E-Book, Deutsch, 344 Seiten
Kaul / Fischer Einführung in die Integrative Körperpsychotherapie IBP (Integrative Body Psychotherapy)
2. überarbeitete und erweiterte Auflage 2024
ISBN: 978-3-456-76327-9
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 344 Seiten
ISBN: 978-3-456-76327-9
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein praxisnahes Lehrbuch zur Theorie und Praxis der Integrativen Körperpsychotherapie
Der konsequente Einbezug von Körper, Emotionen und Kognitionen macht die IBP Körperpsychotherapiemethode einzigartig und wird immer stärker als unverzichtbare Erweiterung und Bereicherung gewohnten psychotherapeutischen Denkens und Handelns erlebt. Basierend auf dem Menschenbild der humanistischen Psychologie stellt dieses Lehrbuch kompakt und übersichtlich eine prozess-orientierte Herangehensweise in allen drei Erlebensdimensionen dar. Es vermittelt darüber hinaus auch allgemeine psycho-therapeutische Grundlagen.
Die zweite Auflage betont die Weiterentwicklung der IBP Methode und die Integration von aktuellen, interdisziplinären Modellen. Der stringente Einbezug von psychotherapeutischem Grundwissen und praxisrelevanten Forschungsergebnissen verknüpft so kontinuierlich Theorie und Praxis:
- humanistische Grundkonzepte (Präsenz, Gewahrsein, Eigenraum, Erdung, Gestaltarbeit)
- psychodynamische Grundlagen (Entwicklungspsychologie, Persönlichkeitsmodell, Arbeit mit den verschiedenen Persönlichkeitsanteilen, Fragmentierung)
- Stressmodell (Störungen der Stressregulation, Implikationen für die Psychotherapie)
- Atem- und Körperarbeit (Blockaden, parasympathische und sympathikotone Atemarbeit, Arbeit mit Berührung, Selbstentspannungstechniken, Achtsamkeitstechniken)
- Arbeit mit Sexualität in der Psychotherapie.
Für Studierende wie auch für ärztliche und psychologische Psycho-therapeuten und Psychotherapeutinnen bietet das Buch einen kompakten Überblick über alle IBP Inhalte mit Fallbeispielen und Übungsanleitungen.
„Das Buch deckt eine außerordentliche Breite von Themen ab: Immer wieder wird auch gezeigt, wie die eigene Arbeitsweise behandlungs-technisch umgesetzt wird. Das alles macht das Buch zu einem
der besten und instruktivsten Bücher zur Körperpsychotherapie im deutschsprachigen Raum.“
Zielgruppe
Studierende der Psychotherapie, Coaching-Ausbildung, Ärztliche und psychologische Psychotherapeut:innen, psychosoziale Berater:innen, die sich für Körperpsychotherapie interessieren
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
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|25|2 Der Mensch in seiner Lebenswelt
Eva Kaul, Béatrice Schwager Das Leben des Menschen vollzieht sich im Kontext seiner Lebenswelt. Die Lebenswelt umgibt uns ebenso selbstverständlich wie die Luft, die wir atmen. Und ebenso wie die Atemluft ist sie nicht nur um uns, sondern auch in uns. Sie durchdringt uns, und wir sind Teil von ihr. Werte, Gewohnheiten und Normen der soziokulturellen Lebenswelt ermöglichen erst, dem Erleben Bedeutung und Sinn zuzuschreiben und es einzuordnen. Um den Menschen in seiner Ganzheit zu verstehen, sollten wir uns daher nicht auf das Erforschen seiner inneren Dynamik beschränken, sondern auch dessen Lebenswelt berücksichtigen. Lebenswelt kann unterschiedlich kategorisiert werden. Basierend auf Habermas unterscheiden wir materielle Grundlagen, gesellschaftliche und kulturelle Komponenten der Lebenswelt (Habermas, 1981) (Abbildung 2-1). Die materiellen Grundlagen umfassen belebte und unbelebte Natur sowie die vom Menschen gestaltete Umwelt. Der Mensch ist unmittelbar von den materiellen Grundlagen der Lebenswelt abhängig, und das Überleben der uns nachfolgenden