Doidge | Wie das Gehirn heilt | Buch | 978-3-593-39477-0 | sack.de

Buch, Deutsch, 477 Seiten, Format (B × H): 149 mm x 221 mm, Gewicht: 756 g

Doidge

Wie das Gehirn heilt

Neueste Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft

Buch, Deutsch, 477 Seiten, Format (B × H): 149 mm x 221 mm, Gewicht: 756 g

ISBN: 978-3-593-39477-0
Verlag: Campus Verlag GmbH


Selbstheilung ist keine Zauberei

"Unheilbare" Krankheiten vollständig heilen? Das ist möglich.

Lange stellten Mediziner bei chronischen Schmerzen, Parkinson oder Demenz die Diagnose "lebenslang". Norman Doidge durchbricht mit seinem Buch "Wie das Gehirn heilt" diese massive Wand aus Leid und Schmerz.

Die revolutionäre Erkenntnis von Norman Doidge: Unser Gehirn heilt! Wie das funktioniert und welche Rolle bei der Neuroplastizität etwa traditionelle chinesische Medizin oder buddhistische Meditation spielt, zeigt er an erstaunlichen Beispielen.

Ein Mann besiegt Parkinson durch Laufen, ein Blinder kann dank Meditation wieder sehen. Was nach Wunderheilung klingt, belegt Doidge mit wissenschaftlichen Studien. Und es verändert Leben.

- Dieses Buch weist Millionen Patienten einen Weg aus dem Leid - ohne Operation, ohne Hokuspokus.

- Es ist eine große Hoffnung für chronisch Kranke und deren Angehörige.

- Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse, populär und authentisch geschrieben.

- Doidges bahnbrechende Erkenntnis über Neuroplastizität ist: Durch äußere Impulse wie Licht, Wärme und Elektrizität aber eben auch simple Bewegungen, können wir unser Gehirn dazu bringen, sich selbst zu heilen.

- Mit seinem Buch "Neustart im Kopf" hat Doidge bereits einen spannenden Bestseller zum Thema Neuroplastizität vorgelegt.

- "Wie das Gehirn heilt" hat es bereits auf die New York Times Bestsellerliste geschafft.

- "Faszinierend … erinnert an Oliver Sacks." The Guardian
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Weitere Infos & Material


INHALT

Vorwort 13

1 Heile dich selbst, wenn der Arzt den Schmerz nicht vertreiben kann 23

Michael Moskowitz entdeckt, wie man chronische Schmerzen verlernen kann

2 Ein Mann rennt seinen Parkinsonsymptomen davon 61

Wie Training helfen kann, degenerative Krankheiten zu zähmen und die Demenz zu verzögern

3 Die Phasen des neuroplastischen Heilens 137

Wie und warum es funktioniert

4 Neuverdrahtung des Gehirns mit Licht 151

Wie Licht neurale Schaltkreise aufwecken kann

5 Moshé Feldenkrais: Physiker, Träger des

Schwarzen Gürtels, Heiler 203

Die Heilung schwerer Hirnschäden durch bewusstes Bewegen

6 Ein Blinder lernt sehen 247

Feldenkrais, Buddhismus und andere neuroplastische Methoden

7 Ein Gerät, das das Gehirn neu startet 281

Neuromodulation und Symptomumkehr

8 Eine Brücke aus Klang 341

Die ganz besondere Verbindung von Musik und Gehirn

Anhang 1 423

Ein allgemeiner Ansatz für Schädelhirntraumata und

Hirnstörungen

Anhang 2 427

Matrix Repatterning bei Schädelhirntraumata

Anhang 3 431

Neurofeedback bei ADS, ADHS, Epilepsie, Angstzuständen und Schädelhirntraumata

Danksagungen 433

Anmerkungen 439


VORWORT

In diesem Buch geht es um die Entdeckung, dass das menschliche Gehirn seine eigenen Wege zur Heilung einschlägt. Hat man das einmal verstanden, können viele Hirnstörungen, die man für unheilbar und irreversibel hielt, gemildert werden, oft radikal. In einigen Fällen können sie sogar geheilt werden. Ich möchte zeigen, wie sich ein solcher Heilungsprozess auf ganz bestimmte Fähigkeiten unseres Gehirns stützt - hochspezialisierte Fähigkeiten, die so kompliziert sind, dass man früher annahm, das Gehirn könne sich im Gegensatz zu anderen Organen nicht selbst reparieren, und einmal verlorene Funktionen seien nicht wiederherzustellen. Das Gegenteil ist wahr. Gerade die Kompliziertheit des Gehirns eröffnet einen Weg zur Selbstheilung und zur Verbesserung seiner Funktionsweise. Dieses Buch wird es Ihnen beweisen.

