Hartmann Abgeräumt oder niemand lügt für sich allein
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8271-9633-0
Verlag: CW Niemeyer
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Ein Hildesheim-Krimi
E-Book, Deutsch, 394 Seiten
Reihe: Hildesheim-Krimi
ISBN: 978-3-8271-9633-0
Verlag: CW Niemeyer
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Sabine Hartmann wurde 1962 in Berlin geboren. Seit 1982 lebt sie in Sibbesse. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. Nach vielen Jahren als freiberufliche Übersetzerin und Dozentin in der Erwachsenenbildung arbeitet sie heute als Schulleiterin in Alfeld. Als Tochter eines Polizisten interessierte sie sich schon früh für Detektivgeschichten und Krimis. So lag es nah, dass sie, als sie die Schreiblust packte, dieses Genre bevorzugte. Neben Krimis für Erwachsene schreibt sie auch für Kinder und Jugendliche. Im Regionalkrimibereich hat sie bisher im Leinebergland morden lassen. In Lesungen, Vorträgen und Schreibworkshops versucht sie, auch andere für Krimis zu interessieren. Für ihre Kurzkrimis, die in Anthologien und Zeitschriften erschienen sind, hat sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten. Sie ist Mitglied bei den Mörderischen Schwestern und im Syndikat.
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Hildesheim, Montag, 5. November 2012
„Das einzig Positive in deinem Leben war der AIDS-Test, oder?“
„Ey, wie meinst’n das, Alter?“
Ich spitzte die Lippen, um nicht laut herauszuplatzen. Ich wollte weder ein blaues Auge noch vollgerotzte Schuhe riskieren. Außerdem war es deutlich zu früh für rauch- und alkoholgeschwängerten Atem, der mir mit kleinen Spucketröpfchen und der Aufforderung: „Verpiss dich!” ins Gesicht geschleudert wurde. Zudem wollte ich nicht auffallen, na ja, jedenfalls nicht mehr als unvermeidlich. Morgens um kurz nach sieben tummelten sich am Hildesheimer Hauptbahnhof, neben den obligatorischen Uniformierten und einigen abgerissenen Gestalten, die dringend eine Dusche brauchten, wahre Schülermassen. Pendler, die mit Laptoptasche Richtung Hannover fuhren, waren eindeutig in der Minderheit. Ich gehörte zwar nicht wirklich in diese Gruppe, nutzte sie aber als Tarnung, wenn ich mit entschlossenen Schritten durch die Bahnhofshalle ging. Es war gar nicht so einfach, zielstrebig zu wirken und dabei langsam genug vorwärtszugehen, sodass ich ausreichend Gelegenheit hatte, in möglichst viele Gesichter zu blicken. Unauffällig, versteht sich.
Warum?
Was für eine Frage. Ich suchte jemanden. Das ist schließlich mein Job. Das Suchen.
Ich seufzte. Suchen. Das hörte sich zu profan an, zu simpel. Eigentlich recherchierte ich. Ich besorgte zum Beispiel Hintergrundinformationen für Zeitschriftenredaktionen. Die zahlten meist ganz ordentlich. Ich ermittelte Vorfahren für Leute, die mehr über ihren Stammbaum wissen wollten, weil sie hofften, einen Martin Luther oder eine Katharina von Bora zu ihren Ahnen zählen zu können. Diese Aufträge waren zwar nicht ganz so lukrativ, aber solide.
Manchmal stellte ich auch historische Fakten über das Schwert des Segestus oder das Sühnekreuz bei Rott für Doktoranden zusammen, die keinen Bock hatten, selbst in die Archive zu stiefeln und in bröckeligen Folianten zu blättern. Damit hatte ich angefangen, damit hatte alles angefangen.
Und jetzt? Jetzt rannte ich beinahe jeden Morgen, wenn die Schülerhorden aus dem ganzen Landkreis in der Stadt einfielen, durch den Hildesheimer Bahnhof.
Die beiden Schüler mit dem Aids-Test waren zum Bäckerstand abgebogen. Ich hielt das für eine gute Idee und folgte ihnen. Unauffällig versteht sich. Coffee-togo bedeutete nämlich nicht zwangsläufig, dass man sich mit dem Becher bewegen musste, man konnte sich genauso gut an einen der Stehtische platzieren, um die Bahnreisenden vorbeidefilieren zu lassen.
