Giesemann | Hungern im Überfluss - Essstörungen in der ambulanten Psychotherapie (Leben Lernen, Bd. 247) | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 247, 272 Seiten

Reihe: Leben Lernen

Giesemann Hungern im Überfluss - Essstörungen in der ambulanten Psychotherapie (Leben Lernen, Bd. 247)

E-Book, Deutsch, Band 247, 272 Seiten

Reihe: Leben Lernen

ISBN: 978-3-608-20037-9
Verlag: Klett-Cotta
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die dargestellten psychotherapeutischen Ansätze
reichen von tiefenpsychologisch fundierter und analytischer Psychotherapie über die Verhaltenstherapie hin zu Interventionen der systemischen Familientherapie und der Hypnotherapie. Ein ausführliches Kapitel ist den Fragen von Anamnese und Differenzialdiagnostik gewidmet.
Oft sind der Hausarzt oder der Gynäkologe die ersten Anlaufstellen für essgestörte PatientInnen und ihre Eltern. Deshalb geben über die somatischen Symptome und deren Behandlung ein Hausarzt und ein Gynäkologe Auskunft. Zur umfassenden Betreuung gehören ausserdem die kompetente Ernährungsberatung sowie ein sicheres Hintergrundwissen, wann eine stationäre Therapie unausweichlich ist und nach welchen Kriterien eine geeignete Klinik ausgewählt wird. Den Abschluss des Buches bildet ein Beitrag zur frühkindlichen Fütterstörung, welcher Bezüge zu einer möglichen späteren Essstörung erhellt.

- Erstes Buch zum Thema für die ambulante Psychotherapie
- Elf Experten schildern ihre Erfahrungen aus elf Perspektiven

Dieses Buch richtet sich an:

- Alle, die mit essgestörten PatientInnen arbeiten: Psychotherapeutisch arbeitende Psychologen, ÄrztInnen und Sozialpädagogen
- somatisch arbeitende ÄrztInnen: Hausärzte, Kinderärzte, Internisten, Gynäkologen
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Zielgruppe


Alle, die mit essgestörten PatientInnen arbeiten: Psychotherapeutisch arbeitende Psychologen, ÄrztInnen und Sozialpädagogen; somatisch arbeitende ÄrztInnen: Hausärzte, Kinderärzte, Internisten, Gynäkologen


Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Einleitung (Katherina Giesemann) 7I. Psychotherapeutische Ansätze 11Psychodynamische Psychotherapie bei
psychogenen Essstörungen 13
Katherina GiesemannAutonomieentwicklung und Essstörung 51
Christiane von MetzlerDie kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung der Essstörung 67
Andreas Schnebel und Eva WundererWenn Familie Suppenkaspar zur Therapie ginge 90
Claudia Starke, unter Mitarbeit von Thomas HessTechniken aus der Hypnotherapie und aus dem EMDR zur Modifizierung des Körper-Selbstbildes 117
Hellmuth SchukallI. Anamnese und Differenzialdiagnosik 127Anamnese, Befund und Diagnose bei Essstörungen – differenzialdiagnostische Aspekte 129
Annette Imann-SteinhauerIII. Ärztliche Versorgung und Beratung 157Essstörungen in der hausärztlichen Praxis 159
Joachim StrüngmannGynäkologische und sexualmedizinische Aspekte
bei Essstörungen 190
Gerhard HaselbacherVon der ambulanten zur stationären Behandlung 211
Elisabeth RauhErnährungstherapie 226
Vera BaumerFütterstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter 244
Margret ZieglerAnhang: Klinisch-diagnostische Leitlinien aus dem ICD-10 268Die Autoren 270


