Engartner | Staat im Ausverkauf | Buch | 978-3-593-50612-8 | sack.de

Buch, Deutsch, 268 Seiten, Format (B × H): 139 mm x 213 mm, Gewicht: 345 g

Engartner

Staat im Ausverkauf

Privatisierung in Deutschland

Buch, Deutsch, 268 Seiten, Format (B × H): 139 mm x 213 mm, Gewicht: 345 g

ISBN: 978-3-593-50612-8
Verlag: Campus Verlag GmbH


Marode Schulen und Krankenhäuser, explodierende Mieten in städtischen Zentren, steigende Preise für Wasser, Gas und Strom, geschlossene Filialen der Deutschen Post, "Verzögerungen im Betriebsablauf" bei der Deutschen Bahn - dies alles geht auch auf den großen Ausverkauf der öffentlichen Hand zurück, der in Deutschland während der Kanzlerschaft Helmut Kohls einsetzte. In der Überzeugung, dass Privatisierungen Dienstleistungen besser, billiger und bürgernäher machen, schüttelt "Vater Staat" bis heute immer mehr Aufgaben ab - wie ein Baum seine Blätter im Herbst. Anhand besonders eindrücklicher Beispiele analysiert Tim Engartner in sieben Kapiteln - Bildung, Verkehr, Militär, Post und Telekommunikation, soziale Sicherung, Gesundheit und kommunale Versorgung - die Privatisierungen in Deutschland und ordnet sie in internationale Zusammenhänge ein. Sein Weckruf zeigt: Diese Politik, die von allen regierenden Parteien betrieben wurde und immer noch wird, ist nicht alternativlos.
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Inhalt

Staat im Ausverkauf - ein Weckruf 7

Ein lukrativer Markt: das Bildungssystem 17

Kinder als Kunden: Krippen, Kitas und Kindergärten 19

Unterricht aus der Marketingabteilung: die Schulen 21

Profit vor Pädagogik: die Privatschulen 38

Im Notfall zahlt der Staat Lehrgeld: die Hochschulen 47

Heimlicher Gewinner: die Bertelsmann Stiftung 57

Was nur die öffentliche Bildung leisten kann 59

Die Privatwirtschaft hat Vorfahrt: das Verkehrswesen 61

Entgleisungen der Privatisierung: die Deutsche Bahn 62

Freie Fahrt für freie Investoren: der Straßenverkehr 88

Destination Privatisierung: die zivile Luftfahrt 98

Was nur die öffentliche Verkehrsplanung leisten kann 105

"War sells": die Bundeswehr 109

Privatisierungen in den USA: Vorbild oder Mahnung? 112

Die Privatwirtschaft im Einsatz: Service- und Kernaufgaben 115

Demokratie in Gefahr: die Folgen der Privatisierung 130

Privatisierung der Lebensrisiken: Rente und Arbeit 135

Lobbyisten als Profiteure: der Sozialstaat 137

Rendite statt Rente: die Privatisierung der Altersvorsorge 144

Privatsache Arbeitslosigkeit: Hartz IV 152

Entsolidarisierung: Gewinner und Verlierer der Reformen 156

Der große Postraub: Post und Telekommunikation 161

Prekarisierung durch Privatisierung: die Deutsche Post 163

Von der Behörde zum Global Player: die Deutsche Telekom 171

Krankheit Ökonomisierung: das Gesundheitswesen 177

Privatisierung und Entsolidarisiung:

die gesetzlichen Krankenkassen 178

Der Wirkstoff Betriebswirtschaft: die Krankenhäuser 187

Warum der Gesundheitsmarkt kein freier Markt werden kann 199

Kostentreiber Privatwirtschaft: die kommunale Versorgung 203

Der Staat als Geisel: die öffentlich-privaten Partnerschaften 205

Sorgenkinder: Abfallentsorgung

und kommunale Gebäudereinigung 216

Wohnungen als Ware: die Wohnungsbaugesellschaften 222

Konsumgut statt Lebenselixier: die Wasserversorgung 225

Was die Kommunalwirtschaft besser kann

als die Privatwirtschaft 227

Wem gehört was warum? Wem soll was gehören? 229

Aus Fehlern lernen 231

Gemeinwohlorientierung versus Gewinnorientierung 234

Die Notwendigkeit staatlicher Wirtschaftstätigkeit 238

Renaissance des Staates? 242

Dank 249

Literatur 250


Staat im Ausverkauf - ein Weckruf

Fahrpreiserhöhungen, Bahnhofsschließungen, Lok- und Oberleitungsschäden, Weichen- und Signalstörungen, Verzögerungen im Betriebsablauf aufgrund "dichter Zugfolge" - immer wieder gerät die Deutsche Bahn aufs Abstellgleis. Als internationaler Mobilitäts- und Logistikdienstleister konzentriert sich das "Unternehmen Zukunft" (Eigenwerbung) längst auf Frachttransporte zwischen Dallas, Delhi und Den Haag statt auf die Fahrgastbeförderung zwischen Delmenhorst, Dinslaken und Düren. Beinahe zwei Drittel seines Umsatzes erzielt der einst größte Arbeitgeber der Bundesrepublik inzwischen mit bahnfremden Dienstleistungen. Der Global Player vernachlässigt den inländischen Schienenverkehr und setzt stattdessen auf profitable Fluggesellschaften (Bax Global), Lkw-Speditionen (Stinnes), Fuhrparks (Bundeswehr) oder den Ausbau des Schienenverkehrs in Indien und Saudi-Arabien.