Es beginnt dort, wo mein erstes Buch Neustart im Kopf endet.1 Darin wurde der wichtigste Durchbruch zum Verständnis der Funktionsweise des Gehirns und dessen Verbindung zum Geist seit dem Beginn der modernen Naturwissenschaft beschrieben: die Entdeckung, dass das Gehirn neuroplastisch ist. Dank der Neuroplastizität ist unser Gehirn in der Lage, die Art und Weise, wie es Aktivitäten und mentale Erfahrungen aufnimmt und verarbeitet, selbsttätig zu verändern. Das Buch beschreibt auch viele der ersten Forscher, Ärzte und Patienten, die von dieser Entdeckung, die so erstaunliche Transformationen im Gehirn vollbringen kann, profitieren. Bis dahin konnte man sich diese Transformationen fast nicht vorstellen, denn über 400 Jahre lang herrschte die Ansicht vor, dass sich das Gehirn nicht verändern kann. Die Wissenschaftler hielten das Gehirn für eine großartige Maschine, die aus Teilen bestand, die jeweils ganz bestimmte mentale Funktionen ausführten und ihren ganz bestimmten Platz im Gehirn hatten. Wurde einer dieser Teile durch einen Schlaganfall, eine Verletzung oder eine Krankheit beschädigt, konnte man den Schaden nicht reparieren, weil Maschinen ja weder sich selbst reparieren noch neue Teile hervorbringen können. Die Wissenschaftler glaubten auch, dass die Schaltkreise im Gehirn fest verdrahtet sind und daher nicht verändert werden können. Das bedeutete, dass Menschen, die geistig behindert waren oder an Lernstörungen litten, auf keinen Fall geheilt werden konnten. Als die Maschinenmetaphorik aufkam, verglichen die Forscher das Gehirn mit einem Computer und seine Struktur mit der "Hardware". Sie glaubten, die einzige Änderung, die alternde Hardware erleiden könne, sei ihre Degeneration aufgrund der Benutzung. Eine Maschine nutzt sich ab: "Use it - and lose it" heißt die Parole, benutze sie und sie nutzt sich ab. Deshalb wurden die Versuche älterer Menschen, ihr Gehirn durch mentale Aktivitäten und Übungen fit zu halten, als Zeitverschwendung angesehen.

Die Neuroplastiker (wie ich die Forscher genannt habe, die zeigen konnten, dass das Gehirn plastisch ist) widersetzten sich dieser herrschenden Lehrmeinung. Nachdem sie zum ersten Mal das Instrumentarium in der Hand hatten, um die mikroskopischen Aktivitäten eines lebenden Gehirns zu beobachten, zeigten sie, dass es sich tatsächlich bei seiner Arbeit verändert. Im Jahr 2000 wurde der Nobelpreis für Physiologie/Medizin für den Nachweis verliehen, dass die Verbindungen zwischen den Nerven beim Lernen zunehmen. Der Wissenschaftler Eric Kandel, der hinter dieser Entdeckung steht, zeigte auch, dass das Lernen Gene "anschalten" kann, die die neurale Struktur verändern. Es folgten Hunderte von Untersuchungen, die zeigten, dass mentale Aktivitäten nicht nur ein Produkt des Gehirns sind, sondern es auch formen. Die Neuroplastizität hat dem Geist seinen rechtmäßigen Platz in der modernen Medizin und im Leben der Menschen zurückgegeben.