Einleitung
Katherina Giesemann

Durch die langjährige psychotherapeutische Arbeit mit essgestörten
Patientinnen wurde mir deutlich, wie notwendig die unterschiedlichen
Behandlungsmöglichkeiten und -ansätze sind. Nur diese Vielfalt ermöglicht es
uns, den betroffenen Menschen adäquat und individuell zu helfen. Der Austausch
über konkrete Behandlungsmöglichkeiten ist deshalb wichtig und bereichert die
eigene Arbeit. Es sind keineswegs nur Psychotherapeuten und
Psychotherapeutinnen, die Essstörungen behandeln, sondern auch Hausärzte,
Internisten, Gynäkologen, Kinderärzte und Dermatologen – um nur einige der
somatischen Fachdisziplinen zu nennen. Außerdem kommen Pädagogen und viele
andere Berufsgruppen, die mit Jugendlichen arbeiten, mit den Symptomen und
Auswirkungen von gestörtem Essverhalten in Berührung. Das Buch ist aus dem
Bedürfnis heraus entstanden, den Erfahrungsaustausch zwischen den Behandelnden
anzuregen und zu verbessern, um so essgestörten Patientinnen noch effektivere
Unterstützung bieten zu können. Es versteht sich als Arbeitsbuch von ambulant
arbeitenden Ärzten, Psychologen, und Sozialpädagogen für ambulant tätige
Kollegen und Kolleginnen, die in der Praxis auf verschiedene Weise psychogenen
Essstörungen begegnen. Die Autoren gewähren Einblick in ihre 'Werkstatt' und
zeigen an konkreten Fallbeispielen, wie sie psychogene Essstörungen therapieren.
Die Betrachtung der Erkrankung aus verschiedenen Perspektiven ist als Anregung
und Ergänzung in der ambulanten Therapiearbeit gedacht und soll helfen, das
Verständnis für die Abläufe und die Komplexität der Symptomatik zu
erweitern.