Auch die Deutsche Post pflegt seit dem Jahr 2000 ihren Börsenkurs statt ihre Kunden und Beschäftigten. Um die "Aktie Gelb" attraktiv zu machen, wurden Tausende sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse durch 400-Euro-Jobs ersetzt, während sich der Vorstandsvorsitzende Frank Appel zuletzt über Bezüge von 5,2 Millionen Euro freuen durfte. Mini-, Midi- und Multi-Jobber sowie Zeit- und Leiharbeiter stellen Briefe und Pakete im Auftrag oder als "Servicepartner" des Konzerns zu. Wie die Konkurrenten UPS, DPD und Hermes delegiert auch das seit 2002 zur Deutschen Post AG zählende Logistikunternehmen DHL seine unternehmerische Verantwortung an Subunternehmer.

Deutsche Bahn und Deutsche Post führen vor Augen, worüber die Nachrichtensendungen in Deutschland nur selten berichten: Im Glauben daran, dass Privatisierungen Dienstleistungen besser, billiger und bürgernäher machten, schüttelt Vater Staat seit mehr als drei Jahrzehnten seine Aufgaben ab - wie ein Baum seine Blätter im Herbst: Von 1982, dem Beginn der Ära Helmut Kohl (CDU), bis heute trennte sich allein der Bund von rund 90 Prozent seiner unmittelbaren oder mittelbaren staatlichen Beteiligungen.

Unternehmen wie die Deutsche Bundespost, die Deutsche Bundesbahn, die Deutsche Lufthansa, die VEBA-Gruppe (die nun unter E.ON firmiert), die Immobiliengesellschaft IVG, die Bundesanstalt für Flugsicherung, die Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahn (nunmehr Tank & Rast) - sie gehörten einst vollständig dem Bund und wurden doch alle privatisiert. Auch auf kommunaler Ebene greift die Entstaatlichung seit vielen Jahren Platz. Allerorten verkaufen Städte und Gemeinden ihre Wohnungen, Stadtwerke und Schulgebäude. Bei zwei von drei Haushalten wird der Müll inzwischen von Privatunternehmen wie den Branchenriesen Alba, Remondis, Sulo oder Veolia entsorgt. Marktmechanismen greifen seit einigen Jahren selbst bei (Hoch-)Schulen, Krankenhäusern und Justizvollzugsanstalten sowie bei Wasser-, Klär- und Elektrizitätswerken. Privatisiert werden neuerdings aber auch Armeen, Gewässer und Sparkassen - stets mit dem Versprechen, alle Bürger würden dadurch gewinnen und keiner etwas verlieren.

Von der immer wieder in Aussicht gestellten Entlastung der öffentlichen Haushalte aber kann keine Rede sein - jedenfalls dann nicht, wenn man auf die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung blickt. So wurden durch die Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur allein in den vergangenen zwei Jahrzehnten rund 1,2 Millionen Arbeitsverhältnisse vernichtet. Die historische Sondersituation der deutsch-deutschen Vereinigung, die in den 1990er-Jahren massiven ökonomischen Druck erzeugte, begünstigte das Abschmelzen von Bundesbeteiligungen in einzigartiger Weise. Rechnete man den Ausverkauf des DDR-Vermögens durch die Treuhandanstalt hinzu, bei dem viele volkseigene Betriebe weit unter Wert an teils windige Investoren verschachert wurden, fiele die Privatisierungsbilanz noch sehr viel düsterer aus.

Die kontinuierlich steigenden Kosten, die Bürger für Wasser, Strom und Gas aufbringen müssen, sind das Ergebnis der in den 1990er-Jahren angestoßenen Privatisierungen im Energiesektor - aber die wenigsten Bürger können sich diesen Zusammenhang erschließen. Bildung in der von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) proklamierten "Bildungsrepublik" kann sich schon jetzt nicht mehr jeder leisten - und trotzdem wächst die Zahl der privaten und damit gebührenpflichtigen Kindertagesstätten, (Hoch-)Schulen und Nachhilfeinstitute seit Jahren. Die mit der Privatisierung der Bundesdruckerei einhergegangene Preisexplosion bei der Ausstellung von Personalausweisen, Reisepässen und Führerscheinen sorgt zwar regelmäßig für Unmut, aber statt auf die Privatisierungspolitik zu schimpfen, verteufeln wir die träge Verwaltung. Und die Wehklagen über das "Unterschichtenfernsehen" von RTL, RTL II und SAT.1 wären hinfällig, wenn die Anfang der 1980er-Jahre vom Bertelsmann-Konzern mit der unionsgeführten Bundesregierung vorangetriebene Privatisierung des Rundfunks unterblieben wäre.