Die intellektuelle Revolution, die ich in Neustart im Kopf beschrieben habe, war nur der Anfang. In meinem neuen Buch berichte ich von den erstaunlichen Fortschritten einer zweiten Generation von Neuroplastikern, die, nachdem sie nun nicht mehr unter dem Zwang stehen, die Existenz der Plastizität zu beweisen, alle Freiheit für den Versuch haben, die außergewöhnliche Kraft der Plastizität zu verstehen und sich ihrer Anwendung zu widmen. Ich bin durch fünf Kontinente gereist, um Forscher, Ärzte und Patienten zu treffen und ihre Geschichten zu hören. Einige dieser Forscher arbeiten in den modernsten Labors der westlichen Welt, andere sind Ärzte, die die Forschungsergebnisse anwenden, und wieder andere sind Ärzte und Patienten, die schon auf Neuroplastizität gestoßen waren und effiziente Behandlungstechniken vervollkommnet hatten, bevor die Neuroplastizität im Labor demonstriert werden konnte.

Den Patienten, die in dem Buch vorkommen, wurde gesagt, dass es ihnen nie besser gehen werde. Über Jahrzehnte hin wurde der Begriff Heilung im Zusammenhang mit dem Gehirn im Gegensatz zu anderen Organsystemen wie der Haut, den Knochen oder dem Verdauungsapparat nur selten verwendet. Während die Haut, die Leber oder das Blut sich selbst kurieren können, indem sie ihre verlorenen Zellen mit der Hilfe von Stammzellen ersetzen, die als "Ersatzteile" fungieren, wurden derartige Zellen im Gehirn nicht gefunden, obwohl man jahrzehntelang nach ihnen gesucht hat. Man fand keinen Nachweis, dass Neuronen, die einmal verloren gegangen waren, jemals ersetzt wurden. Die Wissenschaftler versuchten das mit der Evolution zu erklären: Bei seiner Entwicklung zu einem Organ mit Millionen hoch spezialisierter Schaltkreise verlor das Gehirn einfach die Fähigkeit, diese Schaltkreise mit Ersatzteilen zu versorgen. Selbst wenn neuronale Stammzellen, also "Babyneuronen", gefunden werden würden, müsste man sich fragen, ob sie helfen könnten. Wie könnten sie sich jemals in diese komplizierten, schwindelerregend komplexen Schaltkreise des Gehirns einpassen? Da man es für unmöglich hielt, das Gehirn zu heilen, gehörten zu den meisten Behandlungen Medikamente, die das fehlerhafte System unterstützten und die Symptome durch eine zeitweilige Änderung der chemischen Bilanz des Gehirns verringerten. Sobald man aber die Medikamente absetzte, kehrten die Symptome zurück.

Es stellte sich jedoch heraus, dass das Gehirn zu seinem eigenen Nutzen nicht zu kompliziert ist. Zu dieser Kompliziertheit gehört nämlich auch, dass Hirnzellen ständig in der Lage sind, elektrisch untereinander zu kommunizieren und immer wieder neue Verbindungen zu bilden. Das Buch will zeigen, dass dies die Quelle einer einzigartigen Fähigkeit zur Heilung ist. Es stimmt, dass auf dem Weg zur Spezialisierung des Gehirns wichtige Fähigkeiten zur Reparatur, die andere Organe haben, verloren gingen. Aber einige wurden auch neu entwickelt, und die meisten von ihnen sind Ausdruck der Plastizität des Gehirns.

Jede Geschichte im Buch zeigt eine besondere Facette der neuroplastischen Heilungsmöglichkeiten. Je mehr ich selbst in diese Verfahren eingebunden war, umso mehr fing ich an, sie zu unterscheiden und dabei wahrzunehmen, dass einige der Ansätze mit jeweils bestimmten Phasen des Heilungsprozesses zu tun haben. Ich schlage in Kapitel 3 ein erstes Modell der Phasen des neuroplastischen Heilens vor, um dem Leser dabei zu helfen, das Zusammenwirken der Phasen zu verstehen.