Ich konzentrierte mich auf die Mädchen.
Die meisten stolzierten in Gruppen durch den Bahnhof. Die interessierten mich weniger. Natürlich konnte ich nicht ausschließen, dass Milena sich einer Clique anschloss, einfach um nicht aufzufallen. Andererseits vermutete sie wahrscheinlich nicht, dass jemand hier und jetzt nach ihr suchte.
Ich wusste aus Erfahrung, dass sich die Ausreißerinnen und Ausreißer früher oder später am Bahnhof einstellten. Einerseits trafen sie an diesem Ort auf Leute mit ähnlichen Problemen und Erlebnissen, auf der anderen Seite waren die Schüler im Gedränge, mit all ihrem Imponiergehabe, ihrem Gekicher und Herumgealber leichte Beute.
Handys, Bargeld, MP3-Player, zunehmend auch Tablets und Laptops waren begehrt und ließen sich problemlos zu Geld machen.
Deshalb hatte ich mich anfangs vor den einschlägigen Läden positioniert, bei denen man das Eroberte verscherbeln konnte, denn Moneten brauchten sie früher oder später alle. Nette Herren hatten mich innerhalb weniger Minuten überdeutlich darauf hingewiesen, dass man meine Anwesenheit vor diesen Etablissements nicht schätzte.
Also verpisste ich mich wie empfohlen und kehrte zu meinem Bahnhofsritual zurück.
Bei meiner Suche konzentrierte ich mich auf die Nasen. Melinas Nase war zweimal gebrochen und wies einen ausgeprägten Knick auf.
Der Bahnhof leerte sich bereits. Noch wenige Minuten, bis die Schüler-Rushhour vorbei sein würde. Danach kamen höchstens ein paar Nachzügler aus der Stadt selbst, die zu spät dran waren.
Gerade hatte ich den letzten Schluck meines Kaffees getrunken, als ich sie bemerkte.
Selbstsicher verließ sie den Drogeriediscounter gegenüber. Sie schaute sich nicht um, wirkte ruhig. Was auch immer sie gekauft hatte, passte in eine winzige Tüte, die sie in ihre Parkatasche stopfte. Sie kam geradewegs auf mich zu, nein, sie bog in Richtung Waschräume ab.
Ich hatte die Kamera vor mir auf dem Tisch liegen und schaltete sie ein, ohne hinzuschauen. Milena verschwand in der Toilette. Sofort nutzte ich die Gelegenheit und wechselte meinen Standort. Ich lehnte mich gegen die Schaufenster des Telefonladens, sodass ich die Tür, hinter der sie verschwunden war, gut im Auge behalten konnte, selbst wenn sich andere Menschen durch die Halle bewegten. Es dauerte nur Sekunden, bis die Tür wieder aufflog und Milena herausstürzte. Sie hielt eine braune Handtasche an ihre Brust gedrückt, flitzte um die Ecke und rannte die lange Unterführung unter den Gleisen entlang. Kurz darauf tauchte eine Frau im dunklen Kostüm aus dem Toilettenraum auf und rief laut um Hilfe. Sofort eilten zwei Bahnbedienstete zu ihr.
Ich beobachtete die Szene nicht länger, ahnte jedoch, was geschehen war. Die fremde Dame hatte ihre Handtasche in der Kabine an den dafür vorgesehenen Haken gehängt. Milena war von außen auf die Klinke gestiegen, hatte sich die Tasche geschnappt und war wieder verschwunden, bevor die Besitzerin auch nur „Oh“ gedacht hatte. Die beiden Bahnmitarbeiter geleiteten sie in das Servicebüro, dabei sprachen sie hektisch in ihre Funkgeräte.
Doch ich war mir sicher, dass Milena das Bahnhofsgelände bereits verlassen hatte. Blieb nur die Frage offen, ob sie auf eigene Rechnung unterwegs war.
Ich ließ die Kamera in meine Jackentasche gleiten und machte mich auf den Weg zu meinem Arbeitsplatz in der Arneken Galerie.