Im ersten Teil des Buches werden fünf verschiedene ambulante
psychotherapeutische Behandlungsansätze und -verläufe geschildert.
Das erste
Kapitel (Katherina Giesemann) beschreibt die Behandlungstechnik der
psychodynamischen Psychotherapieverfahren. Ausführlich wird das Erstgespräch,
die Einleitungsphase sowie Behand lungsprobleme bei Patientinnen mit
Essstörungen und einer Borderline- oder narzisstischen Persönlichkeitsstruktur
behandelt. Die Not wendigkeit der biografischen Anamnese ebenso wie die
Verwendung von Essprotokollen wird dabei nicht nur unter diagnostischen
Gesichtspunkten gesehen, sondern als Teil des therapeutischen Prozesses. Es
folgt die Vorstellung einer niederfrequenten analytischen Langzeitpsychotherapie
bei einer Patientin mit gering integriertem Strukturniveau. Bei dieser
Behandlungsvignette, verfasst von Christiane von Metzler, wird die Bedeutung
längerfristiger psychotherapeutischer Begleitung und des flexiblen Umgangs mit
dem therapeutischen Setting deutlich.
Im dritten Kapitel stellen Andreas
Schnebel und Eva Wunderer verhaltenstherapeutische Interventionsmöglichkeiten
vor. Diese beschränken sich längst nicht mehr nur auf die Veränderungen des
Essverhaltens, sondern beziehen den Lebenskontext, die Ressourcen und vor allen
Dingen die gedanklichen Prozesse von Patient und Therapeut mit ein.
Claudia
Starke beschäftigt sich in ihrem Kapitel mit der systemischen Familientherapie.
Die bekannte Geschichte 'Der Suppenkaspar' liefert den 'roten Faden' für den
möglichen Ablauf einer Essstörung und die Interventionen im Rahmen einer
familientherapeutischen Behandlung.
Das letzte Kapitel des ersten
Buchabschnittes beschreibt die Behandlung einer atypischen Essstörung. Hellmuth
Schuckall zeigt, wie passive und aktive hypnotherapeutische Imaginationen und
die Absorbtionstechnik des EMDR (Traumatherapie) zur positiven Modifizierung des
Körper-Selbstbildes beitragen können.
Insgesamt zeigen die fünf hier
angeführten psychotherapeutischen Behandlungsbeispiele einen Ausschnitt der
vielfältigen ambulanten Behandlungsmöglichkeiten.
Im zweiten Teil des Buches
werden die Anamnese, der psychische Befund und differentialdiagnostische
Überlegungen bei Essstörungen schulenübergreifend behandelt. Frau Annette
Imann-Steinhauer verdeutlicht sehr anschaulich, dass eine sorgfältige
Diagnosestellung nicht nur bei der Planung und der Durchführung der Behandlung
hilft, sondern als relationaler Prozess auch Ausdruck der therapeutischen
Beziehung und damit ein therapeutischer Wirkfaktor ist.
Im letzten Abschnitt
des Buches werden schließlich wichtige Bereiche der somatischen Medizin, die
Schnittstelle zwischen Klinik und ambulanter Praxis sowie die Ernährungsberatung
und die frühkindlichen Fütterstörungen behandelt.
Joachim Strüngmann,
Allgemeinmediziner, stellt in Kapitel sieben ausführlich und aus eigener
Erfahrung dar, welch wichtige Funktion der Hausarzt für Menschen mit
Essstörungen hat. Er ist meist der erste Ansprechpartner. Seinem
Einfühlungsvermögen und seinen somatischen Kenntnissen über die körperlichen
Auswirkungen der Essstörung ist es zu verdanken, wenn die Betroffenen schnell
eine adäquate Behandlung erhalten. Da überwiegend Frauen an einer Essstörung
leiden, ist auch der Gynäkologe, häufig mit diesem Krankheitsbild konfrontiert.
Im achten Kapitel werden deshalb von Gerhard Haselbacher sehr konkrete
Hilfestellungen gegeben, wie das Thema Essstörung auch in der gynäkologischen
Praxis angesprochen und behandelt werden kann.
Oft reicht eine ambulante
Therapie nicht aus, und eine stationäre Behandlung wird notwendig. Damit der
Übergang von ambulanter zu stationärer Behandlung und die dann sinnvolle weitere
ambulante Behandlung fließend und erfolgreich ist, bedarf es einer guten Planung
und Vorbereitung. Im Kapitel 'Von der ambulanten zur stationären Behandlung'
beschreibt Elisabeth Rauh die Indikationen für einen stationären Aufenthalt und
gibt Entscheidungshilfen für die Auswahl einer geeigneten stationären
Einrichtung und für die Vorbereitungen, die in der ambulanten Psychotherapie für
einen stationären Aufenthalt getroffen werden sollten.
Für viele Patienten
ist die Ernährungsberatung ein wichtiges Element ihrer Auseinandersetzung mit
dem eigenen Essverhalten. Die Diätassistentin Vera Baumer schildert, wie
Ernährungsberatung Patienten und Patientinnen darin unterstützen kann, ihr
Essverhalten eigenverantwortlich zu gestalten.
Das letzte Kapitel dieses
Buches schließlich beschäftigt sich mit Fütterstörungen bei Säuglingen und
Kleinkindern. Fütterstörungen gelten als erheblicher Risikofaktor für die
Entwicklung einer Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa. In der ambulanten
Psychotherapie werden daher aus der Anamnese der Patienten Rückschlüsse auf ihre
früh kindliche Entwicklung gezogen, um zu verstehen, warum für die Lösung ihrer
psychischen Konflikte das Essen die zentrale Rolle spielt. Das letzte Kapitel
führt uns an den Beginn der Beziehung zur Nahrung und damit zugleich zur
Beziehung von Mutter und Kind. Die von Margret Ziegler einfühlsam geschilderten
Fallvignetten zeigen, wie leidvoll für Kinder und ihre Mütter die nicht
geglückte Kontaktaufnahme ist.
Vorangeschickt sei noch eine Anmerkung zum
Gebrauch der männlichen und weiblichen Form bei Worten wie Patient, Patientin,
Therapeutin, Therapeut. Wir haben uns entschlossen, in diesen Fällen die
männliche und die weibliche Form abwechselnd zu verwenden, um den Lesefluss
nicht zu stören und die reale Situation in der Therapie dennoch abzubilden.
Patientin wird deshalb häufiger gebraucht werden als Patient. Ansonsten gilt
eine möglichst paritätische Lösung.

I. Psychotherapeutische Ansätze
Psychodynamische Psychotherapie bei
psychogenen Essstörungen
Katherina Giesemann

Einleitung

Das folgende Kapitel stellt Behandlungsmöglichkeiten von psychogenen
Essstörungen mit psychodynamischen Therapieverfahren vor. Es ist gedacht als
Anregung und Ergänzung zu den vom Leser bevorzugten theoretischen Konzepten.
Aspekte des Erstgesprächs, der Vorgespräche, der Therapieplanung und des
konkreten therapeutischen Vorgehens werden anhand von Fallbeispielen und
theoretischen Überlegungen veranschaulicht.