Preiswerter Wohnraum ist nicht mehr nur in Hamburg, München und Köln knapp, sondern in beinahe allen Ballungszentren. Auch in den angesagten Vierteln Berlins, wo Wohnraum lange preiswert war, steigen die Mieten, und die Ärmeren müssen den Wohlhabenderen Platz machen. In allen Kommunen, in denen die Abfallentsorgung, die Energie- und Wasserversorgung sowie die Gebäudereinigung privatisiert wurden, klettern die Preise, mitunter bis aufs Dreifache. In den vergangenen zehn Jahren wurden mehr als 1.100 Schwimmbäder geschlossen. Die teils horrenden Eintrittspreise für privat betriebene "Spaßbäder" können sich finanzschwache und/oder kinderreiche Familien nicht mehr leisten. Der soziale Ausgleich als Prinzip der Sozialen Markwirtschaft bleibt auch im öffentlichen Personennahverkehr auf der Strecke: Bus- und Straßenbahntickets werden regelmäßig teurer, die Taktungen ausgedünnt, Haltestellen aufgegeben.

Obwohl Privatisierungen also offenkundig für die Mehrheit der Bevölkerung beträchtliche und für unzählige Menschen existenzielle Nachteile mit sich bringen, hält sich der öffentliche Unmut in Grenzen. Dabei sorgt sich angesichts des Um- und Abbaus des Sozialstaates nahezu jeder, ob er den Lebensstandard wird aufrechterhalten können - erst recht im Ruhestand. Wie lässt sich dies erklären? Vermutlich weil die Bevölkerung die Verschlechterungen gar nicht mit Privatisierungen in Verbindung bringt, weil diese häufig im Verborgenen, ja mitunter sogar "streng geheim", vor sich gehen. Ein eindringliches Beispiel liefert die Deutsche Bahn, die 2006 mit der "Verschlossenen Auster" ausgezeichnet wurde - dem von der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche e.?V. verliehenen Negativpreis für "Auskunftsverweigerer in Politik und Wirtschaft". Wesentliche Informationen drangen in der "Mehdorn-Ära" nicht an die Öffentlichkeit; die Bahn zog Werbeanzeigen in Medien, die kritisch berichtet hatten, zurück. Als einer der größten Anzeigenkunden im deutschen Verlagswesen und als Abnehmer großer Zeitungskontingente für Erste-Klasse-Reisende und DB-Lounges kann die Bahn die Berichterstattung beeinflussen. So bleiben viele Folgen ihrer Privatisierung im Dunkeln.

Privatisierungen werden auch deshalb zu selten kritisiert, weil sie im Zeitalter des Neoliberalismus als alternativlos wahrgenommen werden. Den meisten Menschen ist nicht bewusst, dass mit Privatisierungen lediglich Symptome kuriert, nicht aber die Ursachen bekämpft werden: Zwar erzielen Kommunen, Länder und der Bund mit Privatisierungen hohe Einmaleinnahmen, über die sich Politiker freuen, weil sie ihnen neue finanzielle Handlungsspielräume eröffnen, an der Unterfinanzierung der Gebietskörperschaften ändert dies aber nichts. Es bedarf der Einsicht, dass ein Steuersystem, das Arbeit diskriminiert und Kapital privilegiert, nicht nur die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft, sondern auch den Privatisierungsdruck erhöht.

Hohe Einkommen zeichnen sich durch eine höhere Sparquote aus, d.?h. sie werden zu einem geringeren Teil für den Konsum ausgegeben und stattdessen - prozentual steigend - gespart. Die Bezieher hoher Einkünfte suchen also gerade bei niedrigen Kapitalmarktzinsen nach rentablen Anlagemöglichkeiten. Investitionen in die öffentliche Infrastruktur bieten dafür beste Möglichkeiten, da sie ausgesprochen sicher sind: Bahn-, Flug- und Straßenverkehr werden auf absehbare Zeit nicht eingestellt werden, Wasser-, Klär- und Elektrizitätswerke sind unverzichtbar, ebenso Justizvollzugsanstalten, Rathäuser und Schulen. Bei investorenfreundlichen Konditionen zu Lasten der öffentlichen Hand - etwa über öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) - sind diese Investments für die Anleger ausgesprochen lukrativ. Diesen Zusammenhang stellen die Medien jedoch nur selten her.

Der Ausverkauf des Staates greift häufig erst dann Platz, wenn die staatlichen Güter und Dienstleistungen über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte vernachlässigt wurden. So etwa eröffneten die kurzzeitig eingeführten Studiengebühren den Hochschulbibliotheken die Möglichkeit, mehr Bücher anzuschaffen. Sie verwiesen nun mit einem Stempelaufdruck der Art "Aus Studiengebühren finanziert" in den Büchern auf die Finanzierungsquelle. Die jahrelange staatliche Unterfinanzierung der Hochschulen drang hingegen nicht ins kollektive studentische Bewusstsein, sodass sich die Gleichung "Studiengebühren = gute Studienbedingungen" festsetzte. Selbst viele Politik- und Pädagogikstudierende erkannten das eigentliche Übel nicht - dass Deutschland (gemessen am Bruttoinlandsprodukt) bei den Bildungsausgaben im letzten Drittel der OECD-Staaten rangiert.

