E-Book, Deutsch, 216 Seiten
Bonhage Gnadenlos geirrt
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-347-25878-5
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Geschichte meiner Grossmutter 1907 - 1945
E-Book, Deutsch, 216 Seiten
ISBN: 978-3-347-25878-5
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Barbara Bonhage wurde 1972 in Zürich geboren und lebt heute mit ihrer Familie am Zürichsee. Sie studierte Germanistik und Geschichte in Zürich und Paris. Das Schwerpunktthema der promovierten Historikerin ist die Geschichte des Nationalsozialismus. Ihre wissenschaftlichen Publikationen sowie ein Lehrbuch befassen sich mit der Wirtschaftsgeschichte des "Dritten Reichs" aus Schweizer Perspektive. Mit der Geschichte über ihre Grossmutter hat Bonhage erstmals eine biographische Erzählung vorgelegt. Ausgangslage dafür war ein aussergewöhnlicher Brieffund im Familienarchiv. Er veranlasste sie, 75 Jahre nach dem Ende des Krieges, endlich das Schweigen zu brechen. Als jüngste Enkelin erzählt sie das Leben ihrer Grossmutter, einer überzeugten Nationalsozialistin, anschaulich nach. Barbara Bonhage arbeitet heute als Hochschuldozentin sowie als Beraterin im Auftrag von öffentlichen und Nonprofit Organisationen. Sie ist Professorin an einer Schweizer Fachhochschule und setzt sich ein für die Entwicklung von Führung und Leitung im Hochschulwesen.
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Den Anschluss finden 1921–1932
Noch einmal zählte Hilde nach, ob genügend Stühle da waren. Auch an diesem Nachmittag, es war im Sommer 1921, würden alle wieder in ihrem Garten zusammenkommen. Der Tisch war gedeckt, das Dortmunder Wetter dem hübschen, 14-jährigen Mädchen gewogen. Erstmals, seit sie in Deutschland lebte, fühlte sich Hilde richtig dazugehörig. Dank der Treffen ihrer Jugendgruppe war sie endlich angekommen.
Erst vor Kurzem hatte Hilde das freistehende Haus in der Gartenstadt mit ihren Eltern und der jüngeren Schwester bezogen. Umgeben von einem parkartigen Garten, stand es von der Strasse etwas zurückversetzt. Wenige Stufen führten hinauf zum Eingang. Sein überdachter Vorplatz war von vier weissen Säulen eingefasst. Das Portal verlieh dem Haus etwas Herrschaftliches. Es war stattlich und mit seinen beiden Stockwerken geräumig ausgefallen. Der Estrich könnte später ausgebaut werden. Hilde und ihre Schwester, Elsbeth, genannt Elle, hatten beide nun wieder ein eigenes Zimmer.
Hilde kam aus einer gebildeten und wohlhabenden Familie, die international positioniert und gleichzeitig deutschnational eingestellt war. Ihre Eltern hatten sich kurz vor der Jahrhundertwende in London niedergelassen, wo Hilde 1907 geboren wurde. Dort kam sie früh mit Kunst, Musik und Büchern in Berührung. Gelehrte, Diplomaten und Geschäftsleute gingen bei ihnen im Haus «Glückauf» ein und aus. Hildes Vater, Paul Danneel, führte mit seinem englischen Geschäftspartner, einem Mr. Dubleday, den Ableger des Hamburger Stammsitzes der Familie. Er handelte «mit Tuchen und Seiden». Das Geschäft lief gut und erlaubte dem Londoner Familienzweig ein mondänes Leben.
Ganz so gross und vornehm, wie Hildes Geburtshaus war ihr neues Zuhause im Ruhrgebiet nicht mehr ausgefallen. Auch fehlte der Blick in die weite Landschaft. Dafür war der Garten grosszügiger angelegt. Hildes Vater würde nun hier Blumen und Sträucher, Obst und Gemüse gedeihen lassen. Das hatte er ihr versprochen. Sie erinnerte sich gut daran, wie sie ihm schon als kleines Mädchen im Garten hatte helfen dürfen. Als dann in London überraschend alles zu Ende ging, war sie erst sieben. Mitten im Krieg musste nicht nur der Vater, sondern 1916 – getrennt von ihm – auch Hilde mit ihrer Mutter und Schwester England für immer verlassen.