Wie mit den Entdeckungen von Medikamenten und Operationsverfahren, die für eine riesige Zahl von Krankheiten zu Erleichterungen geführt haben, war es auch mit der Entdeckung der Neuroplastizität. Der Leser wird auf zum Teil sehr detailliert geschilderte Fälle stoßen, die für einen Kranken oder für jemanden, der einen Kranken betreut, relevant sind. Die Krankheiten reichen von chronischen Schmerzen über einen Schlaganfall, ein Schädelhirntrauma oder andere Hirnschäden, Parkinson, Multiple Sklerose, Autismus, Aufmerksamkeitsdefizit-(/Hyperaktivitäts-) Störungen, Lernstörungen (inklusive Dyslexie), Wahrnehmungsstörungen, Entwicklungsverzögerungen, Fehlen eines Teils des Gehirns oder das Downsyndrom bis zu bestimmten Arten von Blindheit und anderem mehr. Bei einigen dieser Leiden kann die Mehrzahl der Patienten vollkommen geheilt werden. In manchen Fällen können schwere oder mittelschwere Krankheiten gemildert werden. Ich werde von Eltern berichten, denen man versichert hatte, dass ihr autistisches oder hirngeschädigtes Kind nie eine normale Ausbildung abschließen würde, die dann aber sahen, dass das sehr wohl ging. Die Kinder machten einen Abschluss, einige besuchten die Universität, wurden unabhängig und entwickelten tiefe Freundschaften. In anderen Fällen blieb es bei einer zugrundeliegenden ernsten Krankheit, aber die Symptome, die das größte Leid verursachten, wurden radikal reduziert. In wieder anderen Fällen wurde das Risiko für Alzheimer und andere Erkrankungen (bei denen die Plastizität des Gehirns reduziert wird) signifikant verringert (siehe Kapitel 2 und 4) und Möglichkeiten zur Verbesserung der Plastizität aufgezeigt.

Die meisten Eingriffe, die in dem Buch geschildert werden, machen sich Energie zunutze: Licht, Schall, Vibrationen, Elektrizität und Bewegung. Diese Energieformen sorgen für einen natürlichen, nicht-invasiven Zugang zum Gehirn, der über unsere Sinne und Körper geht und die Selbstheilungskräfte des Gehirns wachruft. Jeder der Sinne übersetzt eine der vielen Energieformen um uns herum in ein elektrisches Signal, das das Gehirn verarbeitet. Ich werde zeigen, wie es möglich ist, diese verschiedenen Energieformen zu verwenden, um die Muster der elektrischen Signale und letztlich die Struktur des Gehirns zu verändern.

Auf meinen Reisen konnte ich zum Beispiel sehen, wie zur Behandlung von Autismus Töne ins Ohr eingespielt wurden - mit Erfolg. Vibrationen am Hinterkopf werden zur Therapie von Aufmerksamkeitsdefizitstörungen eingesetzt. Stimulationen, die auf der Zunge kribbeln, können die Symptome der Multiplen Sklerose zurückdrängen und die Folgen eines Schlaganfalls heilen. Licht, das auf den Nacken scheint, vermag Kopfverletzungen zu heilen, in der Nase eingesetzt hilft es bei Schlafstörungen, und intravenös kann es sogar Leben retten. Die langsamen, sanften Bewegungen der menschlichen Hand auf dem Körper eines Mädchens, das mit einem unvollständigen Gehirn geboren wurde, können kognitive Problemen lösen und eine fast völlige Lähmung beheben. Ich will zeigen, wie all diese Techniken schlafende Schaltkreise des Gehirns stimulieren und aufwecken. Zu den effizientesten Wegen, das zu erreichen, gehört, das Denken selbst heranzuziehen, um Schaltkreise zu stimulieren. Deshalb haben die meisten Interventionen, die ich bezeugen kann, geistige Bewusstheit und Aktivität mit dem Einsatz von Energie gekoppelt.