Da sich das Syndrom 'gestörtes Essverhalten' bei unterschiedlichen
psychischen Erkrankungen und Strukturen entwickeln kann, werden beispielhaft
zwei häufig zu behandelnde Persönlichkeitsstrukturen näher geschildert: die
Borderline-Persönlichkeit und die narzisstische Persönlichkeit.

1. Das erste Telefonat

Karin T. rief in der Telefonsprechzeit an, um einen Termin für ein
Vorgespräch auszumachen. Am Telefon fragte sie, ob ich mich auch wirklich mit
Essstörungen auskenne. Sie sagte auch gleich, dass man ihr bei der
Beratungsstelle empfohlen habe, mehrere Therapeuten 'anzusehen', und sie für die
nächste Zeit schon mit anderen Therapeuten Termine vereinbart habe.

Häufig ist schon das Telefonat die erste Variation des Grundkonfliktes.
Deshalb ist es sinnvoll, von diesem Gespräch kurze Notizen zu machen, auch das
Gegenübertragungserleben zu notieren. Diese Patientin hatte nicht auf dem
Anrufbeantworter ihre Telefonnummer hinterlassen, sondern sich in der
Telefonsprechzeit gemeldet. Vielleicht bemühte sie sich höflich zu sein, mir
möglichst wenig Arbeit zu machen? Vielleicht wollte sie nichts dem Zufall
überlassen und selbst die aktive Anruferin sein? Ihre Mitteilung, dass sie mit
mehreren Therapeuten Vorgesprächstermine ausgemacht hatte, erschien mir wie ein
Heißhungeranfall. Zum anderen vermutete ich aber auch, dass ihre Not sehr groß
war. Ich wappnete mich für die erste Stunde, denn würden sich meine Annahmen
bestätigen, dann müsste ich im übertragenen Sinne wieder ausgespien werden. Es
schien mir gut möglich, dass die Zurückweisung die einzige Möglichkeit der
Patientin war, mit ihrem Dilemma umzugehen – dem Dilemma, dass sie zwar auf der
einen Seite Anteilnahme und Hilfe wünschte, auf der anderen Seite aber Angst vor
Vereinnahmung und Schwächung im Sinne einer Selbstaufgabe hatte. Schon nach
diesem ersten Telefonat zeichnete sich der Grundkonflikt ab: Nähe vs. Distanz
und ihre Regulierung.

2. Das Erstgespräch

Die Terminabsprache gestaltete sich leicht. Karin T. hatte ein Freisemester
und 'immer Zeit'. Pünktlich zum vereinbarten Termin erschien eine attraktive
junge Frau. Die saloppe Kleidung war geschickt gewählt und unterstrich ihren
'Sports-Girl-Typ'. Karin T. begrüßte mich mit einem strahlenden Lächeln, ihr
Händedruck war fest, sie wirkte ganz Frau der Lage.

Ich erfuhr, dass sie Jura studierte. Sie hatte ihr Erstes Staatsexamen
erfolgreich bestanden und im Anschluss in einem Krankenhaus in Südamerika
gearbeitet. Jetzt, wieder zurück in Deutschland, sei auch ihre Bulimie wieder
zurückgekehrt. An Tagen ohne Verabredungen oder Terminen habe sie bis zu drei
Heißhungeranfälle. Es müsse etwas geschehen, 'um das Essen in den Griff zu
bekommen'. Nach ihren eigenen Angaben war die Essstörung bisher nur zur Zeit
ihrer Examensvorbereitungen so stark wie im Moment gewesen. Aber aus ihrer
Erzählung hörte ich heraus, dass die Bulimie schon lange die 'heim liche
Freundin' der 23-Jährigen war. Die Symptomatik begann mit 17 Jahren, als sie für
ein Jahr als Austausch-Schülerin in den USA lebte.
2.1 Die drei Abschnitte
des ErstgesprächsIch versuche das Erstgespräch möglichst so zu
strukturieren, dass es sich in drei Abschnitte gliedert:

