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E-Book

E-Book, Deutsch, 89 Seiten

David Pop macht Angst

Über Popkultur

E-Book, Deutsch, 89 Seiten

ISBN: 978-3-446-25352-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



"German Angst" – Christian David diagnostiziert eine historisch begründete Furcht vor dem Populären und er ruft den Deutschen, aber auch dem Rest von Europa zu: No fear! Es geht ihm nicht darum, die Grenzen zwischen der sogenannten Hochkultur und der Popkultur in Bausch und Bogen einzureißen, sondern vielmehr um ein Ernstnehmen. Die Beschäftigung, auch die wissenschaftliche, mit der populären Kultur ist in allen Disziplinen wichtig, gesellschaftlich und künstlerisch. Angst verhindert neue Impulse und große Erlebnisse. Ein Plädoyer für Filmmusik, Operette und Sitcom.
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Populäre Kultur und die Angst vor dem Nahen
Anderswo ist alles besser, aber daheim bei Mutti ist es letztlich am besten. Hier wird serviert, was einem schmeckt. Die dramatisch übersteigerte Sehnsucht nach dem Anderswo – erneut sei auf Caspar David Friedrich und dessen Ausblicke auf ferne Horizonte verwiesen – durchdringt, prägt und lähmt mitunter die deutsche Kultur. Sie trägt dazu bei, dass deutsche Kunst im eigenen Land oftmals Vernachlässigung oder Geringschätzung erfährt. Bis sie international rezipiert und gepriesen wird, um erst dann an ihrem Ursprungsort wirklich geschätzt und akzeptiert zu werden. Gerade in der populären Kultur kennt man diesen steinernen Weg. Erinnert sei an den aus Wien stammenden Schauspieler Christoph Waltz. Fast drei Dekaden lang mühte er sich durch eine Vielzahl deutschsprachiger TV-Produktionen, bewies darin sein Talent und seine Unverwechselbarkeit. Zu beliebten Stars, die in Talkshows geladen oder mit Interviewanfragen überhäuft wurden, mutierten indes andere, mitunter weniger Begabte. Es bedurfte eines Quentin Tarantino, dies durch die Besetzung Waltz’ in Inglourious Basterds komplett zu ändern. Ein Charakterdarsteller der zweiten Reihe avancierte binnen weniger Monate zum preisgekrönten Weltstar. Zuvor war sein Platz zwischen allen Stühlen gewesen. Die Sehnsucht nach dem Fernen befriedigte er nicht, weil er zum Nahen zählte. Zugleich eignete ihm eine Weltläufigkeit, die jedoch nur im Fernen gesucht und diesem zugestanden wurde, nicht aber dem Nahen. In der Sehnsucht liegt Sucht verborgen. Diese Sucht nach dem Fernen, dem Fremden, dem Andersartigen ist dafür verantwortlich, dass die deutsche Populärkultur einen intensiven Drang nach Selbstverleugnung aufweist. Der allerdings wiederum von geradezu provinziellem Selbstverhaftetsein konterkariert wird. Man träumt von fernen Landen, möchte jedoch die heimische Fußgängerzone überallhin mitnehmen. Allzu fremd und ungewohnt darf es dann doch nicht sein. Es geht letztlich mehr um den Anschein als um die Realität. Denken wir an die Romane von Donna Leon oder Rosamunde Pilcher, die seit Jahrzehnten fleißig in deutsche Fernsehfilme verwandelt werden. Letzteres geschieht unter Anwendung genuin deutscher Konventionen. Deutsche Schauspieler in karierten Sakkos gaukeln scheinbar prototypische Briten vor, andere mimen mit Gel im Haar und Sonnenbrille scheinbar originalgetreue Italiener. Gedreht wird an Originalschauplätzen Britanniens oder Venedigs, aber das Ambiente verkommt durch die deutschen Lippenbewegungen zur bloßen Fassade. Nichts anderes taten prinzipiell bereits die deutschen Edgar-Wallace-Verfilmungen der 1960er, nur mit ungleich mehr Ironie. Irgendwann waren sogar ausländische Vorbilder nicht mehr nötig. Verfilmungen der angeblichen Werke einer nicht existenten schwedischen Autorin namens Inga Lindström wurden realisiert. Sichtbar wird dabei regelmäßig das unstillbare