Der gemeinsame Gebrauch von Energie und Geist zur Heilung, wie er im Westen ein Novum darstellt, ist freilich in der traditionellen fernöstlichen Medizin von jeher ein zentraler Punkt. Erst jetzt richten Wissenschaftler zunehmend ihr Augenmerk auf diese traditionellen Praktiken und untersuchen, ob sie auch zusammen mit westlichen Modellen funktionieren. Das Verständnis dafür, wie Neuroplastizität eingesetzt werden kann, indem man Einsichten der westlichen Neurowissenschaften mit östlichen Heilpraktiken verknüpft, wächst bei sämtlichen Neuroplastikern, die ich besuchte habe, in bemerkenswertem Ausmaß. Die chinesische Medizin ist dabei ebenso eingeschlossen wie die ähnlich alte buddhistische Meditation und Visualisierung, Kampftechniken wie Tai-Chi und Judo, Yoga und Energietherapie. Die westliche Medizin hat lange die fernöstliche Medizin und ihre Postulate abgelehnt, ihre milliardenfache Anwendung über Jahrtausende hinweg ignoriert. Oftmals aus dem Grund, weil die Vorstellung, dass der Geist imstande sei, das Gehirn zu verändern, den westlichen Wissenschaften zu abwegig erschien. Ich möchte in diesem Buch zeigen, wie die Neuroplastizität eine Brücke zwischen den zwei großen, aber bislang getrennten medizinischen Traditionen der Menschheit schlagen kann.

Es mag vielleicht seltsam klingen, dass die Wege zur Heilung, die in dem Buch beschrieben werden, oft den Körper und die Sinne als erstes Einfallstor verwenden, um Energie und Informationen in das Gehirn zu leiten. Aber das sind die Wege, die das Gehirn verwendet, um uns mit der Welt zu verbinden. So sorgen sie für den natürlichsten und am wenigsten invasiven Weg, um alles ineinander greifen zu lassen.

Ein Grund, warum es die Mediziner übersehen haben, den Körper einzusetzen, um das Gehirn zu heilen, ist die frühere Tendenz, das Gehirn als komplexer anzusehen als den Körper. Das Gehirn galt als das Wesentliche für unser Selbst. Nach dieser üblichen Ansicht "sind wir unser Gehirn". Das Gehirn ist die oberste Kontrollinstanz, während der Körper ihr Objekt ist, das den Befehlen des Herrn folgt.

Diese Sicht wurde allgemein akzeptiert, weil vor 150 Jahren die Neurologen und Neurowissenschaftler in einer ihrer größten Leistungen zu demonstrieren begannen, in welcher Weise das Gehirn den Körper kontrollieren kann. Sie stellten fest, dass bei einem Schlaganfallpatienten, der seinen Fuß nicht bewegen konnte, das Problem nicht im Fuß lokalisiert war, wie er es spürte, sondern in einem Areal des Gehirns, das den Fuß kontrolliert. Während des 19. und 20. Jahrhunderts kartierten die Neurowissenschaftler, wo im Gehirn welche Körperteile lokalisiert waren. Aber die Gefahr der strengen Gehirnkartierung bestand darin, zu glauben, im Gehirn "finde jede Art von Aktion statt". Einige Neurologen sprachen vom Gehirn wie von einem Ding ohne Körperlichkeit oder davon, dass der Körper ein bloßes Anhängsel des Gehirns sei, eine Art Infrastruktur zur Unterstützung des Gehirns.

Diese Annahme einer totalen Herrschaft des Gehirns ist aber nicht richtig. Das Gehirn hat sich in der Evolutionsgeschichte viele Millionen Jahre nach dem Körper entwickelt. Als die Körper über ein Gehirn verfügten, änderten sie sich, sodass Körper und Gehirn interagieren konnten und sich einander anpassten. Das Gehirn sendet nicht nur Signale an den Körper, um ihn zu beeinflussen, vielmehr sendet auch der Körper Signale an das Gehirn, und so besteht ständig eine wechselseitige Kommunikationen zwischen beiden. Der Körper hat ein Übermaß an Neuronen, allein der Bauch hat 100 Millionen von ihnen. Das Gehirn existiert nur in den Anatomielehrbüchern vom Körper getrennt und auf den Kopf beschränkt. Durch seine Funktionsweise ist das Gehirn immer mit dem Körper verbunden und über die Sinne mit der Außenwelt. Neuroplastiker haben gelernt, diese breiten Bahnen vom Körper zum Gehirn zu nutzen, um Heilungsprozesse zu erleichtern. Es ist daher so, dass jemand nach einem Schlaganfall den Fuß nicht mehr benutzen kann, weil das Gehirn geschädigt ist. Aber die Bewegung des Fußes kann auch manchmal schlafende Schaltkreise in dem verletzten Gehirn zum Leben erwecken. Körper und Gehirn werden zu Partnern bei der Heilung des Gehirns, und weil diese Ansätze nicht invasiv sind, führen sie nur außergewöhnlich selten zu Nebenwirkungen.

