E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Krämer Im Schatten der Camorra
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8271-8736-9
Verlag: Edition CW Niemeyer
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Westerwald-Neapel-Krimi
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-8271-8736-9
Verlag: Edition CW Niemeyer
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
'Mit Micha Krämer hat ein neues Talent die Szene betreten. Ich mag seine Schreibe. Er kann etwas, das langsam aus der Mode kommt: eine Geschichte erzählen und uns fesseln', schrieb Bestsellerautor Klaus-Peter Wolf einst über Micha Krämer. Dieses Talent demonstriert der Kultautor und Musiker aus dem Westerwald nicht nur in seinen zahlreichen Romanen und Jugendbüchern, sondern auch bei seinen Lesungen, die mittlerweile ganze Hallen füllen. Wer einmal mit dem Mythos Nina Moretti angefixt ist, den lassen die Geschichten rund um die junge Kommissarin nicht mehr los. Weitere Informationen auf www.micha-kraemer.de
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kapitel 1
Sonntag, 14. Dezember 2025, 11:17 Uhr
Corso Umberto I, Ercolano, Neapel/Italien
„Idiot“, schrie der Fahrer des Taxis dem Wagen hinterher, der ihnen gerade in einem Wahnsinnstempo entgegengekommen war und sie um ein Haar noch gerammt hätte. Sophia Gerdes riss den Kopf herum und sah dem schwarzen Geländewagen durch die Heckscheibe hinterher, der bereits nach wenigen Augenblicken an der nächsten Straßenecke verschwunden war. Der hatte es wahrlich eilig gehabt. Sophia hatte keinen blassen Schimmer, von was für einer Marke der Wagen war. Für sie war ein Auto ein Auto. Bei dem Taxi, in dem sie gerade saß, handelte es sich um einen Lancia. Das wusste sie auch nur, weil ihr Papa früher einmal einen ähnlichen gefahren hatte. Da war sie sich ziemlich sicher. Doch ansonsten waren Autos einfach nicht so Sophias Ding. Zu laut, zu dreckig, zu hektisch. Sie selbst besaß zwar einen Führerschein, aber keinen eigenen Wagen. Wozu auch, wenn man wie sie seit Jahren auf einer autofreien Insel mitten in der Nordsee lebte. Sich selbst hinter das Steuer zu setzen, würde sie sich nach solch langer Autoabstinenz auch nicht trauen. Schon gar nicht in Neapel, wo sie alle fuhren, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her. Nein, da investierte sie lieber ein paar Euro in ein Taxi und ließ sich chauffieren. In ihrer Zeit als Jugendliche in Napoli hatte sie einen Roller besessen, von dem sie allerdings keine Ahnung hatte, wo der nach ihrem Umzug abgeblieben war. Vermutlich hatte ihr Papa das gute Stück verkauft oder entsorgt.
Überhaupt kam ihr heute vieles, was sie früher als selbstverständlich angesehen hatte, so unwirklich und beinahe beängstigend vor. So wie Neapel selbst. Dieser riesige, laute Moloch aus Steinen, Beton, Schmutz, Müll und hupenden, stinkenden Benzinkutschen am Fuße eines schlafenden Berges, welcher, wenn er explodierte, die Stadt innerhalb von Stunden oder Minuten unter sich begraben könnte.
Auf der halbstündigen Fahrt vom Airport Napoli bis nach Ercolano hatte sie dennoch gebannt dem Treiben der Großstadt zugesehen. Neapel war ihr fremd geworden, obgleich sie hier geboren worden war und den größten Teil ihres Lebens verbracht hatte. Der Gedanke, irgendwann zurück in die Heimat zu gehen, war für Sophia keine Option mehr. Zwar vermisste sie, wenn es in Ostfriesland wieder einmal stürmte und regnete, die Wärme der italienischen Sonne. Doch es war gut so, wie es gerade war. Juist, das kleine Eiland in der Nordsee, war zu ihrer neuen Heimat und ihrem Lebensmittelpunkt geworden.
Das Taxi stoppte nun direkt vor dem zweistöckigen gelben Gebäude im Corso Umberto I.