Im ersten Teil steuere ich das Gespräch wenig. Meine Interventionen
beschränken sich darauf, der Patientin das Sprechen, das Sichmitteilen zu
erleichtern. So kann sich zwischen uns eine Inszenierung entfalten, deren Inhalt
maßgeblich von der Patientin bestimmt wird (Argelander 1992). Als Therapeutin
werde ich nicht nur in diese Szene hineingezogen, sondern bin mit meinen
bewussten und unbewussten Beziehungserfahrungen direkt beteiligt. Diese
wechselseitige Regulierung gründet in einen Mikro-Austausch von Informationen
über das gesamte Sinnessystem und den affektiven Ausdruck. Es bedeutet aber
nicht, dass die Aufgaben der Regulierung gleich verteilt sind. Die Aufgabe des
Therapeuten ist es, für ein wohlwollendes Klima zu sorgen und sich auf
bidirektionale Beeinflussung einzulassen (Stern 2002).

Im zweiten Teil des Erstgespräches erfrage ich noch fehlende Informationen
(Kapitel 'Anamnese'). Von Karin T. erfuhr ich, dass ihr Vater ein erfolgreicher
Manager ist. Die Mutter hörte mit ihrem ersten Kind, dem zwei Jahre älteren
Bruder, auf zu arbeiten und konzentrierte sich ganz auf die Aufgabe, ihre beiden
Kinder großzuziehen. Die Patientin beschrieb die familiäre Situation sehr
positiv. Es entstand ein idyllisches Bild, das mich an Familien aus dem
Werbefernsehen erinnerte.

Im ersten Gespräch akzeptiere ich die Form, in welcher der die Patientin ihre
Biografie erzählt. So wird es möglich, nicht nur die Symptome und die
biografischen Daten, wie bei einem Lebenslauf, zu erhalten, sondern auch
Anzeichen von Konflikten und Abwehr- bzw. Schutzmechanismen, die sich in der
Form des Sprechens und der Erzählung widerspiegeln, zu erkennen (Habermas 2011).

Im zweiten Teil erhebe ich auch den somatischen Status und kläre, ob die
Patientin hausärztlich betreut wird. Da die Gewichtsdynamik bei Essstörungen
wichtig ist, frage ich nach dem aktuellen Gewicht, dem Gewicht vor Beginn der
Essstörung, dem höchsten und niedrigsten Gewicht sowie dem Wunschgewicht der
Patientin. Warum im Erstgespräch? Beeinflusse ich damit nicht auch die
Beziehung, die sich zwischen der Patientin und mir entwickelt? Verstärkt sich
nicht dadurch die Fixierung auf das Körpergewicht? Ich habe bei den meisten
Patientinnen das Gefühl, dass die Zahl auf der Waage oder das phobische
Vermeiden der Waage ein Thema ist, das latent im Raum steht und deshalb
angesprochen gehört. Die Frage nach dem Gewicht trägt zudem zur Klärung der
Therapiemotivation bei. So hart es klingen mag, aber eine Behandlung, bei der
sich das Gewicht nur nach unten bewegen darf oder aber das Wunschgewicht so
niedrig ist, dass es ohne restriktive Maßnahmen nicht erreicht werden kann,
bietet kaum Raum für Veränderungsprozesse. Es kann außerdem der Fall auftreten,
dass das aktuelle Körpergewicht so gering ist, dass eine ambulante Therapie zu
gefährlich oder wenig wirksam ist. Ich halte mich bei diesem Vorgehen an die
S3-Leitlinien für Essstörungen (2010), die eine Klinikeinweisung bei einem BMI
unter 16 kg/m2 für indiziert halten.

Die Gewichtsvorstellung für den eigenen Körper kann aber auch den Charakter
einer überwertigen Idee haben. In diesen Fällen ist es wichtig zu prüfen, ob die
Patientin u. a. auch Zwangssymptome aufweist. Die Zwänge wie Kalorienzählen oder
Rituale bei der Nahrungszubereitung und beim Essen werden häufig als ich-synton
erlebt und deshalb von der Patientin nicht erwähnt. Zum anderen können die
überwertigen Ideen auch der erste Hinweis auf eine psychotische Symptomatik
sein.

