Für die Frauen ist nur eines sicher: Wenn sie überleben wollen, müssen sie einander vertrauen.
Weitere Infos & Material
Lubbock, Texas
483 Kilometer bis Albuquerque
Cait ließ den Motor laufen. Sie hatte den Jeep im Sommer vor ihrem Studium gebraucht gekauft, nachdem sie Hunderte Stunden in der Richland Mall gejobbt hatte, und manchmal spielte er verrückt. Normalerweise störte sie das nicht weiter. Es machte ihr Spaß, unter die Motorhaube zu schauen, und sie wusste auch ziemlich oft, wie sich das Problem lösen ließ. Ihr Vater hatte sie schon als Sechsjährige mit in die Autowerkstatt genommen. Doch gerade jetzt wollte sie auf keinen Fall riskieren, dass der Motor nicht wieder ansprang. Reif glitzerte auf dem Rasen. Ein so elegantes Haus hatte sie nicht erwartet. Meist waren sie heruntergekommen, Mehrfamilienhäuser aus Betonblöcken oder Bungalows mit löchrigem Putz, beengte Wohnverhältnisse in Gegenden, in denen sie sich nach Einbruch der Dämmerung lieber nicht auf der Straße aufhalten wollte. Vor etwa einem Monat musste sie an den Stadtrand von Abilene, gleich hinter den Bahnschienen an der Route 20. Zuerst war sie glatt an dem Haus vorbeigefahren, obwohl die Nummer 22 deutlich sichtbar auf den Briefkasten gemalt war. Unmöglich, dass hier jemand wohnte, hatte sie gedacht – es war kaum mehr als ein Schuppen und wirkte verlassen, die Fenster waren vernagelt, davor stand ein rostiger Pick-up ohne Räder. Sie war der Straße noch einige hundert Meter gefolgt und hatte nach dem richtigen Haus gesucht, aber nur Ackerland gefunden. Also hatte sie die Adresse noch einmal überprüft, und es war tatsächlich der Schuppen. Eigentlich hätte sie sich das denken können, die Zentrale machte in dieser Hinsicht keine Fehler. Sie hatte gewendet, gehalten, und dann war ein Mädchen, kaum älter als achtzehn, hinter dem Haus hervorgerannt und schweigend in den Jeep gestiegen. Cait erinnerte sich an ihr nervöses Lächeln, den langen, geflochtenen Zopf, der ihr schimmernd über den Rücken fiel, die schmutzigen Halbmonde unter ihren Fingernägeln. Hier aber war es ganz anders: ein Pseudo-Herrenhaus mitsamt Doppelgarage und beleuchtetem Rentier auf dem Rasen. Das Rentier war eines dieser geschmackvollen Objekte aus Draht und winzigen weißen Lichtern, nicht zum Aufblasen wie die schlaffen Rentiere, die einen aufgeblähten Weihnachtsmann über das Dach zogen, wie früher daheim bei ihren Eltern in Waco. Das Haus war aus rotem Backstein und hatte kleine Giebel, ein gepflasterter Weg schlängelte sich zur imposanten Eingangstür. Immobilien waren hier zwar billiger als in Austin – fast überall war es günstiger als in Austin –, aber der Besitzer dieses Hauses musste definitiv Kohle haben. Das Haus brachte sie ein bisschen aus der Fassung. Sie hielt Ausschau, ob sich auf der Straße etwas tat. Die Fenster waren dunkel, das einzige Licht kam von den hübschen Straßenlaternen, die den Gehweg säumten. In einer Einfahrt lag ein rotes Dreirad, vergessen bis zum nächsten Morgen. Sie stellte sich ein pausbäckiges kleines Mädchen vor, das auf dem Gehweg auf und ab strampelte, die kleinen Finger fest um den Lenker gelegt. Wie es immer schneller fuhr und im Fahrtwind vor Freude und Angst quietschte. Der Verkehr war schnell ausgedünnt, nachdem sie das Stadtgebiet von Austin verlassen hatte, nur wenige Autos rollten über die endlos scheinende Straße. Die Aussicht war immer gleich, eine kahle Ebene, die sich ins Unendliche erstreckte, nur hin und wieder unterbrochen vom Grün bewässerter Rasenflächen und von Häusern mit säuberlich markierten Grundstücken, die eine Stadt ankündigten. Acht Stunden später saß sie nun hier und wartete. Sie rutschte auf dem Sitz herum, kratzte sich, unterdrückte ein Gähnen. Sie musste sich unterwegs einen Kaffee besorgen. Aber erst, wenn die Stadt hinter ihnen lag. Sie schaute auf die Uhr am Armaturenbrett. 00:10 Uhr. Mitternacht war vereinbart gewesen, aber sie war vorsichtshalber ein paar Minuten früher gekommen. Jetzt wartete sie schon eine ganze Weile. Das kam gelegentlich vor. Manche wurden nervös, überlegten es sich anders. Eigentlich sollten sie ihr dann ein Zeichen geben: dreimal rasch das Licht an- und ausschalten, damit sie wusste, dass sie nicht kommen würden. Zweimal galt als Notruf, dann verständigte sie die Polizei. Bisher hatte sie kein Lichtsignal wahrgenommen. Cait machte sich keine Sorgen, jedenfalls noch nicht. Sie suchte wieder die Straße ab. Alles ruhig im Vorstadtidyll. Alle Autos sicher in der Garage, alle Bewohner sicher im Bett. Plötzlich bemerkte sie etwas aus den Augenwinkeln. Sie umklammerte mit einer Hand das Lenkrad, mit der anderen den Schaltknauf. Ihr Herz hämmerte. Was war das? Dann sah sie das Opossum, das unter einer