Ein weit in die Historie zurückreichendes Beispiel illustriert die guten Gründe, die gegen die Privatisierung hoheitlicher Aufgaben sprechen. Nachdem es im antiken Rom beinahe täglich gebrannt hatte, gründete Marcus Licinius Crassus 70 v. Chr. eine private Feuerwehr. Wenn es brannte, erschien Crassus am Ort des Geschehens und unterbreitete dem Besitzer des brennenden Gebäudes ein Angebot: War er bereit, sein Haus zu einem Bruchteil des angemessenen Preises zu verkaufen, schritten die Löschtruppen zur Tat. Wenn nicht, pfiff Crassus seine Feuerwehrsklaven zurück und ließ dem Feuer seinen Lauf. So wurde er einer der reichsten Römer seiner Zeit.

Auch zahlreiche Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit lassen erkennen, welche verheerenden Folgen Privatisierungen zeitigen können. Nachdem der britische Premierminister John Major 1994 das Staatsunternehmen British Rail privatisiert hatte, mussten die britischen Bahnfahrer allein im ersten Jahrzehnt mehr als 11.000 Jahre Verspätung in Kauf nehmen. Die Zerschlagung von British Rail in 106 private Einzelgesellschaften ließ nicht nur mehr als 2.000 Subunternehmen entstehen, sondern machte bereits nach kurzer Zeit die damit verbundenen Risiken deutlich: Die Unfälle von Southall (1997), Paddington (1999) und Hatfield (2000), die zusammen 42 Tote und mehr als 500 teils schwer Verletzte forderten, haben sich ins kollektive Gedächtnis der Briten eingebrannt - und die Politik schließlich genötigt, den Infrastrukturbetreiber Railtrack wieder zu verstaatlichen.

Aber während in Großbritannien selbst (bahnpendelnde) Investmentbanker für eine Wiederverstaatlichung plädieren, versickert nach wie vor jeden Tag unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit ein Drittel des Trinkwassers im Londoner Erdreich. Obwohl die geschätzte Wassermenge ausreichen würde, um mehr als 350 olympische Schwimmbecken zu füllen, und das Trinkwasser aufgrund der eindringenden Luft häufig schal wird, setzt das private Wasserver- und -entsorgungsunternehmen die Rohre nicht in Stand. Thames Water, das seit Oktober 2006 zu einem Konsortium unter Leitung eines australischen Investmentfonds namens Kemble Water zählt, scheut die Investitionen und wurde auch deshalb häufiger als jedes andere britische Unternehmen wegen Umweltdelikten belangt, weil aufgrund überlasteter Kanäle beinahe jede Woche ungereinigte Abwässer in die Themse eingeleitet werden (müssen). Nach einer starken Regenflut im Juli 2007 mussten aus dem gesamten Land Tanklaster zusammengezogen werden, um die 150.000 Anwohner in Cheltenham, Gloucester und Tewkesbury mit Trinkwasser zu versorgen, weil der privatisierte Wassermonopolist Severn Trent die Instandhaltung der Trinkwasseranlagen in den englischen Midlands über Jahre vernachlässigt hatte. Und als der Konzern 2013 eine feindliche Übernahme mit geschätzten 19 Millionen Pfund Sterling abwehren musste, stiegen die Wasserpreise um zwei Prozent.

Man sieht: Auch wenn das vorliegende Buch sich im Wesentlichen den Privatisierungen in der Bundesrepublik Deutschland widmet, so rollt die Privatisierungswelle natürlich keinesfalls nur hier. Als sich die "Troika" auf ein "Sparprogramm" für Griechenland verständigt hatte, schallte der Ruf nach dem Verkauf von Staatsbesitz bis nach Hellas: 50 Milliarden Euro sollte die griechische Regierung durch Privatisierungen erlösen - eine gigantische Summe. Stolz sprach die damalige Regierung vom "weltgrößten Privatisierungsprogramm", das u.?a. die Energiefirmen Depa, DEI und Hellenic Petroleum, das Telekommunikationsunternehmen Hellenic Telecom sowie den Wettanbieter Opap teilprivatisieren sollte. Tatsächlich ist die Privatisierung nur in einigen wenigen Fällen geglückt, wie etwa beim Online-Anbieter Opap und beim Hafen von Piräus, der nun mehrheitlich der chinesischen Großreederei Cosco gehört. Bis zum Frühjahr 2016 hatte die griechische Regierung jedoch insgesamt gerade einmal 3,5 Milliarden Euro und damit nur 14 Prozent des erwarteten Volumens erlösen können.