Bei anorektischen Patientinnen ist es wichtig zu erfragen, warum sie gerade
jetzt eine Therapie machen wollen. Sehr häufig wird deutlich, dass sie kommen,
weil sie sich durch Angehörige, Freunde oder sogar durch den Arbeitgeber unter
Handlungsdruck gesetzt fühlen. Bei Patienten mit einer Binge-Eating-Disorder
besteht meist nur der Wunsch nach Gewichtsreduktion. Sie haben den Eindruck,
dass ihr Leben problemlos sein könnte, wenn sie weniger wiegen und damit aus
ihrer Sicht symptomfrei wären.

Diese Erkenntnisse sind wichtig, um die Therapiemotivation zu verstehen und
das geeignete Therapieverfahren auszuwählen. Eine Patientin, die neben der
Essstörung keine weiteren Probleme in ihrem Leben wahrnimmt, ist meist nicht
motiviert, sich mit ihren Affekten und ihrer Lebensgeschichte zu beschäftigen.
Es kommen dann häufig Aussagen wie 'ich will nicht, dass Sie in meiner
Vergangenheit herumstochern'.

Im dritten und letzten Teil des Erstgespräches ermuntere ich die Patientin,
Fragen zu stellen und ihre Vorstellungen von einer Therapie zu beschreiben. Im
Anschluss versuchen wir gemeinsam zu erarbeiten, welche Ziele sie anstrebt und
in welcher Zeit diese realistisch erreicht werden können. Wenn notwendig,
versuche ich die Patienten mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass vor einer
ambulanten Behandlung eine stationäre Behandlung stattfinden sollte. Bei einer
komplexeren Symptomatik oder einem sehr geringen aktuellen Gewicht ist es
ambulant kaum möglich, die Patientin adäquat zu begleiten und gemeinsam die
sichere Basis zu entwickeln, auf der die Patientin den Mut findet, Veränderungen
zu wagen.

Karin T. hatte die Vorstellung, sie bräuchte nur einige Stunden sowie ein
paar gute Tipps von mir und dann wäre alles erledigt. Meinen Einwand, dass sie
über die Jahre schon selbst viel versucht und ausprobiert habe, schien sie gar
nicht zu hören, sondern argumentierte, dass sie in wenigen Monaten für ein
Auslandssemester die Stadt verlasse und bis dahin die Bulimie 'los sein' wolle.
Ich erwiderte, dass ich keine 'Ultrakurzzeittherapie' machen würde. Meine
Empfehlung war eine Ernährungsberatung, und ich sprach an, dass die
Verhaltenstherapie ihren Vorstellungen eher gerecht werden könnte. Außerdem
erinnerte ich sie, dass ihr letzter Auslandsaufenthalt gut verlaufen sei und ich
mir vorstellen könnte, dass sie das auf sie zukommende Semester gut schafft.
Noch während ich sprach, liefen ihr Tränen über die Wange, und sie sagte: 'Sie
sind wie meine Mutter, die mag auch nicht sehen, wenn es mir schlecht geht, und
sagt immer, das schaffst du schon.'

In Karin T.s Familie wurde die Erkrankung kollektiv verdrängt. Als sie vor
dem Examen sehr verzweifelt war und unter großen Versagensängsten litt,
vertraute sie sich ihren Eltern an. Besonders ihre Mutter reagierte auf die
Offenbarung mit Selbstvorwürfen, Schuld- und Verantwortungsübernahme. Die
Patientin hatte das Gefühl, dass ihre Mutter ihr die Krankheit wegnahm. Die
Mutter arrangierte einen gemeinsamen Besuch mit der Tochter bei einer
Therapeutin und begann dann bei dieser Therapeutin selbst eine Therapie. Die
Patientin sprach nie mehr über die Bulimie, vermutlich um etwas Eigenes zu
behalten. 'Meine Eltern glauben, das war nur eine Phase und nun bin ich
gesund.'

