Rauschenberger | Rückkehr in Feindesland? | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 237 Seiten

Reihe: Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust

Rauschenberger Rückkehr in Feindesland?

Fritz Bauer in der deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte

E-Book, Deutsch, 237 Seiten

Reihe: Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust

ISBN: 978-3-593-42118-6
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Als "Feindesland" soll Fritz Bauer die Welt außerhalb seines Büros bezeichnet haben. Der bedeutende Jurist und jüdische Remigrant hat im Nachkriegsdeutschland für seine Aufklärungsarbeit über die NS-Verbrechen sehr viel Ablehnung erfahren. Selten sind seine juristische Arbeit und sein politisches Handeln jedoch mit seiner jüdischen Biografie in Zusammenhang gebracht worden. Diese zeigt, dass es im Umfeld Bauers eine ganze Reihe jüdischer Juristen, Historiker und Vertreter von Interessenverbänden gab, die ihn unterstützten. Typisch für ihre und Fritz Bauers Situation in der Nachkriegszeit war, dass sie als Juden wahrgenommen wurden - unabhängig davon, ob sie sich selbst als solche sahen. Dieser Band schildert ihre Erfahrungen, die politischen und theoretischen Debatten, mit denen sie konfrontiert wurden, sowie die Institutionen, mit denen sie arbeiteten. Er charakterisiert die jüdische Geschichte im Land der Täter, in dem der erhoffte radikale Neubeginn sich als Illusion erwies.
Rauschenberger Rückkehr in Feindesland? jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Inhalt

Vorwort7

Fritz Bauer unter jüdischen Remigranten

Liliane Weissberg
Rückkehr im Widerstand15

Katharina Rauschenberger
Recht schaffen und politisch handeln
Fritz Bauer und Henry Ormond - ein Vergleich 39

Katharina Stengel
Die schwierige Rolle der Verfolgten in den NS-Prozessen
H.G. Adler und Hermann Langbein65

Klaus Kempter
Zur Institutionalisierung der Holocaustforschung
Joseph Wulf und das Internationale Dokumentationszentrum zur Erforschung des Nationalsozialismus85

Detlev Claussen
Unter uns
Die Remigranten Fritz Bauer, Max Horkheimer und
Theodor W. Adorno treffen sich in Frankfurt107

Mittler oder Einzelkämpfer?

Ronen Steinke
Der Vorwurf der Befangenheit
Fritz Bauer in den Interview-Affären 1963 und 1965121

Volker Rieß
Fritz Bauer und die Zentrale Stelle
Personen zwischen Konsens und Dissens131

Zwischen Theorie und Rechtsanwendung

Lena Foljanty
Eine sehr politische Hoffnung
Zum Rechtsdenken Fritz Bauers im Kontext seiner Zeit 153

Vasco Reuss
"Ihr hättet Nein sagen müssen"
Fritz Bauers Widerstandsgebot und das moderne Völkerstrafrecht173