Die Vorstellung von machtvollen, aber nicht-invasiven Behandlungen von Gehirnstörungen scheint zu schön, um wahr zu sein. Das hat historische Gründe. Die moderne Medizin begann mit der modernen Naturwissenschaft, die entwickelt wurde, um die Natur zu beherrschen ? zur "Erleichterung des Menschen", wie es einer ihrer Urväter, Francis Bacon, formulierte. Diese Idee der Unterwerfung hat zu vielen militärischen Metaphern geführt, die auch heute noch in der medizinischen Praxis verwendet werden, wie Abraham Fux, der frühere Dekan für Medizin an der McGill-University zeigt.2 Die Medizin zog gegen die Krankheit in die "Schlacht".3 Medikamente waren "magische Kugeln", die Medizin führte den "Kampf gegen den Krebs" und "bekämpfte AIDS" mit den "Befehlen des Arztes aus dem therapeutischen Waffenschrank". Angesichts dieses "Waffenschranks", wie die Mediziner ihren Packen an therapeutischen Tricks nennen, erscheinen invasive Hightech-Behandlungen wissenschaftlicher zu sein als nicht-invasive. Es gibt definitiv Zeiten, die eine kriegerische Haltung der Mediziner rechtfertigen, insbesondere in der Notfallmedizin. Platzt eine Vene in der Brust, braucht der Patient eine invasive Operation und einen Chirurgen mit Nerven wie Stahl, der zum Skalpell greift. Aber die Metaphorik führt auch zu Problemen, und die schöne Idee, dass es möglich ist, die Natur zu besiegen, ist eine törichte, naive Hoffnung.

In dieser Metaphorik ist der Körper des Patienten weniger ein Verbündeter als ein Schlachtfeld, und der Patient ist zu Passivität verdammt. Er wird zum hilflosen Zuschauer, wenn er der Konfrontation zwischen den zwei großen Antagonisten zuschaut - dem Arzt und der Krankheit, die sein Schicksal bestimmt. Diese Haltung hat sogar Einfluss auf die Art und Weise, wie viele Mediziner heute mit ihren Patienten sprechen - oder gerade nicht sprechen. Denn oftmals scheinen Laborergebnisse den Hightech-Ärzten wichtiger zu sein als das, was ihre Patienten ihnen erzählen.

Ganz anders der neuroplastische Ansatz. Er erfordert den aktiven Einsatz des ganzen Patienten für sich selbst: Geist, Gehirn, Körper. Ein solcher Ansatz beruft sich nicht nur auf das Erbe der fernöstlichen, sondern auch auf das der westlichen Medizin. Der Urvater der wissenschaftlichen Medizin, Hippokrates, sah im Körper den Hauptheiler. Für ihn arbeiteten Arzt und Patient mit der Natur zusammen, um die Selbstheilungskapazitäten des Körpers zu aktivieren.

Bei diesem Ansatz konzentriert sich der Heilkundige nicht nur auf die Defizite des Patienten, so wichtig sie sein mögen, sondern sucht auch nach gesunden Gehirnregionen, die vielleicht schlafen oder brach liegen und möglicherweise zu einer Genesung beitragen können. Dieser Ansatz will nicht in naiver Weise den neurologischen Nihilismus der früheren Zeiten durch einen ebenso extremen neurologischen Utopismus ersetzen, indem er statt falschem Passivismus falsche Hoffnung predigt. Dabei müssen neu entdeckte Heilungsmöglichkeiten des Gehirns gar nicht zwingend allen Patienten zu jeder Zeit helfen können. Oft wissen wir schlichtweg nicht, was passieren wird, bis der Patient mit der begleitenden Hilfe eines sachkundigen Gesundheitsexperten den neuen Ansatz ausprobiert.

