E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Just Der böse Mensch
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8321-8971-6
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8971-6
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lorenz Just, geboren 1983 in Halle an der Saale, zog 1988 mit seiner Familie nach Berlin und wuchs dort auf. Nach seinem Islamwissenschaftstudium in Halle und verschiedenen Auslandsaufenthalten studierte er von 2011 bis 2015 am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. 2015 erschien sein Jugendbuch >Mohammed. Das unbekannte Leben des Propheten< (Gabriel Verlag), 2017 bei DuMont sein hochgelobter Erzählband >Der böse Mensch<. Er lebt in Berlin.
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DER NACHBAR
Eine Bewegung hat mich geweckt. Ich kann die Wellen noch sehen, unruhige Wellen, die auf mich zu- und von mir wegrollen. Ich habe die Bewegung nicht geträumt, aber ich habe geträumt. Ich lag auf einer Wiese in der Abendsonne. Eine Gestalt kam heran und stellte sich als riesiger Schatten vor mir auf. Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen, nur die von Lichtstrahlen umkränzte Kontur. Wer weiß, was sie wollte. Als sie sich zu mir hinabbeugte, habe ich die Beine angewinkelt und zugetreten. Ob ich getroffen habe, kann ich nicht sagen, denn die ruckartige Bewegung hat mich aufgeweckt. Jetzt steht die Wasseroberfläche wieder still, Dampf steigt auf und schwebt im Raum. Es ist das erste Mal, dass ich hier eingeschlafen bin. Aber ich habe keine Angst. Ich glaube nicht, dass ich im Schlaf ertrinken könnte. In einer Zeitschrift habe ich von Meistern gelesen, die ihr Sterben wie ein heilendes Kunststück vollführen. Die Beine ineinander verschlungen, lassen sie sich auf den Grund eines Gewässers sinken, wo sie, ohne eine Miene zu verziehen, ertrinken. Anderen gelingt es, ihren Herzschlag Kraft ihres Willens auszusetzen. Doch es braucht wohl das ganze Leben, um zu lernen, wie es aus eigener, innerer Kraft zu beenden ist, den Zeitpunkt selbst zu bestimmen, ihn bekannt zu geben, um vor versammelter Jüngerschaft zu vergehen. Ein friedlicher Tod, um in Frieden zu ruhen. Ein friedliches Leben, um in Frieden zu sterben. Eine Stunde bleibe ich noch. Das Wasser ist heiß, und heute habe ich Zeit. Nichts treibt mich weg. Ich bin allein. Niemand klopft oder rüttelt an der Klinke. Alles ist still, keine Türen schlagen, keine Schritte, keine lauten Stimmen, es ist so still, dass ich meinen könnte, taub zu sein. Kein Wetterumschwung, der das Licht verändern könnte, keine Wolken, keine Sonne, kein Himmel über mir, und auch kein Stromausfall. Hin und wieder flackert die Glühbirne. Wenn sie durchbrennt, müsste ich aufstehen. Im stockfinsteren Bad, bis zum Hals im Wasser, in der engen Badewanne, ich wäre mir meines Lebens nicht sicher. Im Licht sehe ich meine Arme und Hände, meinen Bauch, mein Glied, meine Beine, die aus dem Wasser ragen, meine Füße, die auf dem Wannenrand liegen, meinen Körper, der mir zeigt, dass ich da bin. Vielleicht könnte ich auch im Dunkeln durchhalten. Ich müsste versuchen, mir das Licht vorzustellen, sodass ich hinter geschlossenen Augen sehen würde: den roten Sand, die Straße vor dem Haus, die Frauen. So wie auch die Stille mir keine Schwierigkeiten macht, da sie meine eigene Stimme klar und deutlich klingen lässt. Ich höre mir zu. Ich muss mir zuhören. Lieber höre ich mir zu als dem Radio, lieber mir als den Verkäufern, lieber mir als dem Hausmeister, als der Müllabfuhr, der Nachrichtensprecherin. Lieber