Werner Päckert
Fritz Bauer und die Reform des Strafvollzugs203

Persönliche Begegnungen

Cilly Kugelmann
Fritz Bauer hinter dem Schwimmbad??217

Interview mit Generalstaatsanwalt Dr. Bauer223

Nele Löw-Beer
Fritz Bauer und Helga Einsele - eine Freundschaft227

Personenverzeichnis231

Autorinnen und Autoren235


Nach einem Artikel in der Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland sprach Bauer vom Widerstand. Das hatte er schon öfter zuvor getan: Seit dem Prozess gegen den ehemaligen Generalmajor Otto Ernst Remer im Jahr 1952 am Landgericht Braunschweig entwickelte Bauer seine Theorie vom Widerstandsrecht eines jeden gegen ein bestehendes Unrecht auch in Fällen, in denen das Unrecht durch rechtliche Grundlagen legitimiert zu sein scheint. Ging es 1952 um die Rehabilitierung der Attentäter des 20. Juli, konnten diese 1964 bei der Würdigung der Widerstandskämpfer im Warschauer Ghetto nicht als Vorbilder dienen. Bauer entwarf hier widerständiges Handeln als ein Grundprinzip jüdischer Geschichte.
Sein erster Bezug galt dem Buch Rut. Darin wird die Geschichte der Moabiterin Rut und ihrer Schwiegermutter Noomi erzählt. Nach dem Tod ihres Ehemannes folgt Rut ihrer Schwiegermutter zurück nach Bethlehem in Juda und setzt es durch, von den Juden in deren Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Sie heiratet dort zum zweiten Mal und wird so eine Vorfahrin von König David. Bauer zog auch den Propheten Jeremias als Beispiel jüdischen Widerstands heran. Jeremias stellte sich gegen die Mehrheit des jüdischen Volkes, warnte vor dem Untergang Jerusalems, ermutigte die Juden, unbequem zu sein, und geriet selbst um der Wahrheit willen ins Abseits. Bauer sprach von der Standhaftigkeit der Juden angesichts des Befehls Nebukadnezars, die Götzen anzubeten. Er zitierte Flavius Josephus und verwies auf die Tapferkeit der Juden im Kampf gegen die römische Übermacht. Kurz, er zeichnete das jüdische Leben in seiner Rede als eines "in einer permanenten Widerstandshandlung gegen alles Unzulängliche".
Man vergegenwärtige sich die Situation: Während einer Gedenkfeier mit Überlebenden des Holocaust und im Beisein von lokalen Politikern und Vertretern der Bundesregierung wählte Bauer Bilder von den Juden als der herrschenden Gemeinschaft, die Milde gegen Neumitglieder walten lassen solle. Wäre dies nicht eher eine Botschaft für die nichtjüdische deutsche Mehrheit gewesen, die keine zwanzig Jahre zuvor ganz offen die Juden ausgeschlossen hatte? Innerhalb der eigenen Gruppe, so Bauer, sollten die Juden für Wahrheit und den gottgefälligen Weg streiten. Wie Jeremias dürften sie dabei keine Rücksicht nehmen auf die möglicherweise damit einhergehende eigene Isolation. Judentum bedeute eine immerwährende Aufmerksamkeit und Bereitschaft zum Widerstand gegen das Unrecht. Der Bauer nach seiner Ansprache zuteilwerdende "überaus starke Beifall" als "Dank für die temperamentvollen, aufklärenden Worte" macht stutzig. Was genau begeisterte seine Zuhörer? War es die Rolle, die Bauer darin der jüdischen Gemeinschaft zugedacht hatte? Wie sah sie aus?
Nach innen streng, nach außen milde, aber immer in der Sonderrolle der Widerständigen - war das die für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland in den sechziger Jahren gültige Botschaft Bauers? In dieser Allgemeinheit sind die Prinzipien der Toleranz, der Wachsamkeit, des Mutes, der Rechtschaffenheit Werte, die man sich für alle Gemeinschaften wünscht. Bauer ermöglichte mit seinen Worten eine Vermischung der Gemeinschaften von Deutschen und Juden zu einem gemeinsamen "Wir", das sich nach innen wie nach außen demokratiebereit und widerständig gegen das Unrecht zeigen müsse und das den Juden eine tragende Rolle dabei zumaß. Dieses "Wir" ist es, was uns in den folgenden Aufsätzen immer wieder beschäftigt.
