Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-552-06288-7
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Autoren/Hrsg.
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Mittwoch, 1. Dezember
1 Den Tag, an dem sie sterben würde, kannte Margarete Scharf nicht. Was aus den Gedanken verdrängt werden konnte, belastete nicht. So dachte und lebte sie. Es gab dermaßen viel zu tun. Davon durfte man sich nicht eine Sekunde lang ablenken lassen. Der Tod war in ihrem Arbeitspensum nicht vorgesehen. Die Hunde machten Arbeit. Den jüngsten hatte sie vor zwei Jahren erworben, als die Tochter aus Neuseeland angereist war, um den achtundsechzigsten Geburtstag der Mutter zu feiern. Barbara kam selten, bestenfalls alle fünf oder sechs Jahre. Gewiss, die Reise war aufwendig und teuer. Dennoch vermutete Margarete Scharf, dass andere Gründe im Spiel waren. Etwa die fehlende Lust, der Mutter zu begegnen und sich von ihr etwas sagen zu lassen. Margarete Scharf verstand das. Ihre eigene Mutter war ihr wie ein Monster erschienen. Autoritär, besitzergreifend, egoistisch. Doch sie akzeptierte es nicht. Sie hatte der Tochter immer jegliche Freiheiten zugestanden. Kurz vor drei Uhr nachts ließ sie das Haustor hinter sich ins Schloss fallen. Die Hunde benötigten Auslauf, und sie mochte diese Uhrzeit. Niemand vermochte sie zu dieser Stunde zu stören, keine hämmernden oder bohrenden Nachbarn, keine brüllenden Kinder. Vollkommene Ruhe umgab die Straßen des achtzehnten Bezirks. Margarete Scharf schlenderte in einer grellgrünen, wattierten Jacke und ausgetretenen Moonboots die Littrowgasse hinab zum Türkenschanzpark. Zu Besorgnis gab es keinen Anlass. Die Gegend war geprägt von langweiliger Sicherheit. Tief in der Nacht konnte man sich problemlos im Park aufhalten. Über ihre weißblonden Locken hatte sie eine grellgrüne Mütze gestülpt, den Hals schützte ein dicker gelber Schal. Farben hatte sie stets geliebt, am besten wild durcheinander, ohne Rücksicht auf Kontraste. Früher hatte sie sich bemüht, durch angepasste Kleidung die Akzeptanz durch andere Menschen zu erringen. Damit war es längst vorbei. Die betagten, nachtschwarzen Häuser starrten still vor sich hin. So liebte es Margarete Scharf. Endlich hatte sie Ruhe, nach einem Leben, das ihr stets von anderen bestimmt schien. Munter tollten die Hunde bereits am Rande der Umzäunung herum. Margarete Scharf war glücklich. Und ging weiter in den Park hinein. Eine knappe Viertelstunde später und etwa zwanzig Meter von ihr entfernt nahm sie Menschen wahr. Viele waren es nicht. Vielleicht fünf oder sechs. Keinesfalls mehr. Ohne sich zu bewegen, standen sie zwischen den Bäumen herum. Und dazu dieses Licht. In unregelmäßigen Abständen flammte es auf und erlosch wieder. Margarete Scharf bemerkte all das mit wachsender Unzufriedenheit. In völliger Unberührtheit hatte sie den Park genießen wollen. Die Hunde gebärdeten sich zurückhaltend und furchtsam. Anstatt ungehemmt den Park zu durchforsten, blieben sie brav in der Nähe ihrer Herrin und versagten sich jedes Geräusch. Sie musste mehr über dieses Geschehen herausfinden. Deshalb schritt Margarete Scharf energisch voran. Darauf gefasst, Überraschungen nicht wehrlos gegenüberzutreten. Sie tastete in der Manteltasche nach dem Pfefferspray und war