Das Wort heilen geht auf das altgermanische Wort haila zurück und bedeutete nicht nur einfach "kurieren", sondern "ganz machen". Das Konzept ist weit von der Idee eines Kurierens in der militärischen Metaphorik entfernt, bei der das Konzept von "siege und herrsche" mitspielt.

Nun warten Geschichten auf Sie. Von Menschen, die ihr Gehirn verändert haben, die verloren gegangene Areale ihres Ichs wieder gewinnen oder in sich Kapazitäten entdecken konnten, von denen sie zuvor nichts gewusst haben. Aber das eigentliche Wunder sind weniger die Techniken, die unser Gehirn nutzt, als vielmehr der Weg, auf dem es sich im Laufe von Jahrmillionen entwickelt hat, als es ausgefeilte neuroplastische Fähigkeiten und einen Geist herausbildete, der seinen eigenen einzigartigen Wiederherstellungs- und Wachstumsprozess regieren kann.

KAPITEL 1

Heile dich selbst, wenn der Arzt den Schmerz nicht vertreiben kann

Michael Moskowitz entdeckt, wie man chronische Schmerzen verlernen kann

Dr. Michael Moskowitz ist Psychiater und Schmerzexperte, der sich schon des Öfteren selbst zum Versuchskaninchen machen musste.

Korpulent, lebensfroh und einen Meter achtzig groß schaut der Mann, der in den Sechzigern ist, um zehn Jahre jünger aus. Er trägt eine ovale John-Lennon-Brille, hat etwas lange, grau werdende Locken, einen Schnauzbart und ein Unterlippenbärtchen wie ein Beatnik. Er lächelt viel. Ich sah Moskowitz zum ersten Mal auf Hawaii als Chairman der Sitzung der American Academy of Pain Medicine, einer ziemlich nüchternen, sachlichen Veranstaltung. Er trug einen Anzug, aber der schien nicht recht zu seiner starken Ausstrahlung, seiner jungenhaften Erscheinung zu passen. Ein paar Stunden später am Strand trug er Shorts und wilde Farben, war ganz locker, machte Scherze und weckte auch in mir den Jungen. Irgendwie kamen wir ins Gespräch über Ärzte, die sich so oft für klare diagnostische Kategorien interessieren, von denen sie annehmen, sie seien ideale Muster für alle und jeden, und dabei vergessen, wie verschieden die Menschen in Wirklichkeit sind. "Wie ich zum Beispiel", sagte er.

"Wieso das?", fragte ich.

"Mein Körperbau." Daraufhin zog er sein Hawaiihemd hoch und zeigte mir voll Stolz, dass er nicht zwei, sondern drei Brustwarzen hatte.

"Ein echter Freak", scherzte ich, "nutzt es Ihnen irgendwie?"

Wie früher als Medizinstudenten fingen wir eine etwas pubertäre Scherzdebatte an: Wenn Brustwarzen für Männer nutzlos sind, wer von uns beiden war dann nutzloser, der mit zwei oder der mit drei Nippeln? So haben wir uns kennen gelernt, und alles, was ich von ihm mitbekam - er sang gern, spielte Gitarre, sein einnehmendes Wesen und seine junge Stimme -, ließ darauf schließen, dass er immer noch jemand war, der zu der unbekümmerten Welt aus Liebe, Musik, Lockerheit und Sorglosigkeit der 1960er passte, in der er aufwuchs.

Es ist aber alles ganz anders.

Moskowitz bringt fast seine ganze Zeit damit zu, sich mit den chronischen Schmerzen anderer zu befassen. Die meisten Menschen kennen diese Qualen nicht, zum Teil, weil die Betroffenen durch ihre Schmerzen so erschöpft sind, dass sie ihre wenige verbliebene Kraft nicht mehr dazu verschwenden, sich in ihrem Elend jemandem anzuvertrauen, der ihnen ohnehin nicht helfen kann. Es kann sein, dass man einem Patienten seine chronischen Schmerzen nicht ansieht, es kann aber auch sein, dass ein chronischer Schmerzpatient seiner Umwelt wie ein Gespenst vorkommt, weil die Schmerzen nach und nach alles Leben aus ihm saugen. Moskowitz hingegen war an der Schmerzproblematik voll und ganz beteiligt: Er gründete mit einem anderen Psychiater und Schmerzexperten, seinem alten Freund aus dem Süden, Dr. Robert "Bobby" Hines, in Sausalito in Kalifornieneine Schmerzklinik namens Bay Area Pain Medical Associates, die Patienten behandelt, die unter "hartnäckigen Schmerzen" leiden: Sie haben schon alle Behandlungen über sich ergehen lassen und alle Medikamente geschluckt, sie bekommen regelmäßig "Nervenblocker" (das sind Betäubungsspritzen) und haben Akupunktur ausprobiert. Bei den Patienten, die in der Klinik landen, haben weder die klassischen noch die alternativen Behandlungsmethoden angeschlagen, und man hat ihnen gesagt: "Wir haben alles für Sie getan, was man tun kann." Kurz: Sie sind "austherapiert".