Einigen Freunden gegenüber hat Fritz Bauer in den sechziger Jahren wiederholt die Bemerkung geäußert, wenn er sein Büro verlasse, betrete er feindliches Ausland. Auf der Tagung des Fritz Bauer Instituts im Oktober 2012, die die Grundlage für dieses Jahrbuch bildete, kreiste die Diskussion immer wieder um die Fragen seines Scheiterns und seiner Isoliertheit. Die Beiträge des vorliegenden Bandes nun sollen helfen, darüber mehr Klarheit zu bekommen. War Bauer in seinen politischen Zielen und Kämpfen isoliert? Wer waren seine Kombattanten? Wie sahen ihre Handlungsmöglichkeiten aus, wie ihre politischen Absichten? Welche Bezüge stellte Bauer in seinem theoretischen Denken her, welche Wirkung zeitigte er? In welchem Maß waren Bauers Erfahrungen die allgemeinen der jüdischen Remigranten in Deutschland?
Der erste Abschnitt des Bandes behandelt die Beziehungen Fritz Bauers zu anderen jüdischen Remigranten der Nachkriegszeit. Liliane Weissberg beschäftigt sich in ihrem Beitrag eingehend mit dem von Bauer in vielen Situationen zitierten Satz "Was Du nicht willst, dass man Dir tu', das füg' auch keinem andern zu", der ihn als Lebensmaxime begleitete. Sie zeigt, wie Bauer diesen Leitspruch auf einen jüdischen Ursprung zurückführte und sich damit seinen eigenen Bezug zum Judentum schuf. Die zahlreichen theologischen, literarischen und philosophischen Zitate in Bauers Texten markierten die Verwurzelung seines Denkens in der deutschen Bildung, im Naturrecht, im Neuen wie im Alten Testament. Mit seiner juristischen und politischen Arbeit sei er im Nachkriegsdeutschland in die Rolle des Einzelgängers geraten - und dies trotz zahlreicher Kontakte und Freundschaften in der intellektuellen Szene Frankfurts. Katharina Rauschenberger vergleicht in ihrem Aufsatz die Biographien und politischen Ansichten Fritz Bauers und Henry Ormonds. Die beiden jüdischen Juristen waren nach ihrer Rückkehr zwar in ähnlichen Feldern aktiv, hatten jedoch ein unterschiedliches Verhältnis zu Deutschland. Katharina Stengel untersucht, in welcher Weise sich Fritz Bauer, Hermann Langbein und H.G. Adler zu ihrer Rolle als Überlebende und Opfer des Nationalsozialismus verhielten. Bemüht, NS-Verbrecher ausfindig zu machen und ihrem gerechten Urteil zuzuführen, sammelten sie unermüdlich Beweise und suchten nach Zeugen. Konflikte entstanden um die Einflussmöglichkeiten der Überlebenden auf die NS-Prozesse selbst, die auch Fritz Bauer beschränkt sehen wollte. Klaus Kempter schildert in seinem Beitrag die Geschichte des "Internationalen Dokumentationszentrums zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen" - ein Projekt des Holocaust-Überlebenden und autodidaktischen Historikers Joseph Wulf, das schließlich scheiterte. Kempter führt aus, dass Wulf, Bauer sowie alle anderen Personen, die sich für die Aufarbeitung der NS-Verbrechen einsetzten, Einzelkämpfer waren, deren Verbindung untereinander immer bloß punktuell, auf einen bestimmten Zweck gerichtet gewesen sei. Detlev Claussen zeichnet Fritz Bauer in seinem Beitrag als Mitglied der Gruppe von jüdischen Intellektuellen um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Claussen begreift das "Wir" der Remigranten als eines, das durch die Erfahrung des Exils, aber auch durch die intellektuelle Anstrengung begründet war, das Geschehene, das Menschheitsverbrechen, analytisch zu erfassen. Diese Gruppe, so wird deutlich, war in besonderer Weise mit der Stadt Frankfurt verbunden und konnte hier Tradition bilden.