mein Selbstgespräch als das Telefongespräch eines Fremden, der neben mir an der Haltestelle wartet. Lieber mir zuhören. Ich weiß nicht, warum ich Angst vorm Sterben habe. Ich kenne den Tod, nur nicht den eigenen. Im Radio sterben die Menschen schnell und leicht. Ihr Sterben ist gut aufgehoben in der Normalität des Wetters, der Sportereignisse, der Wahlen. Nur selten stirbt ein Einzelner, ein Bischof, ein Friedensstifter, ein Präsident oder ein großer Mörder. Die Kleinen sterben wie alle Übrigen. Keiner fragt nach ihnen. Sie leben zurückgezogen, halten still und bleiben in ihren Häusern, in denen Ruhe herrscht. Man ist froh, wenn sie ihre Gesichter verstecken. Früher habe ich wie im Traum gelebt. Die Menschen waren Illusionen, ihre Gesichter Masken, von Geistern getragen. Oder es gab gar keine Menschen. Nur Vertriebene, die vor lauter Angst kein Leben mehr hatten. Hier haben sie jetzt ein Leben. Es kommt vor, dass mir ihre erbärmlichen Masken plötzlich wieder vor Augen stehen. Ich entdecke sie im Gesicht eines Fremden oder in den vertrauten Zügen eines Bekannten. Du hast alle Geister zurückgelassen, sage ich mir dann, aber der Schrecken ist mir anzusehen. Ihre Köpfe zucken unter meinen Händen, ihre Körper sinken etwas tiefer in den Stuhl, wenn sie mich im Spiegel erblicken. Aber während ich ihre Schädel rasiere, die schwarzen Locken von der Kopfhaut schäle und wir dabei über Alltägliches sprechen, beruhigen wir uns. Mein Bruder, sagen sie zum Abschied, und ich erwidere die Verbrüderung. Am Abend fege ich ihre Haare zusammen und verbrenne sie im Hof. Die Flamme frisst sich durch sie hindurch, weißer Rauch steigt in dünnen Fäden auf und verbreitet einen beißenden Geruch, der sich in meiner Kleidung, an der Haut und in den Haaren festsetzt, wenn ich nicht aufpasse und ein Luftzug ihn mir entgegenweht. Wasserdampf kondensiert an den Fliesen und tropft die Wände hinab. Ich vermisse die Nachmittagsglut, die nur unter einer schattigen Veranda zu ertragen war, den Schweiß auf der nackten Haut, die jeden Windzug spürte, jeden Sonnenstrahl, jeden Schatten. Hier liegt die Haut unter Schichten von Stoff begraben. Ich friere in dieser Luft, selbst im kurzen Sommer bleibt mir kalt. Meine Frau sagt, bade, bade so viel du willst. Und wenn ich benommen aus dem Badezimmer wanke, dann meint sie: »Jetzt bist du einmal warm«, und wir tun, was kein langes Reden braucht. Manchmal kann ich es nicht zu Ende bringen, dann steht sie auf und lässt mich allein. Ich habe versucht, ihr zu erzählen, wer ich war, wann, wo, aber sie will nichts wissen. Sie sagt: Dafür bin ich nicht deine Frau. Im Laden mache ich meine Scherze mit den Männern. Sie behandeln mich gut, sitzen den ganzen Tag auf der langen Wartebank und schauen zu, wie ich Haare schneide. Wir bleiben besser unter uns, sagen sie und halten zusammen wie die Hühner. Wenn etwas passiert, wenn es Ärger gab, auf einem Amt oder mit sonst einem Deutschen, jammern sie und bitten mich: »Du könntest etwas tun, du bist stark.« Es stimmt, ich bin nicht so arm wie sie: Ich habe ein Geschäft und gute Kleidung. Es flößt ihnen Respekt ein, dass mich der Hausmeister nicht beschimpft, sondern mit Namen grüßt. Aber er spricht meinen Namen so aus, dass er wie eine Beleidigung klingt, leer und ohne Bedeutung, wie hingespuckt. Nicht, dass ich die früheren Spitznamen zurück will, ich brauche keine Titel mehr. Meine Mutter wusste aber, warum sie mir meinen Namen gab. Hier bin ich neu und habe keine Ahnen und keinen Kult. Es genügt den Leuten, zu wissen, dass ich