"Wir stehen am Ende des Wegs", sagt Moskowitz, "zu uns kommen die Leute, um mit ihren Schmerzen zu sterben".

Moskowitz kam zur Palliativmedizin, nachdem er jahrelang als Psychiater gearbeitet hatte. Er hat alle Qualifikationen, die man braucht: Er gehörte zur Prüfungskommission des American Board of Pain Medicine (der die Prüfung von angehenden Palliativmedizinern festlegt), war früher Chairman des Ausbildungskomitees der American Academy of Pain Medicine und gehört zu den angesehensten Experten für psychosomatische Medizin. Dass er aber weltweit führend beim Einsatz von Neuroplastizität bei der Schmerzbehandlung ist, hat er einigen Entdeckungen zu verdanken, die er machte, als er sich selbst behandelte.

Eine Lektion über den Schmerz: Der Schmerzschalter

Es war am 26. Juni 1999, als Moskowitz, der damals 49 war, zusammen mit einem Freund auf die Müllsammelstelle von San Rafael schlich, weil er gehört hatte, dass dort Panzer und andere Kampffahrzeuge der Army für die Parade vom 4. Juli abgestellt seien. Er konnte nicht widerstehen und kletterte wie ein kleiner Junge auf den Turm eines Panzers. Als er wieder heruntersprang, blieb er an der Seite des Panzers mit seiner Cordhose an einer Halterung für Benzinkanister hängen. Bei dem Sturz wurde eines seiner Beine eineinhalb Meter nach oben gezogen, und er hörte drei knallende Geräusche: der Oberschenkelknochen, der längste Knochen, den wir haben, brach durch. Als er auf sein Bein schaute, sah er, dass es im 90-Grad-Winkel vom Körper abstand. "Ich war ein wenig zu alt, um auf Jeeps und Panzern rumzuklettern. Als ich später mit einem Freund sprach, der Anwalt für Personenschäden war, sagte er mir: Wenn du sieben wärst, könnte ich ein richtig großes Ding daraus machen."

Als Palliativmediziner nutzte Moskowitz die Situation, um ein Phänomen zu beobachten, über das er zwar seinen Studenten berichtet, das er aber selbst noch nie erlebt hatte. Es sollte sich als zentral für seine Erforschung der Neuroplastizität erweisen. Kurz nachdem er vom Panzer gefallen war, hatte er Schmerzen der Stufe zehn von zehn (oder 10/10, wie es die Palliativmediziner angeben). Schmerzen werden in einer Skala von 0/10 bis 10/10 angegeben, wobei 10/10 den Schmerzen entspricht, die man in siedendem Öl empfindet. Er hatte vorher nicht gewusst, ob er die Schmerzstufe 10 aushalten würde. Jetzt wusste er, dass es ging.


Norman Doidge, M.D., ist Psychiater, Psychoanalytiker und Autor des New York Times-Bestsellers 'Neustart im Kopf', der von der Dana Foundation aus über dreißigtausend Titeln zum 'besten Sachbuch über das Gehirn' gewählt wurde. Es hat sich weltweit über eine Million Mal verkauft. Doidge war Mitglied der Forschungsabteilung am Center for Psychoanalytic Training and Research in der psychiatrischen Fakultät der Columbia University in New York City und gehörte dreißig Jahre lang dem Lehrkörper der psychiatrischen Fakultät der University of Toronto an. Er lebt in Toronto.


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