Nach einer Odyssee und dutzendfachen Umzügen kamen sie 1919 nach Dortmund. Zuerst kamen sie nur provisorisch unter, in einer möblierten Wohnung des «schaurigen» und «dreckigen Bürgerhauses», einer städtischen Einrichtung. Einige Monate wohnten sie dort, bis es Hildes Eltern gelang, ein kleines Haus in der ruhigen Gartenstadt zu erstehen. Nun, zwei Jahre später, waren sie eine Strasse weiter an die Freiligrathstrasse gezogen, wo Hilde ihren Freundinnen ein repräsentatives Haus vorzeigen konnte.
Hilde war ein grossgewachsenes, manchmal vorlautes Mädchen. Ihre dunkelblonden Haare waren zu zwei langen Zöpfen geflochten. Aus der Schule brachte sie gute Noten nach Hause. Oft war sie auf dem Nachhauseweg schon von Weitem zu hören, wenn sie mit ihrer Schwester lachend und voller Energie Pläne für den Nachmittag schmiedete. Seit 1921 gehörte Hilde dem Jungnationalen Bund an, den alle «Junabu» nannten. Die Jugendgruppe war Teil der politisch engagierten Bündischen Jugend, die zur Zeit der Weimarer Republik die Tradition der vormaligen Wandervogel- und Pfadfinderbewegung weiterführte. Möglichst weit weg von zu Hause suchten sie die Freiheit.
Hildes Eltern hatten ihre beiden Töchter zum Beitritt ermutigt. Der neu gegründete Bund hatte sich vom rechtskonservativen und monarchistisch geprägten «Deutschnationalen Bund» abgespalten. Er schloss Juden von einer Mitgliedschaft aus. Der Junabu wollte die Erneuerung. Er lehnte die Prinzipien der parlamentarischen Demokratien, wie sie etwa in England, Frankreich und den USA im Entstehen begriffen waren, strikt ab. Hilde war «Junabuerin» von ganzem Herzen.
Mit den Mädchen ihrer Gruppe verbrachten Hilde und ihre Schwester etliche lange Nachmittage. Manchmal versuchten sie Bruchstücke dessen zu wiederholen, was sie aus den Gesprächen ihrer Eltern über die politische Lage herausgehört hatten. Gemeinsam lasen sie die Artikel der Verbandszeitschrift Jungnationale Stimmen. Nickend stimmten sie zu, wenn die Demokratie der Weimarer Republik destruktiv und volksfeindlich genannt wurde. Sie verhandelten das Weltgeschehen wie Erwachsene und glaubten fest daran, dass die Führer des Jugendbundes zusammen mit Politikern einen neuen Weg für Deutschland finden würden. Hilde und ihre Freundinnen hatten gelernt, die Bedingungen des Versailler Vertrags als unerträglich zu empfinden. Die Siegermächte hatten Deutschland gedemütigt.
Nach ernsthaften Gesprächen bei Kaffee und Kuchen schlugen sie Rad auf der Wiese oder spielten Fangen. Sie tuschelten miteinander, kicherten oder sangen deutsche Lieder. Einige Jahre später gingen sie zusammen mit den Junabu-Jungs aus der Nachbarschaft «auf Fahrt». Sie zogen wandernd über die Hügel der Umgebung und streiften durch weiter entfernte Wälder. Hilde in ihrem über die Knie reichenden Rock, den ihre Mutter unzählige Male waschen musste. Er passte perfekt zum blaugrauen Fahrtenhemd mit der blauen und silbernen Kordel. Nicht nur die Jungs, auch die Mädchen trugen die Uniform. Ausgangspunkt für ihre Streifzüge war oft ihr «offenes Haus» in der Dortmunder Gartenstadt.