Das von außen eher schäbig wirkende Haus ihrer Eltern kam ihr heute wie aus einer anderen Welt vor. Ähnlich wie, wenn man an den Schauplatz eines Filmes oder einer Fernsehserie kam. Es war einem vertraut, weil man diesen Ort schon Hunderte Male auf der Mattscheibe in der Glotze gesehen hatte. Wenn man dann aber irgendwann einmal wirklich dort hinkam, war er einem dennoch fremd.
Die Tage, die Sophia bei der Familie in Neapel verbrachte, waren selten geworden. Der letzte Besuch lag nun ziemlich genau ein Jahr zurück. Ein Weihnachtsbesuch. Das letzte Mal hatte Ben, ihr Mann, sie begleitet. Doch der musste sich noch um den gemeinsamen Laden kümmern und würde erst am Heiligen Abend nachkommen. Am ersten Januar ging es dann wieder gemeinsam zurück nach Juist.
Das Taxi stoppte nun, Sophia stieß die Tür auf, ließ sich von dem Fahrer ihr Gepäck aus dem Kofferraum heben und bezahlte den Mann.
„Warten Sie, Signora. Ich werde Ihnen Ihre Koffer ins Haus tragen“, schlug der Fahrer vor, doch Sophia lehnte dankend ab.
Dabei fragte sie sich unwillkürlich, ob der Mann bei all seinen Fahrgästen so zuvorkommend war. Nein, vermutlich lag es entweder an dem üppigen Trinkgeld oder an ihrem Kugelbauch, der seit nun sieben Monaten stetig wuchs und sich hoffentlich Ende Januar, nach der Geburt, wieder vollständig zurückbilden würde. Sie hatte, bevor sie die Reise antrat, mit sich gehadert, die Bedenken und die Sorge, das Baby könnte früher als geplant während der Reise kommen, beiseitegeschoben.
Sie sah noch einmal flüchtig dem Taxi hinterher, warf sich dann ihren Rucksack über die Schulter, griff ihren Koffer und zog ihn hinter sich her zum Haus.
Sophia konnte nicht sagen, ob sie gerade mehr wütend oder eher doch enttäuscht war. Wochenlang hatte sie sich auf das Wiedersehen mit ihrer Mama und ihrem Papa gefreut. Nur wegen ihnen hatte sie den weiten Weg auf sich genommen. Sie hatte sich ausgemalt, wie die beiden, oder zumindest einer von ihnen, sie am Airport mit offenen Armen begrüßte. Doch nichts dergleichen war geschehen. Fast eine geschlagene Stunde hatte sie in der für italienische Verhältnisse eisigen Kälte vor dem Terminal gewartet und dabei immer wieder erfolglos versucht, ihren Papa Antonio und ihre Mama zu erreichen. Doch die beiden gingen weder an ihre Mobiltelefone noch an ihren Festnetzanschluss. Minutenlang hatte sie es klingeln lassen und sich dann total genervt ein Taxi genommen. Den Preis mit dem Fahrer hatte sie, wie es sich gehörte, zuvor rigoros ausgehandelt, dann aber vor Ort doch noch ein Trinkgeld obendrauf gepackt. So wie es in Neapel üblich war. Wäre sie eine gewöhnliche Touristin, hätte der Kerl ihr vermutlich mindestens das Doppelte oder noch mehr abgeknöpft. Doch zumindest dies hatte sie in den Jahren in Deutschland nicht verlernt.
Sophia vermutete, dass ihre Eltern sie schlichtweg vergessen hatten. Wobei sie erst gestern mit Mama telefoniert und ihr sowohl Flugnummer als auch die geschätzte Ankunftszeit mitgeteilt hatte. Doch vermutlich dachten die beiden wieder einmal, dass der jeweils andere sie abholen würde. Was aber auch nichts Neues war.
Okay, sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater waren berufstätig und irgendwie permanent gestresst. Sie war Chefärztin in der Kieferchirurgie des Ospedale del Mare und er stellvertretender Chef der Carabinieri von Neapel. Beides Jobs, in denen es gelegentlich schon einmal hektisch zuging und immer wieder etwas Unvorhersehbares dazwischenkommen konnte. Irgendein medizinischer Notfall oder im Falle ihres Vaters ein Verbrechen, das seine volle Aufmerksamkeit forderte.