bereit für alles, was kommen sollte. Im entscheidenden Moment, dessen war sie sich sicher, würde sie schreien und mit den Füßen treten. Im nächsten Moment hielt sie, hinter einem Baumstamm verborgen, inne. Ihr fiel auf, dass die Menschen teilweise entblößt waren. Und dass Blut an ihnen war. Wie dunkelroter Traubensaft floss es vom Kopf abwärts über ihre Körper. Auf der vom Winter ausgetrockneten Wiese lagen weitere Menschen herum, vollkommen nackt, mit blutroten Stellen zwischen den Beinen. Als wären ihnen schwere Verletzungen zugefügt worden. Margarete Scharf entschied, dass sie genug gesehen hatte. Sie ahnte, Zeugin von etwas geworden zu sein, das niemals für ihre Augen bestimmt gewesen war. Mehr wollte sie nicht sehen, lieber alles sofort vergessen. Sie packte die Hundeleinen, zerrte die verschreckten Tiere vorsichtig zurück und trat eiligen Schritts den Heimweg an. In einem ungewohnt hohen Tempo strebte sie nach Hause. Nicht einmal um zu überprüfen, ob ihr jemand folgte, wandte sie sich um. Vermutlich waren sie und ihre Hunde unbemerkt geblieben. In jedem Fall war es besser, so zu tun, als wäre ihr gar nichts aufgefallen. Erst als sie hektisch das Haustor aufsperrte, riskierte sie einen Blick über die rechte Schulter. Doch da war niemand. Sie stemmte sich gegen die schwere Holztür, drückte sie auf und zerrte ihre Hunde mit hinein. Mit dem gesamten Gewicht ihres kleinen, rundlichen Körpers lehnte sie sich sofort von innen wieder gegen das Haustor. Hinterher tadelte sie sich selbst für ihre hysterische Nervosität. Womöglich hatte sie etwas ganz Harmloses falsch eingeschätzt. Vielleicht hatte ihr die einsetzende Müdigkeit einen Streich gespielt. Da dösten die Hunde schon wieder in ihrer gewohnten Ecke, und Margarete Scharf saß mit einer dampfenden Tasse Tee im Halbdunkel des Wohnzimmers. Möglicherweise hatte sie sich getäuscht. Der Gedanke verschwand nicht. Diese teilweise nackten Leute, die blutenden Wunden. Viel zu phantastisch war das gewesen. Wie aus einem Albtraum. Sie musste das überprüfen. Sonst würde sie keine Ruhe finden. Erneut zog sie sich an, aber sie wählte einen anderen Mantel, den ganz schweren aus dickem, grünem Loden. Auf den Kopf setzte sie sich ihre alte russische Pelzmütze, die so voluminös war, dass ihr Kopf um mindestens ein Drittel an Umfang zunahm. Ihre weißen Haare verschwanden komplett in der Mütze. So getarnt, trat Margarete Scharf hinaus in die kalte Feuchtigkeit des anbrechenden Morgens. Es war kurz vor fünf Uhr, der Autoverkehr hatte an Intensität gewonnen, nass glänzte der Asphalt. Der Frühnebel sorgte für einen bläulich-weißen Lichtkranz rund um die Straßenlampen. Weil Margarete Scharf diesmal aufmerksamer war, nicht in sich selbst versunken oder von den Hunden abgelenkt, würde ihr Blick schärfer sein. Das hoffte sie jedenfalls. Doch der Park lag wie ausgestorben da. Niemand stand herum, keiner lag irgendwo. Margarete Scharf wurde mutig. Ihr war, als würde sie zu einem Gefühl zurückfinden, das ihr viele Jahre zuvor abhandengekommen war. Auch die Lust, dem Verlangen nachzugeben und spontaner Neugier zu folgen, war wiedergekehrt. Deshalb blieb sie nicht stehen, wo sie vor ein paar Stunden das Weitergehen gescheut hatte. Sie durchquerte den Park. Bereit, sich jeglicher Konfrontation zu