Den Bahnhofsvorplatz überquerte ich, ohne auf die blinkenden Ampeln zu achten. Um die Zeit kam nie ein Bus. Dafür blies hier immer ein scharfer Wind, weshalb niemand, der kein Tourist war, an dieser Ampel stehen blieb, wenn der Bus nicht schon fast um die Ecke bog. Ich war froh, als ich im Windschatten der ehemaligen Kaufhalle angekommen war. Viel los war um diese Uhrzeit noch nicht. Die ersten Geschäfte öffneten um neun, also in etwa zwanzig Minuten, die letzten erst um zehn. Obwohl mit Regen zu rechnen war, schoben Verkäuferinnen überall Ständer mit Kleidungsstücken oder Werbetafeln nach draußen auf die Fußgängerzone.
Ich brauchte mich nicht zu beeilen, auch bei Vivo Gelati é Café wartete erst ab neun Uhr ein Frühstück auf mich. Allerdings durfte ich meinen Tisch belegen, sobald ich ankam.
Die Arneken Galerie hatte im März diesen Jahres neu eröffnet. Seit Ende April hatte ich mein Büro in das Eiscafé dort verlagert. Ich lebte in einer Zweizimmerwohnung im Trockenen Kamp, nicht die allerbeste Adresse, um Geschäftskunden zu beeindrucken. Außerdem bin ich dafür einfach zu unordentlich.
Sobald sich ein potenzieller Kunde angesagt hatte, begann ich im Ellerbecker-Rundschlag-Verfahren meine Unterlagen, Bücher und Notizen zusammenzuraffen und auf mein Bett zu stapeln, weil sie im Wohnzimmer im Wege herumlagen. Dass ich anschließend keine Zeit und auch keine Lust hatte, alles wieder auseinanderzusortieren, sondern die Stapel neben die anderen schob, die bereits auf ihre Bearbeitung warteten, versteht sich von selbst.
Von daher war dieses Arrangement perfekt. Ich saß im Trockenen, hatte es warm, wurde mit Leckereien und Getränken versorgt. Gelegentlich hörte ich Geschichten aus dem Leben der Mitarbeiter, manchmal beobachtete ich die anderen Gäste, besonders die in der Raucher-Lounge. Manchmal waren die einfach nur abgefahren.
Sobald ich ankam, stellte ich ein rotes Fähnchen auf meinen Tisch. Darauf steht in großen, schwarzen Buchstaben: Iris Bender, das bin ich, klar, und darunter MIB. Was das heißt? Master Information Broker, versteht sich doch ebenfalls von selber, oder? Natürlich ist Information Broker kein Ausbildungsberuf, das bedeutet aber nicht, dass man es darin nicht zu einer gewissen Meisterschaft bringen konnte. Schließlich machte heutzutage jeder Hinz und Kunz seinen Master in irgendwas und verdiente doppelt so viel wie Masterlose.
Außerdem wollte ich mich klar von den anderen, von den Dilettanten in diesem Metier abheben. Mir geht’s um Qualität, um Klasse, um wissenschaftliche Präzision.
Hatte ich das Fähnchen hingestellt, klappte ich den Laptop auf, und nun kam es darauf an. Stand zuerst meine WLAN-Verbindung oder der Cappuccino auf meinem Tisch? War der Laptop schneller, brauchte ich den ersten Cappu nicht zu zahlen, war die Bedienung flinker, schmiss ich eine Runde für alle Mitarbeiter. Eigentlich ‘ne faire Regelung, oder?
Heute war ich nicht fix genug.
Macht nichts.
Dafür sah ich sie.
Sie stand auf der anderen Seite der Galerie am Geländer und schaute zu mir herüber. Ich wusste sofort, dass sie zu mir wollte. Ehemann entlaufen, tippte ich und war unentschieden, ob ich den Auftrag annehmen würde.
Nachdem ich die halbe Tasse ausgetrunken hatte, setzte sie sich in Bewegung und kam recht zielstrebig auf mich zu. Sie trug mausgrau in Beige, soll heißen, alles unauffällig, Farbe, Schnitt und Qualität. Die Haare waren irgendwie braun, selbst ihre Augen wirkten seltsam farblos. Das einzig Farbige an ihr war die blaue Einkaufstüte, die sie mit beiden Händen umklammerte.
Sie tat mir fast schon leid.
Mit dem ausgestreckten Zeigefinger wies sie auf mein Fähnchen. „Sind Sie Frau Bender?“
Ich...