Aber war es tatsächlich zu viel verlangt, sich, wenn die einzige Tochter einmal im Jahr zu Besuch kam, abzustimmen und sie am Flughafen abzuholen? Oder ihr wenigstens eine Nachricht zukommen zu lassen? Dann hätte sie sofort ein Taxi genommen und keine Stunde sinnlos gewartet.
Vor der einen spaltbreit offenen Haustür hielt sie inne. Warum war die Tür nicht geschlossen? Das war mehr als ungewöhnlich. Ihr Vater achtete immer streng darauf, dass, wenn niemand zu Hause war, die Fenster und Türen geschlossen waren.
„Hallo? Papa? Mama?“, rief sie in den geräumigen Flur und entdeckte dann das Blut auf dem hellen Steinboden.
Vorsichtig trat sie über die Schwelle und blickte sich um. Als sie die reglose Gestalt im Durchgang zum Arbeitszimmer entdeckte, schnürte es ihr die Kehle zu. Ihr Herz begann zu rasen. Sie ließ den Koffer los. Der Rucksack glitt von ihrer Schulter zu Boden.
„Papa …“, kam es beinahe unhörbar über ihre Lippen, dann rannte sie zu ihm hin und sank neben ihm auf den Boden. Früher, bevor sie sich entschied, zu Ben nach Juist zu ziehen, war es immer ihr Wunsch gewesen, Ärztin zu werden. Genauso wie ihre Mutter und vor ihr ihr deutscher Großvater Ärzte waren. Sophia versuchte, die in ihr aufkeimende Panik zu unterdrücken. Zitternd ertastete ihre linke Hand die Halsschlagader ihres Vaters, während sie mit der rechten ihr Mobiltelefon aus der Jackentasche zog, um die Nummer des Notrufs zu wählen.
Nina Moretti stand am Fenster und blickte hinaus in den Garten hinter dem Haus und beobachtete Klaus und die Zwillinge, wie sie gemeinsam die große Schneekugel auf den Rumpf des Schneemannes hievten. Na, wenigstens die drei hatten bei dem Mistwetter ihren Spaß. Ihr Ding war dieses weiße Zeug, welches seit der letzten Nacht die Häuser, Wälder und Wiesen bedeckte, nicht.
Der Winter war definitiv eine Jahreszeit, die man ersatzlos streichen könnte. Wobei ihr der Schnee schon noch lieber war als das regnerische, nasskalte Wetter der letzten Wochen.
Ihr Blick glitt zu dem großen Pool der Villa, von dem unter der weißen Pracht nicht mehr viel zu sehen war. Ja, wegen ihr könnte es langsam wieder Frühling werden. Heute war der vierzehnte Dezember. Noch sieben Tage bis zur Wintersonnenwende. Ab dann würden die Tage wieder länger. Das war zumindest ein kleiner Hoffnungsschimmer.
Das Vibrieren ihres Mobiltelefons riss Nina aus ihren Tagträumen. Sie zog das Gerät aus der Tasche ihrer Jeans und hoffte dabei inständig, dass es nicht die Arbeit war. Erleichtert stellte sie nach einem Blick auf das Display fest, dass es sich bei der Anruferin um ihre Stieftochter Sarika handelte.
„Hallo Sari“, begrüßte sie die bereits erwachsene Tochter ihres Mannes Klaus.
„Hallo Nina … gut, dass ich dich erreiche“, schluchzte Sarika, worauf Nina sogleich ein ungutes Gefühl überkam.
„Ist was passiert?“, erkundigte sie sich besorgt und war gespannt, was die junge Frau gerade so aus der Bahn geworfen hatte, dass sie kaum ein Wort herausbrachte. Ninas erster Gedanke war, dass es vielleicht irgendetwas mit ihrer Mutter Inge oder deren Lebenspartner Hans Peter Thiel sein könnte, in deren Dachgeschosswohnung Sarika und Marcello zur Miete wohnten. Erinnerungen an Hans Peters Herzinfarkt vor einigen Jahren kamen ihr in den...