In der Stunde entwickelte sich eine ambivalente Mutterübertragung: 'Sie sind
wie meine Mutter.' Es wurde der starke Wunsch der Patientin nach einer
annehmenden Beziehung deutlich, aber auch ihre Angst davor. Sie hatte die Dauer
unserer Beziehung geplant und das Ende nach nur wenigen Wochen szenisch in das
reale Außen verlegt. Ein Auslandssemester an einer berühmten Universität, das
hebelte, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt, jegliche Bemühungen, einen Zugang zu
den unbewussten intrapsychischen Prozessen zu finden, aus. Meine Einschätzung,
dass ein zentrales Problem der Patientin die Regulierung von Nähe und Distanz
war, festigte sich. Bei der Verabschiedung bot ich ihr an, dass sie sich gern
nach ihrem Auslandssemester wieder melden könne.

Nach einem guten halben Jahr meldet sich Karin T.: Ob ich mich noch an sie
erinnere? Sie sei zurück und würde gerne eine Therapie beginnen. Karin T. blieb
fast fünf Jahre. Eine unserer letzten Stunden fand im Park statt. Die kleine
Tochter Carolina zahnte, ihr Klagen und Weinen machte eine Therapiestunde
unmöglich. Da die Tochter am ruhigsten war, wenn sie im Kinderwagen geschoben
wurde, brachen wir zu dritt in den Park auf. Bei diesem Spaziergang sprachen wir
über ihre Zukunft. Der Mann von Frau T. hatte eine attraktive Position in einer
anderen Stadt angeboten bekommen, der Umzug stand an, aber auch die Frage nach
ihren eigenen Lebenszielen, nach der Vereinbarkeit von Mutterschaft,
Partnerschaft und Beruf.

3. Allgemeine Betrachtungen

Die heutigen Erklärungsmodelle psychogener Essstörungen sprechen vom
'komplexen Zusammenspiel der bio-psychosozialen Wechselwirkungen'. Die
wechselseitigen bahnenden wie hemmenden Einflüsse auf die Entwicklung von
psychischen Erkrankungen beschreibt Sigmund Freud bereits in seinem Konzept der
Ergänzungsreihe:

'Die Erkrankung ist das Ergebnis einer Summation, und das Maß der
ätiologischen Bedingungen kann von irgendeiner Seite her vollgemacht werden. Die
Ätiologie der Neurosen ausschließlich in der Heredität oder der Konstitution zu
suchen wäre keine geringere Einseitigkeit, als wenn man einzig die akzidentielle
Beeinflussung der Sexualität im Leben zur Ätiologie erheben wollte […].' (Freud
1905 a, S. 159)

Über die kulturellen und ökonomischen Wechselwirkungen, den Einfluss des
Überflusses der reichen Industrienationen ist andernorts schon ausführlich
Stellung genommen worden (Keel 2003, Makino 2004). An dieser Stelle möchte ich
darauf aufmerksam machen, dass die

Verzögerung von ausreichender therapeutischer Behandlung die Gefahr der
Chronifizierung birgt. Verlaufsstudien von Patienten mit Essstörungen belegen,
dass die Effektivität der Psychotherapie sinkt, wenn die Patienten länger als
drei Jahre vor Aufnahme der Behandlung erkrankt waren (Treasure 2011). Die
12-Jahres-Letalität für Patienten mit Anorexia nervosa liegt bei ca. 10 Prozent
(Herpertz 2010).

3.1 Aspekte bei der Auswahl des geeigneten Therapieverfahrens

Was macht die Auswahl des geeigneten Therapieverfahrens für die Patientin und
die Therapeutin schwierig? Es scheint, dass die einzige Gemeinsamkeit, die die
Erkrankten aufweisen, darin besteht, dass sie weiblichen Geschlechts sind. Die
Zahl der Männer, die an einer Essstörung leiden, liegt unter 10 Prozent. Ich
werde mich daher in meinen Ausführungen auf die erkrankten Frauen beziehen,
wenngleich einige der beschriebenen Phänomene auch auf Männer zutreffen.