Generationen ist nicht ohne weiteres gewährleistet. Die Funktionalisierung des Menschen zur Leistungssteigerung und die oft krankheitsfördernde Ausbeutung personaler Ressourcen spiegelt sich in unserem Umgang mit dem Ökosystem Erde wider. Dort wird die Ausbeutung kollektiver Ressourcen in einem Mass vorangetrieben, welches die Lebensgrundlage aller Menschen gefährden kann. Die Zunahme umweltbedingter Erkrankungen und die Auswirkungen der globalen Erwärmung auf unsere Lebensbedingungen zeigen deutlich, wie wir auf das Ökosystem Erde einwirken und dieses wiederum auf uns (Ghebreyesus, 2022; Vicedo-Cabrera, 2022; Shindell, 2022; Colon-Gonzalez, 2022). Die gesellschaftliche Lebenswelt beinhaltet soziale Beziehungen und die Einbindung des Einzelnen in ökonomische, politische und wirtschaftliche Strukturen. Die soziale Mitwelt kann für die Entwicklung der Persönlichkeit und die Befriedigung ihrer Bedürfnisse förderlich oder hinderlich sein. Der ökonomische Status spielt eine wichtige Rolle für Lebenszufriedenheit und Gesundheit. Studien weisen einen Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Herkunft, Bildung, Beruf und Einkommen und Krankheitsanfälligkeit im Erwachsenenalter nach (Meyer, 2008; Cohen et al., 2013). Politische Strukturen und wirtschaftliche Systeme können mit ihren impliziten Werten den Menschen herausfordern. So erwartet beispielsweise das kapitalistische Wirtschaftssystem vom Menschen eine Flexibilität, welche dessen Bedürfnis nach Verbindlichkeit, Sicherheit und Konstanz von Strukturen zuwiderläuft (Sennett, 1998). Ein solches System greift auch in die soziale Lebenswelt ein, indem die Existenzsicherung eine hohe zeitliche Verfügbarkeit oder häufige Wohnortswechsel verlangt, was den Raum für die Pflege sozialer Beziehungen beeinträchtigt. Globale Entwicklungen wie die zu|26|nehmende Digitalisierung (Han, 2013a) und Beschleunigung (Rosa, 2013) drohen viele Menschen zu überfordern und begünstigen Erkrankungen. Die kulturelle Lebenswelt beinhaltet spezifische Formen der Übereinkunft und Deutungsmuster in einer Gesellschaft. Erll und Gymnich beschreiben als kulturelle Merkmale Zeit- und Raumerleben, Art der Wahrnehmung und Verarbeitung derselben, Denken, Sprache, nonverbale Kommunikation, Werte und Verhaltenskodizes (Erll & Gymnich, 2013). Auch religiös-spirituelle Werte und Verhaltensweisen werden der kulturellen Lebenswelt zugeordnet. Sind wir uns der Bedingtheit menschlichen Erlebens und dessen Abhängigkeit von der kulturellen Lebenswelt bewusst, so hat dies Auswirkungen auf unser Verständnis und den Einsatz psychotherapeutischer Instrumente. Die meisten therapeutischen Methoden wurden im europäischen und amerikanischen Kulturkreis für Menschen mit ebensolcher soziokultureller Prägung entwickelt. Globalisierung, Kriege, Katastrophen und Wohlstandsunterschiede haben jedoch grosse Migrationsströme verursacht, so dass wir in unserer Praxis zunehmend mit Menschen aus anderen Kulturen konfrontiert sind. Denken, Wertvorstellungen, Verhalten, Menschenbild, Krankheits- und Therapieverständnis dieser Menschen weichen oft beträchtlich von den soziokulturellen und lebensgeschichtlichen Prägungen der mitteleuropäischen Lebenswelt ab. Therapeut:innen sind daher zunehmend gefordert, Wissen und Kompetenzen über andere Kulturen und Lebenswelten zu erwerben. Gesellschaftliche, kulturelle und materielle Lebenswelt wirken vom Zeitpunkt unserer Zeugung an prägend auf die Persönlichkeit ein. Umgekehrt ist die je eigene Lebenswelt wiederum vom Individuum beeinflussbar. Schon Säuglinge versuchen mit ihrem Verhalten eine Wirkung bei ihrer Bezugsperson zu erzielen. Die Persönlichkeit