Zwei Beiträge gehen der Frage nach, in welcher Weise Fritz Bauer außerhalb des "Wir" der jüdischen Remigranten wahrgenommen wurde und agierte. Ronen Steinke beschäftigt sich mit den schweren Anschuldigungen, die gegen Bauer während der Interview-Affären 1963 und 1965 erhoben wurden - Bauer hatte die Deutschen gegenüber ausländischen Zeitungen kritisiert. Man schloss den nonkonformen jüdischen Generalstaatsanwalt von der "Wir"-Gruppe der Deutschen aus und warf ihm vor, als ehemaliger Verfolgter in den Strafprozessen gegen NS-Verbrecher befangen zu sein. Nur von dieser Außenseiterposition aus habe er die Deutschen derart kritisieren können. Volker Rieß dagegen zeichnet Bauers Kooperationsbereitschaft als hessischer Generalstaatsanwalt gegenüber der "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg akribisch nach. Dabei kommt er zu der Einschätzung, dass Bauer zumindest bis 1961 eng und vertrauensvoll mit Erwin Schüle, dem Leiter der Zentralen Stelle, zusammengearbeitet hat - obwohl er von Schüles NSDAP-Mitgliedschaft wusste. Und nicht nur das: Bauer scheint nach den Recherchen von Rieß als Mittler zwischen den israelischen Behörden, insbesondere dem Leiter der "Israel Mission" in Köln, Felix Shinnar, und der Zentralen Stelle fungiert zu haben.
Der dritte Teil des Bandes ist den theoretischen und rechtspraktischen Vorstellungen Fritz Bauers gewidmet. Lena Foljanty analysiert Bauers rechtstheoretische Schriften im Zusammenhang mit den rechtsphilosophischen Debatten der fünfziger Jahre. Der Begriff des Naturrechts ist dabei ein entscheidender, an ihm schied sich die Jurisprudenz. Bauers Beitrag beschreibt Foljanty als einen heterogenen: Einerseits maß er dem Naturrecht eine große Bedeutung für die Verankerung des Rechts in übergeordneten Werten bei; andererseits war "Naturrecht" bei Bauer nichts objektiv Gültiges, sondern genuin politisch, als Gegenstand von Widerstreit und Kämpfen musste es demokratisch errungen werden. Vasco Reuss geht in seinem Artikel der für Bauer zentralen Frage eines Widerstandsgebots gegenüber staatlicher Gewalt nach und zeigt, wie Bauers Idee einer Widerstandspflicht in späteren Rechtsauffassungen wiederzufinden ist. Litt Bauers Widerstandsgebot noch unter dem Defizit, das gewaltbereite staatskonforme Verhalten im Nationalsozialismus nicht sanktionieren zu können, weil es keine übergesetzliche Instanz gab, die dies hätte durchsetzen können, trete das moderne Völkerrecht gerade mit diesem Anspruch an und verpflichte die Vertragsstaaten universell zur Einhaltung der Menschenrechte, die auch für Bauer das zentrale zu schützende Rechtsgut darstellten. Werner Päckert spürt in Bauers Ideen zum Strafvollzug den historischen Vorbildern nach und reiht ihn unter die zeitgenössischen Reformer ein, die in den sechziger Jahren für einen humanen Strafvollzug stritten. Waren Sanktionen bis dahin immer nur auf die Schuld des Delinquenten zugeschnitten, sollten sie nun eine Art Hilfestellung werden, die Straftaten gar nicht erst entstehen ließ.
Der letzte Abschnitt gibt Einblick in zwei persönliche Begegnungen mit Fritz Bauer. Cilly Kugelmann erzählt, wie sie 1964 gemeinsam mit Micha Brumlik den hessischen Generalstaatsanwalt zum Auschwitz-Prozess befragte. Sie analysiert, wieso die 17-jährige Anhängerin der Zionistischen Jugend in Deutschland dem Zusammentreffen mit Fritz Bauer so wenig Bedeutung beimaß. Das gesamte Interview ist im Anschluss daran nachzulesen. Abschließend kommentiert Nele Löw-Beer Tagebuchaufzeichnungen ihrer Mutter, Helga Einsele, die diese 1965 und 1968 über Bauer gemacht hat. Darin wird das Bild von der sehr zerbrechlichen Persönlichkeit Fritz Bauers sichtbar.


Katharina Rauschenberger, Dr. phil., ist Programmkoordinatorin im Fritz Bauer Institut und Lehrbeauftragte am Historischen Seminar der Universität Frankfurt am Main.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.