Für eine gute Beratung und Auswahl des Therapieverfahrens hat es sich in der
Praxis bewährt, die Symptome der Essstörung als einen Teil einer Gesamtdiagnose
zu betrachten, in die auch die Persönlichkeitsstruktur, das Strukturniveau und
die psychische Komorbidität mit einbezogen werden müssen. Die strukturelle
Heterogenität wird u. a. von Garner und Garfinkel (1985), Schulte und
Böhme-Bloem (1991) sowie Schwartz (1990) betont. Schwartz schreibt:

'In den vergangenen Jahren wurden Patienten mit Essstörungen nach einem
starren phänomenologischen Paradigma charakterisiert, das künstlich ein Symptom
unter vielen isoliert, auch von der darunterliegenden neurotischen
Persönlichkeitsstruktur.' (Schwartz 1990, S. 1, Übersetzung von der
Verfasserin)Es soll an dieser Stelle festgehalten werden:

1. Es gibt ein Syndrom, das wir Essstörung nennen. Die Fixierung in der
oralen Phase lässt aber keinen Rückschluss auf die psychische Struktur zu.

2. Die Entwicklung des Syndroms hat soziokulturelle Wurzeln, die sich bis in
die ersten Lebenstage zurückverfolgen lassen und eine Geschlechtsspezifität
aufweisen.
3. Das Symptom der Essstörung kommt bei verschiedenen neurotischen
Persönlichkeitsstrukturen vor und hat als Abwehr variable Funktionen.

4. Auch bei komplexen Traumastörungen können sich
Essstörungen entwickeln.

3.2 Die Bedeutung der frühen Entwicklungsstadien in
der Kindheit

Zur Regression und Fixierung bieten sich die Stadien der
früheren Entwicklung an, 'die durch besonders intensive Befriedigung oder
Frustration oder durch eine besondere Konflikthaftigkeit unbewusst eine
besondere Bedeutung erlangt haben. Solche Fixierungen der früheren
Triebentwicklung können zur Konfliktabwehr wiederbelebt werden.' (Ermann 2007,
S. 113)

Entwicklungspsychologische Langzeitstudien haben belegt, dass das 'Schicksal
früher Entwicklungsdefizite' nicht automatisch zu einer psychischen Störung im
Erwachsenenalter führt. Unsere Persönlichkeit bleibt über lange Zeit,
wahrscheinlich unser ganzes Leben lang, veränderbar. Die Erkenntnisse der
Neurobiologie über die Neuroplastizität des Gehirns haben diese Vermutung weiter
gefestigt. Durch fördernde Beziehungen können die nicht geglückten
Entwicklungsschritte der Kindheit und entstandene Beeinträchtigungen verändert
werden.

Die Aufrechterhaltung des homöostatischen Gleichgewichtes zwischen Mutter und
Kind ist in der oralen Phase von eminenter Wichtigkeit. Mahler (1989) stellt
fest, dass, wenn die Aufrechterhaltung dieses Gleichgewichtes nicht gelingt,
'somatische Erinnerungsspuren' geprägt werden, die mit späteren Erfahrungen
verschmelzen und auf diese Weise psychische Belastungen verstärken können.

Heute tragen zum besseren Verständnis der Frühentwicklung des Kindes das
Wissen über die Reifung des Gehirns und ganz besonders die Bindungs- und
Mentalisierungstheorie bei. Die Erfahrungen der ersten Lebensjahre sind nicht
der bewussten Erinnerung zugänglich, überdauern aber, wie schon Mahler annahm,
in Körpererinnerungen und gestalten als implizite Beziehungserfahrungen unsere
Kontakte zur Welt.
Fonagy und Target (2002, S. 841) formulieren:

'Unter Entwicklungsgesichtspunkten kann man die primären Emotionen des Kindes
als noch unverbunden, als Reaktion auf Reize und als dynamische
Verhaltensautomatismen auffassen, über die das Kind anfangs noch keine Kontrolle
hat. Die Affektregulation erfolgt im Wesentlichen durch die Bezugsperson, die
die automatischen Emotionsäußerungen des Kindes wahrnimmt und darauf mit
angemessenen affektmodulierenden Interventionen reagiert.'


Katherina Giesemann, Dr. med., Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse, arbeitet in eigener Praxis in München; Schwerpunkt: Essstörungen.


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