Aber auch in Spanien, Portugal und Italien ist die Privatisierungseuphorie der konservativ-liberalen Parteien ungebrochen - und selbst in Lateinamerika und in Südostasien scheuen Regierungen nicht vor Entstaatlichungsprogrammen zurück. Vorreiter sind - wie bei vielen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Entwicklungen - die USA und Großbritannien. So sind die Vereinigten Staaten von Amerika weltweit "Spitzenreiter" beim Einsatz privater Streitkräfte, beim Bau und Betrieb privater Haftanstalten sowie bei der Einrichtung von ÖPPs im Bildungssektor. In Großbritannien ließ Margaret Thatcher kaum ein Staatsunternehmen unangetastet. Während ihrer Amtszeit zwischen 1979 und 1990 privatisierte die "Eiserne Lady" zunächst jene Unternehmen, die besonders hohe Verkaufserlöse versprachen: British Petroleum (1979), British Aerospace (1981), Cable and Wireless (1981), British Telecom (1982), Britoil (1985), British Airways (1987), Rolls-Royce (1987), British Steel (1988) und Thames Water (1989). Allein zwischen 1984 und 1991 wurde ein Drittel der weltweiten Privatisierungserlöse in Großbritannien erzielt. Beinahe eine Million Beschäftigungsverhältnisse wurden während dieses Zeitraums vom öffentlichen in den privaten Sektor überführt (Wright 1994, 10).

Aber der Blick über den Ärmelkanal stimmt auch hoffnungsfroh. Mittlerweile stoßen Privatisierungen bei der überwältigenden Mehrheit der Briten auf Ablehnung. Schon vor eineinhalb Jahrzehnten schilderte der London-Korrespondent der ZEIT, Jürgen Krönig, unter der Überschrift "Insel der Katastrophen - Die Lehren der Eisernen Lady haben ausgedient" das landesweite Unbehagen (2001): "Marktprinzip und Privatisierung, ideologische Markenzeichen der Thatcher-Revolution, von New Labour bejaht und für den Gebrauch einer Mitte-Links-Partei modifiziert, werden auf der Insel nun wieder infrage gestellt. Urplötzlich geistert sogar ein längst tot geglaubter Begriff durch die Lande - Verstaatlichung. Mehr als zwei Drittel der Briten wünschen, die Privatisierung der Eisenbahn möge rückgängig gemacht werden. Über die Schattenseiten der fulminanten Entstaatlichung in den vergangenen zwei Dekaden wird mittlerweile auf Dinnerpartys der konservativen ›middle classes‹ lamentiert. Wir sind zu weit gegangen, lautet der Tenor selbst in Wirtschaftskreisen." Die Wahl des leidenschaftlichen Privatisierungsgegners Jeremy Corbyn zum neuen Vorsitzenden der Labour-Partei am 12. September 2015 könnte jedenfalls über die Landesgrenzen hinaus zum Signal für den Stimmungswandel werden.

Die Gründe für den weltweiten Privatisierungswahn - der nur vereinzelt politisch kritisiert wird - sind vielfältig, kulminieren aber letztlich alle im neoliberalen Glauben an den Markt als "Allheilmittel". Das neoliberale Credo des "schlanken" - mitunter sogar des "magersüchtigen" Staates - geriet und gerät ins Wanken, weil die "Steuerungsdefizite des Staates und im Staate" (Jänicke 1993, 65) immer öffentlichkeitswirksamer herausgestellt wurden. In Deutschland schafft es der Bund der Steuerzahler mit seinem auf die Unzulänglichkeiten staatlicher Wirtschaftstätigkeit zielenden "Schwarzbuch" Jahr für Jahr, ein breites Medienecho auszulösen. Die Unzulänglichkeiten privatwirtschaftlicher Tätigkeit werden in den überregionalen Tages- und Wochenzeitungen hingegen immer noch zu selten behandelt.

Auch das vorliegende Buch wird die Privatisierungspolitik nicht stoppen. Dafür wird der Kreis der Leser dieses Buchs zu klein und die Privatisierungslobby weiterhin zu einflussreich sein. Während Sie dieses Buch lesen, arbeiten Heerscharen von Industrie- und Finanzunternehmen, von Wirtschaftsprüfern und -anwälten, von Stiftungen und Forschungsinstituten, von Konzernbeiräten und Leihbeamten mal leiser und mal lauter daran, den Staat weiter zu plündern. Tag und Nacht widmen sich Unternehmens- und Steuerberater bei McKinsey & Company, Roland Berger Strategy Consultants, Bain & Company, PricewaterhouseCoopers, Ernst & Young, KPMG und Boston Consulting der Frage, wie öffentliches Eigentum zu Gunsten privater Kapitalgeber liquidiert werden kann. Zeitgleich bahnen millionenschwere Lobbygruppen den weiteren Ausverkauf öffentlichen Eigentums an. Dazu zählen die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) mit höchst manipulativen Wort- und Bildkampagnen, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) als eng mit der Politik verflochtenes Netzwerk und die Bertelsmann Stiftung. Diese "Denkfabrik" übt den wohl nachhaltigsten Einfluss in Richtung "Vermarktlichung" auf die deutsche Politik aus.