Im Juni 1925, Hilde war 18 Jahre alt, durfte sie zusammen mit Elle und drei Junabu-Jungs für vier Wochen verreisen. Sie zogen gen Süden in den Schwarzwald, bereisten Schaffhausen, sahen zum ersten Mal den tosenden Rheinfall und verweilten einige Tage am Bodensee. Als Junabuer und Junabuerinnen waren sie gut vernetzt. Oft kamen sie bei Bundesbrüdern und -schwestern unter, sie schliefen in Jugendherbergen, auf Heuhaufen, in Waldhütten wie auch völlig abenteuerlich unter freiem Himmel. Sie reisten streckenweise ohne Ziel und in zuweilen strömendem Regen. Als sie eines Abends in einem Stall untergekommen waren, rätselten die fünf, ob nun erst Freitag oder schon Samstag sei. Als der Bauer am nächsten Morgen den Stall in «feinem Sonntagszeug» betrat, nickten sie sich zu und erlaubten sich, ebenfalls die frischen Kleider anzuziehen. Die Jungs legten ein neues Hemd und «den ‹guten› Schillerkragen» an, während Hilde und Elle «voller Wonne» in reine Wäsche stiegen. Der Tradition der Wandervogel-Bewegung folgend, zogen sie ihre weissen, «sauberen Inselkleider» an. Ein festliches Gefühl, das Hilde mit der «Sauberkeit des Sonntags» ihrer Kindheit verband.
Einer der mitreisenden jungen Männer war Heinz Rustmeier. Hilde war über Jahre in ihn verliebt und entsprechend am Boden zerstört, als er ihr ein Jahr später schrieb, sie solle bitte davon absehen, ihm weitere Briefe zukommen zu lassen. Sein Vater wünsche keine Damenbekanntschaft, begründete er kühl. Hilde war verletzt. Heinz’ Abfuhr war schroff und sein Ton so ganz anders als sonst. «Ein so feiner Mensch!», seufzte Hilde in der Umarmung ihrer kleinen Schwester, die sie tröstete. Im gleichen Brief hatte Heinz Hilde wissen lassen, dass er seine Gruppe auflösen würde. Es wurde auch das Ende von Hildes eigener glücklichen Junabu-Zeit. Der enge Kontakt zu Heinz blieb aber bestehen.
1926 bestand Hilde im Dortmunder Goethe-Gymnasium ihr Abitur. Ihre Klassenkameradinnen nannten sie in der Zeit «Elefantenküken», da sie nicht nur gross gewachsen, sondern auch kräftig gebaut war. Ausserdem war sie oft zu schnell unterwegs oder bewegte sich ungeschickt. Dann stolperte sie über eine Stufe oder Kante und stürzte. Zu Hause fiel sie wiederholt die Treppe hinunter. Einmal zerbrach dabei ihre Füllfeder, mit der sie so gerne ihre viele Seiten langen Briefe schrieb.
Im Sommer vor ihrem Abitur trat Hilde erstmals eine grosse, internationale Reise an. Am 29. Juli 1925 machte sie sich auf den Weg nach London, in ihre Geburtsstadt. In der Früh nahm sie in Dortmund den Zug bis Duisburg, wo sie in den «noblen Luxuszug, ‹fürnehm› II. Klasse, grün gepolstert» umstieg, um an die Küste zu gelangen. Um 11 Uhr schiffte sie sich in Hoek van Holland zur Überfahrt über den Kanal ein.
Hilde blieb lange an der Reling stehen und verbrachte auch «die halbe Nacht» auf Deck. Es war Vollmond bei stürmischer See. Salz lag in der Luft. Vor neun Jahren hatte sie diese Reise in umgekehrter Richtung getan. Unfreiwillig damals, verzweifelt. Dieses Mal strotzte sie vor Selbstbewusstsein. In einem Brief an ihre Schwester liess sie die Stunden ihrer Reise Revue passieren. «Stolz wie Oskar» sei sie schon an der holländischen Grenze gewesen. Ihren Koffer musste sie zwar öffnen, ihr Pass wurde aber nur durchgeblättert und sie durchgewinkt. Am Hafen angekommen, nannte sie am Schalter ihren Namen und bekam sogleich eine bereits...