Verlangen nach dem nur scheinbar Fremden, das zugleich von der Anwesenheit des Vertrauten gezähmt wird. Das Ferne verkommt zur kostümierten Travestie des Nahen und Bekannten. Die im Hintergrund existierende Angst vor dem Fremden – die andere Medaillenseite der Sucht nach dem Fernen – wird überlistet. Die Gier nach bzw. die Lust an Angst und Beruhigung zugleich erfährt eine doppelgleisige Befriedigung. Dem Unbekannten, Ungewohnten, Gefährlichen, Drohenden muss man sich nun nicht mehr stellen. Regelmäßig wiederkehrende Ersatzbefriedigung ist angesagt. Die Angst hat gesiegt. Solche Fernsehproduktionen sind die filmische Entsprechung zum internationalen Massentourismus. Man fährt touristisch durch das Ausland, bleibt jedoch brav in der Gruppe, speist in Lokalen, die hauptsächlich von Touristen frequentiert werden, ignoriert die Einheimischen und deren bevorzugte Orte, sitzt abends in der Hotelbar und lauscht den Erläuterungen des Touristenführers, die natürlich in der eigenen Muttersprache erfolgen. Das hat viel mit Unsicherheit zu tun, mit der Gleichzeitigkeit zweier Wünsche: Man möchte in die Ferne, um den heimatlichen Gefilden zu entfliehen; man möchte das Vertraute, weil man sich vor dem Ungewohnt-Ungeregelten ängstigt. Daraus ergeben sich permanente Konflikte, die, weil sie konträr verlaufen, niemals ganz aufgelöst werden können. In der populären Kunstästhetik erkennt man die Konsequenzen, die ebenfalls widersprüchlich sind. Es sind die beschriebenen TV-Produktionen, die jedes drohende Zuviel an fremder Authentizität beschneiden. Die Donna-Leon-Stoffe erträgt man im Gewand herkömmlicher deutscher TV-Krimis, die im Stil von Pizza-Werbung italianisiert wurden. Das wird akzeptiert, aber original italienische Fernsehkrimis mit echten Italienern und wirklich italienischen Themen – etwa die RAI-Verfilmungen der Commissario-Montalbano-Romane von Andrea Camilleri – schaffen es in keine Primetime der großen Sender. Das Fremde muss eben in vertrauter Form präsentiert werden. So wie fremdsprachige Filme, die gnadenlos synchronisiert werden. Was Briten, Skandinavier oder Amerikaner schaffen – nämlich Untertitel zu lesen –, gilt in Deutschland als exotisches Bedürfnis snobistischer Minderheiten. Dass die Synchronisation den originalen Klang verändert und verfälscht, spielt dabei keine Rolle. Denn die Synchronisation verleiht die Gewissheit, sich doch auf vertrautem Terrain zu befinden. Es ist die Muttersprache, die lockt, verführt und Ängste vor einem Übermaß an Fremdem besänftigt. Die Mutter beschwört das neugierige und zugleich ängstliche Kind: Bleib doch hier bei mir, schau dich in der Welt um, aber komm doch wieder nach Hause, wo ich auf dich warte. Filmsynchronisation ist nichts anderes als sublimierte, deshalb in Deutschland gesellschaftlich tolerierte Xenophobie. Sowohl die Synchronisation wie die TV-Tourismusfilme gewährleisten, dass man sich in der Mitte trifft. Im bizarren Mix aus Fernem und Nahem richtet man es sich gemütlich ein. Es ist die kunstästhetische Entsprechung zum Toast Hawaii. Dem puren Fernen wird ebenso misstrauisch begegnet wie dem puren Nahen. Letzteres hat es dennoch schwerer. Die Romantisierung, die beim Fremden möglich ist, fällt da ebenso weg wie der Reiz des Exotischen. Das Nahe wird mitunter als viel zu nahe, also auch zu wesensverwandt empfunden wird. Es kann auch als Spiegelbild fungieren und unliebsame Entdeckungen über sich selbst ermöglichen. Das verhindert man, indem man dem Nahen ausweicht. Als Rationalisierung dient die Technik der Abwertung. Indem etwa der anfangs erwähnte deutsche Spielfilm der 1950er als schlecht oder spießig oder uninteressant abqualifiziert wird, kann man der Auseinandersetzung ausweichen. Oder man ignoriert gewisse Gebiete künstlerischen