Dieses Buch ist geprägt von Kritik an Privatisierungen, denn meines Erachtens können Privatisierungen mit einer einfachen Grundformel beschrieben werden: Mit der Überführung staatlichen Eigentums in privates Eigentum vollzieht sich die "Vermarktlichung" der öffentlichen Daseinsvorsorge. Ohne Lobbyismus ist dies nicht denkbar, vor allem nicht im Bildungs-, im Finanz-, im Gesundheits- und im Sicherheitssektor. Gerade in diesen Politikfeldern stehen Lobbyisten die Türen zu den politischen Stellwerken teils sperrangelweit offen. Privatwirtschaftliche Interessen erhalten darüber hinaus durch "janusköpfige" Parlamentarier Einzug in die Plenarsäle: Zahlreiche ranghohe Politiker werden nach ihrem Mandat durch die lobbyistische Drehtür auf lukrative Posten in der Privatwirtschaft befördert oder gehen - Peer Steinbrück (SPD) stellt da keine Ausnahme dar - schon während ihrer aktiven Zeit als Mandatsträger zeitintensiven "Nebentätigkeiten" in der Wirtschaft nach.

Lobbyismus kennt darüber hinaus gerade in "privatisierungsanfälligen" Bereichen verborgene Wege, was in Gestalt des "Deep Lobbying" als besonders subtiler Form der Einflussnahme offenkundig wird: Dazu zählt, dass das Formulieren von Gesetzestexten an Anwaltskanzleien ausgelagert wird. Darunter fällt auch die Platzierung von "Leihbeamten" in Ministerien. Als neue Spielart des informationellen Inputs hat in den vergangenen Jahren die "wissenschaftliche" Politikberatung an Bedeutung gewonnen. Durch Studien aus den Federn von Sachverständigenräten, Beiräten, Expertenkommissionen, Hochschulen, Stiftungen und Think Tanks werden Privatisierungsvorhaben auf ein vermeintlich belastbares Fundament gestellt, obwohl diese "Politikberatung auf Weisung" wissenschaftlichen Gütekriterien häufig nicht genügt.

Die Ausführungen im vorliegenden Buch illustrieren besonders eindrückliche Fallbeispiele und spitzen Thesen unter weitreichender Ausblendung der betriebswirtschaftlich womöglich positiven Dimensionen von Privatisierungen zu - stets getragen von der Überzeugung, dass in den vergangenen Jahren zu viele Gewinne privatisiert und zu viele Verluste sozialisiert wurden. Aber dies ist nicht die einzige negative Auswirkung der Privatisierungspolitik: Soll unsere Gesellschaft nicht von einer auf Ellenbogenmentalität fußenden Individualisierung erfasst werden, in der jeder allein seines eigenen Glückes Schmied ist, muss die "Verbetriebswirtschaftlichung" der öffentlichen Daseinsvorsorge ein Ende finden.

Insofern soll dieses Buch einen "Weckruf" darstellen. Es richtet sich nicht nur an all jene, die ohnehin an wirtschafts- und sozialpolitischen Debatten interessiert sind, sondern auch an diejenigen, die sich zunächst einmal nur sorgen - um ihre Sportstätten und Kultureinrichtungen vor Ort, um das berufliche Schicksal der Paketboten und Bahnschaffner, um ihre Gesundheitsversorgung und ihre Rente oder um die Bildung ihrer Kinder. Der Verkauf öffentlichen Eigentums betrifft vorrangig Personenkreise ohne politische Lobby, die für eine boomende Wirtschaft nur von geringer Bedeutung sind oder eine sehr heterogene Wählerschaft bilden (zum Beispiel Schüler und Studierende, Erwerbslose, einkommensschwache Familien oder Menschen mit Behinderungen). Aber wir sollten alle wachsam sein, wenn die Gewinn- an die Stelle der Gemeinwohlorientierung tritt - jedenfalls dann, wenn wir nicht in einer Gesellschaft leben wollen, die von allem den Preis, aber von nichts mehr den Wert kennt.

Frankfurt a.?M., im Spätsommer 2016

Tim Engartner

Ein lukrativer Markt: das Bildungssystem

Das Land der Dichter und Denker droht zum Staat der Stifter und Schenker zu werden - und damit Bildung zur Ware: Immer häufiger übernehmen private Nachhilfeanbieter wie Schülerhilfe, Studienkreis, abiturma oder der zur Zeit-Verlagsgruppe zählende Schülercampus die Schulbildung nach Schulschluss, die Anbieter von Sprachreisen und Weiterbildungskursen wachsen rasant.

Aber in jüngerer Zeit greifen betriebswirtschaftliche Steuerungsmuster auch in einst ausschließlich staatlich verantworteten Bereichen des Bildungssystems Raum. Eine stetig wachsende Zahl an Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen wird nicht mehr ausschließlich aus öffentlichen, sondern auch aus privaten Mitteln finanziert. So öffnete in Deutschland zeitweilig jede zweite Woche eine neue Privatschule ihre Pforten. Und staatliche Hochschulen sind dem Wettbewerb nicht nur ausgesetzt, wenn sie mit der Fernhochschule AKAD, der Hochschule für Oekonomie und Management (FOM), der Hochschule Fresenius oder einer der anderen rund 100 Hochschulen in privater Trägerschaft um Studierende buhlen. Längst konkurrieren sie auch untereinander um Hunderte von Millionen Euro an Drittmitteln aus der Privatwirtschaft.