dichten Hecke verschwand, und erschauerte. Sie war mit Opossums aufgewachsen, mochte sie aber trotzdem nicht. Als Jungtiere waren sie ganz niedlich, doch ausgewachsen ziemlich biestig. Egal, ein Opossum war keine Herausforderung. Blick zurück zum Haus. Immer noch dunkel, immer noch still. Mittlerweile war es 00:15 Uhr. Sie würde noch fünf Minuten warten. Länger sollten sie sich nicht aufhalten, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Falls ein Nachbar aufstand, um auf die Toilette zu gehen, und einen ramponierten alten Jeep auf der Straße entdeckte, würde er in einer Gegend wie dieser umgehend die Bullen rufen. Und die ließ man lieber außen vor. Man wusste nie, auf wessen Seite sie standen. Ein Vorhang oben im Haus bewegte sich, kurz darauf ging unten das Licht an. Es war so weit: jetzt oder nie. Sie setzte sich aufrecht hin und wischte sich die verschmierte Wimperntusche unter den Augen weg. Mach dich bereit. Sowie sie einsteigt, fährst du los. Kurz darauf tauchte eine blonde Frau in einer gebügelten weißen Bluse zu khakifarbener Hose auf, mit einer teuer wirkenden Tasche über der Schulter. Sie sah überhaupt teuer aus – blitzsauber, auf Hochglanz poliert, einfach tipptopp. Cait sah zu, wie die Frau die Haustür abschloss, zögerte und sich noch einmal vergewisserte, dass sie wirklich abgeschlossen war. Schweiß kribbelte auf ihrem Rücken. Machschonmachschonmachschon. Die Frau warf einen Blick auf die Nachbarhäuser und ging schnell den Weg entlang. Cait lehnte sich über den Beifahrersitz und stieß die Tür auf. Das Gesicht der Frau erschien in der Öffnung. »Hi, Rebecca?« Cait lächelte, als sie den Namen aussprach. Es war wichtig, ihnen so schnell wie möglich die Nervosität zu nehmen. Die Frau nickte und stieg ein. Ihr Geruch erfüllte den Wagen: Baumwolle, Vanille und Sandelholz. »Ich bin Caitlyn«, sagte sie, obwohl die Frau das sicher schon wusste. »Aber Sie können mich Cait nennen.« Die Frau nickte erneut und drückte ihre Tasche an sich. »Der Gurt ist rechts«, sagte sie. Die Frau griff hinter sich und ließ den Gurt einrasten. Dabei schaute sie unverwandt auf die verlassene Vorortstraße. Cait fuhr los. »Haben Sie ein Telefon dabei?« Die Frau schloss die Augen. »Ein Mobiltelefon.« Manchmal wurden sie nervös und erstarrten. Sie hatte gelernt, ihnen Informationen zu entlocken. »Falls ja, schalten Sie es bitte aus.« Die Frau riss die Augen auf. »Wieso?« »GPS.« Sie runzelte die Stirn. »Ist das wirklich …« »Ja, ist es. Tut mir leid. Es mag ein bisschen extrem wirken, aber …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Beide wussten, dass dies extreme Umstände waren. Die Frau wühlte in ihrer Tasche und holte das Handy heraus. Cait vergewisserte sich mit einem Seitenblick, dass sie es ausschaltete. »Wie lange brauchen wir?« »Etwa sechs Stunden. Vielleicht ein bisschen weniger. Auf dem Rücksitz sind Wasserflaschen. Bedienen Sie sich.« Rebecca drückte ihre Tasche noch fester an die Brust. »Danke, es geht schon.« Im Rückspiegel sah Cait, wie in einem Nachbarhaus das Licht anging und ein Gesicht am Fenster erschien. Ganz ruhig. Einfach normal fahren, denk dir nichts dabei. »Haben Sie engen Kontakt zu Ihren Nachbarn?«, fragte sie beiläufig. Rebecca schaute sie überrascht an. »Eigentlich nicht.« Cait hielt die Augen auf den Rückspiegel geheftet. Der Vorhang fiel wieder vors Fenster, das Licht ging aus. Sie seufzte. »Scheint eine Gegend zu sein, in der man freundschaftlichen Umgang pflegt. Straßenfeste und so. Gibt es eine Nachbarschaftswache?« »Ich glaube nicht.« »Gut.« Mit denen hatte sie schon Schwierigkeiten gehabt. Wenn man jemandem ein Abzeichen und ein bisschen Autorität gab, konnten die Dinge schnell aus dem Ruder laufen. In den übrigen Häusern blieb es dunkel. Kein Auto auf der Straße. Sie hatten das Wohngebiet fast hinter sich gelassen. Auf den Hauptstraßen würde es einfacher werden. »Darf ich das Radio einschalten? Nur damit ich wach bleibe.« Die Frau nickte. Cait drückte den Wählknopf. Das Geschwafel eines Talkmasters erfüllte den Jeep – die große Geißel von Texas. Sie schaltete durch die Sender, bis sie bei der Magic Station landete. Billy Joel schnulzte seinen »Piano Man« aus den Lautsprechern. Sie ließ es an. Billy Joel war nie verkehrt. Rebecca wohnte im Südosten von Lubbock, sodass sie quer durch die Innenstadt fahren mussten, um zum Highway 60 zu gelangen. Cait bog auf den Broadway ein und fuhr an einer Anwaltskanzlei vorbei. »Willkommen in der City! Sie zahlen nur, wenn wir gewinnen!« An jeder zweiten Kreuzung gab es eine Ampel, und jede sprang auf Rot, sobald sie sich näherten, als hätten sie sich gegen die beiden verschworen, damit sie die Stadt nicht verließen. »Na los, komm schon«, murmelte Cait und...