Besitzer eines Geschäfts bin, um ihr Misstrauen hinunterzuschlucken. Wenn ich rechtzeitig die Miete zahle und keinen Müll neben die Tonne schmeiße, bin ich ein korrekter Mensch. Sie verzeihen mir selbst das Schwarze, wenn ich mich ordentlich und ein wenig wie sie kleide. Oft wache ich tief in der Nacht auf und weiß nicht, wo ich bin. Ich muss mich umschauen und konzentrieren, aber selbst wenn es mir einfällt, kann ich nicht glauben, dass ich, immer noch derselbe, jetzt hier bin, ein zweites Leben führe, »Guten Tag« sage und mit dem Hausmeister über das Wetter plaudere. Ich muss es wie ein Gebet hersagen, damit mir die Welt wieder wirklich erscheint. Im Badezimmer, in der kleinen Kammer, halb unter Wasser, bin ich nirgendwo. Ich muss meinen Kopf nicht aufrecht halten, sondern lehne ihn gegen den Rand der Wanne, spüre im Nacken das kühle Metall, und Schweiß tropft über mein Gesicht. Ich habe meine schlimmsten Fantasien zu Wirklichkeit werden lassen, meine Albträume über andere gebracht. Ich habe in mir einen Dämon gespürt und bin zum Dämon geworden, habe an blutigen Herzen geleckt, aus Kindern Teufel gezüchtet, Tod und kein Leben in die Welt gebracht – ich kann es aufsagen, ohne mich erinnern zu müssen, wie auswendig gelernt. Die Normalität der anderen hat mich aufgefangen, mir einen Platz im Netz von Alltäglichkeiten zugewiesen, zuletzt hat sie mir eine Amnesie verordnet, die ich durch Schweigen erzwingen soll. Meine Vergangenheit scheint die eines Fremden zu werden, den ich im Traum getroffen habe. Ein Hirngespinst, das im heißen Wasser zu mir spricht. Vom roten Sand, von leeren Wäscheleinen, von einer Badewanne aus Zink. Am Abend füllte sie meine Frau mit sieben schweren Eimern aus dem Brunnen. Sieben Eimer, sagte sie, aber ich lachte nur und zog die Stiefel aus. Ich legte mich ins Wasser, betrank mich mit Schnaps, starrte in den Himmel. Ich habe immer versucht, etwas in den Sternen zu erkennen, ein Zeichen, das ich auf Anhieb verstand, irgendetwas, aber es war nur ein Spiel, mit dem ich die Zeit totschlug. Wenn meine Augen schwer wurden, zog ich den Stöpsel, und während das Wasser ausfloss und eine Pfütze um die Wanne entstand, schlief ich ein. Erst die sengende, blendende Sonne weckte mich. Ich musste lange rufen, bis meine Frau oder irgendjemand, der in der Nähe war, den Sonnenschirm aufstellte und mir Wasser zu trinken brachte. Wenn ich nicht aufstehen wollte, was oft der Fall war, musste jemand die Wanne von Neuem füllen. Immer spielten Kinder, aber vor dem Haus, wo ich sie nicht sehen konnte und ihr Geschrei nur leise zu hören war. Meine Frau war im Haus; was sie dort tat, ging mich nichts an. Nur ein paar Männer hielten sich ständig in meiner Nähe auf. Sie lungerten im Schatten des Vordachs, wo der Fernseher stand. Ununterbrochen liefen amerikanische Sendungen, die keinen interessierten. Aber wenn die Nachrichten begannen, sprangen sie auf und drehten laut. Es war die größte Freude, wenn die Rede von uns war, das heißt von den vielen Toten, die man zu einer handlichen Zahl zusammengefasst hatte. Wir merkten uns diese Zahl. Selbst zählten wir schon lange nicht mehr mit. Für uns gab es nur Anekdoten, die sich gegenseitig übertreffen mussten, wenn wir sie im Rausch eine nach der anderen erzählten und wieder erzählten. In den Nachrichten schienen sie nicht zu wissen, dass jeder einzeln und in Todesangst stirbt. Meine Soldaten hätten es ihnen zeigen können. Manchmal, wenn ich durch die Innenstadt laufe, spüre ich sie wie früher an meiner Seite. Hass und Angst brennen...