Problematisch ist die Privatisierung von Bildung nicht zuletzt deshalb, weil sie der Fokussierung auf ökonomisch verwertbares Wissen Vorschub leistet. Experten warnen davor, Bildung im Zeitalter von PISA und Bologna nur an unmittelbar ökonomisch nutzbaren Fachkompetenzen zu messen; sie sehen in den Bildungsreformen nach PISA-Maßstäben "die Reduktion des Lernens auf Wissen und seine Verwertbarkeit, sie sehen Ökonomisierung von Bildung statt freier Menschenbildung, Selektion als Prinzip statt individueller Förderung" (Tenorth 2013). Ob PISA-Ergebnisse deutscher Schüler oder Gewaltexzesse an der Berliner Rütli-Schule - den materiellen und reputativen Schaden, der mit jedem Staatsschulskandal unweigerlich entsteht, deuten sie nicht als Folge einer verfehlten Sparpolitik, sondern als Beleg für die Unzulänglichkeit staatlicher Bildungseinrichtungen schlechthin. Eltern, die es sich leisten können, reagieren auf Berichte über Mängel an öffentlichen Schulen mit der Bereitschaft zum Zahlen: "Wer alles Mögliche für den Bildungsaufstieg seiner Kinder tun möchte, der wird bei jedem Bericht über katastrophale Zustände an öffentlichen Schulen bereit sein, ein Stück tiefer in die eigene Tasche zu greifen" (Knobloch 2006). Wenn also im Zentrum der Bildungsprozesse nicht die freie Entfaltung der Begabungen und Interessen des Einzelnen steht, sondern die Anwendbarkeit des Gelernten in der Wirtschaft, so dürften die Privatisierungsbefürworter dies durchaus als Erfolg verbuchen.

Wie weit der unternehmerische Einfluss im Bildungssektor gediehen ist, lässt sich u.?a. daran ablesen, dass durch die von den Kultusministerien ausgegebene Losung der "Öffnung von Schule" privat-öffentliche "Bildungs- und Lernpartnerschaften" historische Ausmaße erreicht haben. So ergab die Befragung der Schulleitungen im Rahmen der PISA-Studie 2006, dass mehr als 87 Prozent der 15-Jährigen hierzulande eine Schule besuchen, an der Wirtschaft und Industrie Einfluss auf die Lehrinhalte nehmen (OECD 2007, 293). Das stellt selbst im OECD-Vergleich einen Rekord dar.

Dabei beschränkt sich der Einfluss von Unternehmen wie BASF und Bayer oder Deutscher Bank und Deutscher Börse im Bildungssektor nicht nur auf Geld- und Sachspenden. Längst produziert und verbreitet die Privatwirtschaft Unterrichtsmaterialien, um sich Zugang zu Schulen zu verschaffen und dort die Vor- und Einstellungen Heranwachsender zu prägen. Weiß man, dass bei Kindern nur ein Viertel des bei Erwachsenen zu veranschlagenden Budgets aufgewandt werden muss, um denselben Werbeeffekt zu erzielen, lässt sich leicht erklären, weshalb 16 der 20 umsatzstärksten deutschen Unternehmen kostenlose Unterrichtsmaterialien mit Firmenlogos anbieten, vom Versicherungskonzern Allianz über die Commerzbank und die Deutsche Telekom bis hin zu den Automobilkonzernen Volkswagen und Daimler.

Sogar Schulgebäude fallen mehr und mehr in die Hände privater Betreiber: Öffentlich-private Partnerschaft lautet auch in diesem einst originär staatlichen Bereich die vermeintliche Zauberformel. Privatunternehmen bauen, renovieren und betreiben Schulen, werden mitunter also sogar mit der Einstellung von Hausmeistern und Reinigungspersonal betraut. So schloss die Stadt Monheim im Januar 2004 einen auf 25 Jahre angelegten ÖPP-Vertrag mit der Hermann Kirchner Projektgesellschaft, der sowohl die Finanzierung als auch die Realisierung aller Sanierungs- und Neubauvorhaben in städtischen Schulgebäuden sowie in sämtlichen Sport- und Turnhallen vorsieht. Anfänglich war in Monheim das private Dienstleistungsunternehmen Serco beteiligt, das über eine Tochtergesellschaft u.?a. die Justizvollzugsanstalt Hünfeld betreibt und bis 2008 in der Altmark das modernste Gefechtsübungszentrum der Bundeswehr betrieb.

In Großbritannien bietet Serco neben Leistungen in der Lehrerausbildung (initial teacher training) bereits ein "Allround-Programm" für Schulen an - neben administrativen Aufgaben und dem Finanzmanagement übernimmt es das Festlegen von Bildungsstandards sowie das Messen von Schülerleistungen. Die Tatsache, dass der britische Pionier Serco Konkurrenz von der deutschen Bertelsmann-Tochter Arvato bekommt, die in Großbritannien die Verwaltung der Gemeinde Chesterfield Borough übernommen hat, sollte uns aufhorchen lassen (Arvato 2011).