stellen. Beinahe sehnte sie herbei, doch noch auf irgendjemanden oder irgendetwas zu stoßen. Ihre Aufgeregtheit verlangte nach einer Erlösung. Doch alles war wieder wie gewohnt. Die Hunde hätte ich mitnehmen können, sagte sich Margarete Scharf, um den verpassten Spaziergang nachzuholen. Dabei gab sie sich Mühe, nichts zu übersehen. Sie hoffte, zumindest irgendwelche Spuren zu entdecken, die vom nächtlichen Geschehen zurückgeblieben sein mussten. Die Neugier, dieses altvertraute, nach langer Abwesenheit wieder frische Gefühl, blieb unbelohnt. Unbefriedigt und von Enttäuschung geplagt musste sie den Rückweg antreten. Der Park hatte seinen gefährlich drohenden Albtraumzauber eingebüßt. Später, nachdem sich Margarete Scharf zu Bett begeben hatte, in dem sie sich nun herumwälzte, später gelangte sie zu der bitteren Erkenntnis, dass ihr Gehirn an dieser Sache beteiligt gewesen sein musste. So weit ist es also, folgerte sie erschrocken, ich bin alt und phantasiere. Sie entschied, niemandem davon zu erzählen, alles rasch zu verdrängen und vor allem keinen Arzt aufzusuchen. Sollte es tatsächlich bereits so schlimm um sie stehen, sollten demnächst Demenz, Alzheimer oder andere geistige Krankheiten ihr Leben überschatten, galt es umso mehr, den verbleibenden, halbwegs gesunden Rest dieser späten Lebensjahre zu genießen. Niemand sollte ihr das verderben. Tapfer wollte sie weitermachen. Behutsam färbte sich der Himmel grau, das Tageslicht eroberte in Zeitlupe die Stadt. Margarete Scharf kniff die Augen zu. Die Traumbilder waren zurückgekehrt, sie phantasierte erneut und, wie sie inständig hoffte, zum letzten Mal von den starren, blutigen Gestalten aus dem Park. Den Tag, an dem sie sterben würde, kannte Margarete Scharf nicht. Doch ungleich stärker als jemals zuvor wuchs in ihr die Angst vor eben jenem Zeitpunkt, zu dem sie es nicht mehr schaffen würde, mit den Hunden gemeinsam das rettende Zuhause zu erreichen und das schwere Haustor ins Schloss fallen zu hören. Nein, das nächste Mal würde es kein Entkommen geben. Man würde sie auf der Flucht einholen. Sie würde in den Park geschleppt werden. Die blutüberströmten Menschen würden sie umzingeln. Und sie willkommen heißen. * Sie kamen frühmorgens. Der rote Kastenwagen war in angemessenem Tempo die Landstraße entlanggefahren. Später war er auf eine enge, schlecht asphaltierte Fahrbahn eingebogen. Bedächtig, fast schon vorsichtig, bewegte er sich weiter. Man musste diesen Weg kennen, wenn man ihn benutzen wollte. Kein Zufall führte irgendjemanden hierher. Wer wusste, wohin er wollte, war hier richtig. Alle anderen gaben rasch auf, gelangweilt von der eintönigen Landschaft, und kehrten um. So blieb, wer hier lebte, verschont von allen, die ihre Mitwelt als bloße Durchzugsroute missverstanden. Das war der Vorteil. Die Einsamkeit, also den Nachteil, nahm man dafür in Kauf. Seit dem Verlassen der Autobahn hatte der VW-Transporter eine Welt stiller Bewegungslosigkeit durchquert. Graues Licht überzog die Landschaft, der Boden schien so müde wie der Himmel. Verdorrte Pflanzen deuteten an, dass es einmal einen Sommer gegeben hatte. Unauffällig duckte sich das zweistöckige Haus in die Umgebung. Von keinerlei architektonischem Ehrgeiz beseelt stand es da, ein phantasieloser Block aus Beton...