und ihre Lebenswelt sind in dauernder Interaktion, formen und prägen sich gegenseitig. Für diese Interaktionen gelten Gesetze, welche Maturana und Varela allgemein für Lebewesen formuliert haben (Maturana & Varela, 1984): Einflüsse der Lebenswelt lösen im Lebewesen eine Wirkung aus, aber sie bestimmen diese nicht. Es ist vielmehr die Struktur des Lebewesens, die determiniert, mit wel|27|cher Veränderung es auf äusseren Einfluss reagiert. Eine Interaktion kann eine Strukturveränderung nicht determinieren, weil diese Veränderung vom vorausgehenden Zustand des Lebewesens abhängig ist. Man spricht von struktur-determinierter Veränderung. Die Veränderung führt zu einer strukturellen Verträglichkeit des Organismus mit seinem Umfeld, also einer Anpassung, welche das Fortbestehen des Organismus sichern soll. Die gegenseitige Beeinflussung und Auslösung von Zustandsveränderungen von Individuum und Lebenswelt wird als strukturelle Koppelung bezeichnet. Auch auf die Entwicklung der Persönlichkeit lassen sich obige Gesetzmässigkeiten übertragen: Jeder Mensch erlebt sich in Interaktion mit seiner Lebenswelt. Sein Erleben organisiert er in Erfahrungen, welche zu strukturellen Veränderungen führen und so die Entwicklung der Persönlichkeit beeinflussen. Die Art der Veränderung wird bestimmt vom Zustand und der Struktur des erlebenden Individuums, weniger vom Erlebnis selbst. Aus der beobachtenden Perspektive der Therapeut:innen mögen sich zwar kausale Verknüpfungen äusserer Einflüsse und Persönlichkeit der Klient:innen aufdrängen. Deren Symptome und Verhaltensweisen erscheinen uns vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte sinnvoll und nachvollziehbar. Daraus auf einen deterministisch kausalen Zusammenhang zu schliessen, ist aber irreführend. Wenn dem so wäre, dann müssten wir umgekehrt aufgrund eines äusseren Einflusses die Entwicklung der Persönlichkeit schlüssig voraussagen können, was nicht der Fall ist. Wir wissen beispielsweise, dass der Bindungsstil von Mutter und Kind zu 75?% übereinstimmt (Brisch, 2014). Daraus eine Voraussage des Bindungsstils für den einzelnen Menschen herzuleiten, ist trotzdem unmöglich. Dass die Entwicklung der Persönlichkeit strukturdeterminiert ist, drückt sich auch in den Forschungsergebnissen zu Resilienz und Vulnerabilität aus. Werner und Smith erforschten in einer Langzeitstudie (1955–1999) den Einfluss verschiedener biologischer und psychosozialer Risikofaktoren auf die Entwicklung von knapp 700 Kindern (Werner & Smith, 2001). Ein Drittel dieser Kinder hatte durch Geburtskomplikationen, chronische Armut oder elterliche Psychopathologie ein hohes Entwicklungsrisiko. Von diesen entwickelte sich wiederum ein Drittel zu gesunden, leistungsfähigen und mitfühlenden Erwachsenen. In dieser Gruppe fand sich die niedrigste Rate an Todesfällen, chronischen Krankheiten und Scheidungen. Alle hatten Arbeit und keiner war mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Sie verfügten offenbar über eine grosse Resilienz (Widerstandsfähigkeit) und geringe Vulnerabilität (Verletzlichkeit). Zu einer hohen kindlichen Resilienz tragen innere (weibliches Geschlecht, kognitive Fähigkeiten, soziale Kompetenzen, positives Temperament, positives Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeitsüberzeugung) und äussere Schutzfaktoren (stabile und verfügbare Bezugspersonen, offenes und anregendes Erziehungsklima, hoher sozioökonomischer Status, Qualität der Elternbeziehung) bei (Jenni & Ritter, 2018). Neben dieser Einbettung in die aktuelle Lebenswelt sind wir auch in der historischen Perspektive verortet. Jede Erfahrung in der Gegenwart findet vor dem Hintergrund...