Und auch wenn seit dem Wintersemester 2014/15 bundesweit keine Studiengebühren mehr erhoben werden, ist der Trend zur "Vermarktlichung" auch an den Hochschulen zu spüren. Wenn (Hoch-)Schulen im Zeitalter des "akademischen Kapitalismus" (Münch 2011) jedoch zu "Wirtschaftsbetrieben" degenerieren, ändert sich auch ihre Ausrichtung: "Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene (werden) nicht mehr um ihrer selbst willen gebildet und erzogen, sondern weil der Wirtschaftsapparat Absolventen mit bestimmten Qualifikationen fordert" (Krautz 2014, 99). Werden Menschen nur noch als ökonomisch interessante Größen wahrgenommen, steht der 2004 zum Unwort des Jahres gekürte Begriff "Humankapital" im Raum. Und erst recht wenn betriebswirtschaftliche Fachtermini wie Human-Capital- oder Human-Asset-Management in Bildungskontexte Eingang finden, sollte uns die Ökonomisierung von Bildung endgültig Sorgen bereiten.

Kinder als Kunden: Krippen, Kitas und Kindergärten

Die Privatisierungswelle hat längst unsere Kleinsten erfasst: Mit der zum 1. August 2013 in Kraft getretenen familienpolitischen Neuerung, wonach jedes Kind ab dem vollendeten ersten Lebensjahr einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz hat, greifen private Akteure nun auch bei diesen Einrichtungen zu. So wurde mit dem an sich begrüßenswerten Rechtsanspruch der Startschuss für eine exzessive Ausweitung des Angebots durch private Träger gegeben: Da das Angebot an öffentlichen Kita-Plätzen der Nachfrage in vielen Kommunen nicht ansatzweise gerecht wird, kompensieren immer mehr private Anbieter den Mangel an öffentlichen Betreuungsplätzen. Angesichts der beträchtlichen Chancen auf dem frühkindlichen "Bildungsmarkt" investieren gewerbliche Anbieter verstärkt in frühkindliche Bildung, wobei die Angebote häufig auf Bilingualität, Exklusivität und Professionalität zielen - und damit dem bei immer mehr Eltern zum Ausdruck kommenden besonderen Förderbedürfnis ihrer Kinder Rechnung tragen. So lernen bereits die Kleinsten in privaten Kindertagesstätten Englisch, Französisch oder Mandarin, erhalten über Experimente einen Zugang zu naturwissenschaftlichen Phänomenen und werden somit vermeintlich (!) optimal auf ihre Schullaufbahn und das spätere Berufsleben vorbereitet: "Um die wissenschaftlich erwiesene besondere Aufnahmefähigkeit von Ein- bis Dreijährigen professionell zu nutzen, werden die Kleinen in Lerneinheiten, die an gymnasiale Stundenpläne erinnern, in die Grundlagen etwa der Rhetorik, Ökonomie, Geometrie, Mathematik und Astronomie eingeführt" (Jäckel 2010, 308).

Des Weiteren werden sie umfassend betreut, was vor allem berufstätige Eltern anspricht, die sich die Rundumbetreuung und Bildung ihrer Kinder teilweise bis zu 1.700 Euro pro Monat kosten lassen, wie zum Beispiel in der zur Klett-Gruppe zählenden Kita-Kette Villa Luna (Miklis 2012). Diese besonders edlen Kindertagesstätten halten in Aachen, Berlin, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hamburg, Hannover, Köln und Prag für Kinder im Alter von vier Monaten bis sechs Jahren neben einer individuellen und bilingualen Betreuung musische und naturwissenschaftliche Förderangebote vor. Stecken die Eltern in einem Geschäftstermin fest, genügt ein Anruf und der Nachwuchs kann bis 22:00 Uhr in der Edel-Kita bleiben. Abgerundet wird der "Open-End-Service" durch das Angebot, dass die Villa Luna bei Bedarf ihre Pforten auch am Wochenende öffnet. Aber auch in Montessori-Einrichtungen sind Beiträge von 700 Euro durchaus üblich. Zusätzlich werden immer mehr Kurse angeboten, in denen Kleinkinder noch neben der Kita speziell gefördert werden sollen: So etwa bieten die weltweit zu findenden Helen-Doron-Kitas Englischkurse für Babys ab drei Monaten an. In Deutschland werden inzwischen 60 Prozent aller Kinderbetreuungseinrichtungen von Kirchen, Wohlfahrtsverbänden oder gemeinnützigen Vereinen verantwortet, rund ein Drittel läuft in kommunaler Regie und ca. zehn Prozent waren laut Aussage des Bundesfamilienministeriums bereits vor einigen Jahren in gewerblicher Hand (GEW 2009, 12?f.).


Tim Engartner ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Direktor der Akademie für Bildungsforschung und Lehrerbildung. Er veröffentlicht regelmäßig Artikel in Tages- und Wochenzeitungen (ZEIT, FAZ, FR, taz, Freitag, SZ).


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