Schaffens, ohne dies weiter erklären zu wollen. Man vertraut schlicht auf den unausgesprochenen Konsens in einer gewissen Community. Wird dieses Abschottungsmanagement von außen durchbrochen, bleibt nichts anderes übrig, als den Durchbrecher mit Blicken zu tadeln. Psychologische wie physische Gründe sorgen dafür, dass man im deutschsprachigen Raum dem Nahen vielfach so misstrauisch gegenübertritt. Die Vergangenheit mit Nationalsozialismus, Krieg, Holocaust bzw. Shoa erzeugte Traumatisierungen, die auch –wissenschaftlich nachgewiesen – nachfolgende Generationen betreffen. Der Blick auf das Selbst wird vielfach als problematisch empfunden, weil dieses Selbst bewusst oder unbewusst mit Schuld und Scham assoziiert wird. Der unproblematisierte Blick auf das eigene Selbst fällt deshalb schwer, er steht im Verdacht, Negatives auszublenden. Allerdings ist der von vornherein problematische Blick auf das Selbst eben auch ein getrübter, und die Geringschätzung bzw. Ignoranz gegenüber dem Nahen und Vertrauten ist genau das, was vermieden werden soll: Verdrängung. Den deutschen Film der 1950er mangelhaft oder gar nicht zu rezipieren ist ebenso Verdrängungsarbeit wie die Nichtrezeption von Nazi-Propagandafilmen. Will man etwas über die bundesdeutsche Gesellschaft der Adenauer-Ära erfahren, gehört dazu auch die Beschäftigung mit dem (pop)kulturellen Geschehen jener Zeit. Vor diesem Hintergrund versteht man, dass man lieber einmal mehr den Neuen Deutschen Film der Generation des Oberhausener Manifests in den frühen 1960ern beleuchtet. Weil hier ganz neu und mit völlig verändertem Personal begonnen wurde. Weil ein Schlussstrich unter das gezogen wurde, was plötzlich als Opas Kino benannt wurde. Weil die politische Stunde Null von 1945 nun auch im Film eine Entsprechung erfuhr. Aber Schlussstriche politischer wie künstlerischer Art sind bequem. Eine Stunde Null kann es nicht geben, weil die Vergangenheit nachweht. Der Vergangenheit muss man sich in ihrer Gesamtheit stellen, nicht bloß fragmentarisch. Gerade die Beschäftigung mit der deutschen populären Kultur nach 1945 müsste längst schon ein wesentliches Ziel sein. Das verlangt die historische Verantwortung. Die nationalsozialistische Herrschaft zwischen 1933 und 1945 sorgte gezielt für die nachhaltige Marginalisierung und teilweise Vernichtung von populärer Kultur in Deutschland sowie ab 1938 auch in anderen Teilen Europas. Nicht nur abstrakte Werte wurden dadurch gestört und zerstört. Sondern ganz konkret wurden Vertreter der populären Kultur diskriminiert, verfolgt und umgebracht. Mit erheblichen Nachwirkungen wurde dabei eine angeblich hochwertige, reine, ernste und heilige Kunst herbeifantasiert, die selbstverständlich jene im nationalsozialistischen Sinn war. Jene Teile der populären Kultur, die man nicht verlieren wollte, wurden deshalb adaptiert und teilweise zur Unkenntlichkeit pervertiert – etwa die Operette. Andere Teile wurden als Schmutz und Schund diffamiert, als jüdisch, kosmopolitisch,...


David, Christian
Christian David, geboren in Wien, promovierte nach dem Studium in Mailand und Wien über Klaus Kinski (2006 erschien Kinski. Die Biographie). Er arbeitete für Film, Fernsehen und Theater sowie als Journalist. Mädchenauge ist sein erster Roman. Sonnenbraut (2015) ist der zweite Teil seiner Krimiserie rund um Major Belonoz und Lily Horn.

Christian David, geboren in Wien, promovierte nach dem Studium in Mailand und Wien über Klaus Kinski (2006 erschien Kinski. Die Biographie). Er arbeitete für Film, Fernsehen und Theater sowie als Journalist. Mädchenauge sein erster Roman, erschien 2013 bei Deuticke. Sonnenbraut (2015) heißt der zweite Teil seiner Krimiserie rund um Major Belonoz und Lily Horn.


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