E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Krämer Mordsbrandung
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8271-8355-2
Verlag: CW Niemeyer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ostfriesland-Krimi
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-8271-8355-2
Verlag: CW Niemeyer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Mit Micha Krämer hat ein neues Talent die Szene betreten. Ich mag seine Schreibe. Er kann etwas, das langsam aus der Mode kommt: eine Geschichte erzählen und uns fesseln', schrieb Bestsellerautor Klaus-Peter Wolf einst über Micha Krämer. Dieses Talent demonstriert der Kultautor und Musiker aus dem Westerwald nicht nur in seinen zahlreichen Romanen und Jugendbüchern, sondern auch bei seinen Lesungen, die mittlerweile ganze Hallen füllen. Wer einmal mit dem Mythos Nina Moretti angefixt ist, den lassen die Geschichten rund um die junge Kommissarin nicht mehr los.
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Kapitel 1
3. Mai 2019
Insel Langeoog
Für Anfang Mai war es, zumindest behauptete dies der Wetterfrosch in der Tagesschau, eindeutig zu warm. Martin von Schlechtinger war da allerdings ganz anderer Meinung. Er fand das Wetter, so wie es war, genau richtig und so wie es sein sollte. Wegen ihm könnte es das ganze Jahr über so sein. Das Thermometer neben der Eingangstür zu Annemarie Hansens Ferienhausvermietung zeigte angenehme 24 Grad. Vom Meer her wehte eine frische Brise, und am Himmel waren nur die Kondensstreifen von Flugzeugen und vereinzelte Schäfchenwölkchen zu sehen, die, im wahrsten Sinne des Wortes, in Windeseile vorbeizogen. Auf der Insel herrschte noch Vorsaison. Eine sehr angenehme Zeit. Endlich gab es nach dem Winter wieder etwas zu tun. Aber natürlich nur so viel, wie sie es auch locker abarbeiten konnten. Die Tourismusmaschinerie lief ganz langsam an. Spätestens jedoch im Juni, wenn die ersten Bundesländer in die Sommerferien starteten, war dann Schluss mit lustig. Dann, wenn täglich Tausende von inselhungrigen Besuchern das kleine Eiland in der Nordsee stürmten, war es vorbei mit der Ruhe. Dann wurde es so hektisch, dass man sich den nächsten Winter förmlich herbeisehnte.
Martin stellte sein Fahrrad in den Fahrradständer, rückte den Latz seiner Arbeitshose gerade und schickte sich an, nach der Türklinke zu greifen, als die Bürotür vor ihm aufgerissen wurde und er beinahe mit zwei blonden Wuschelköpfen zusammengestoßen wäre, die eindeutig zu einer Frau und einem Kind auf dem Arm selbiger gehörten. Er stolperte geistesgegenwärtig zurück und wäre dabei fast über Lumpi, die Border-Collie-Hündin, gestrauchelt, die ihm wie immer wie ein vierbeiniger Schatten auf dem Fuß folgte.
„Ups“, stieß die junge Dame aus und machte einen Schlenker um ihn herum.
„Kein Problem. Et is ja noch mal alles jot gegangen“, antwortete Martin in seiner ganz speziellen Mischung aus Kölsch und Hochdeutsch.
Die Fremde riss den Kopf zu ihm herum und starrte ihn entgeistert an. Martin sah ihr in die Augen, und es war, als würde ihn ein Stromschlag treffen. Jetzt nicht nur einer, wo es so ein bisschen kribbelte, sondern einer, der so stark war, als hätte man gerade an eine Hochspannungsleitung gefasst. Sein Herz kam förmlich aus dem Rhythmus und schlug ihm nun bis zum Hals.
„Mariechen? Wat machst du da he?“, stammelte er verdattert.
„Wie bitte?“, antwortete die junge Frau nach einer gefühlten Ewigkeit.
„Ja … wat du hier machen tust?“, fragte er.
„Entschuldigung, ich glaube, das ist eine Verwechslung“, stotterte die junge Frau jedoch nur, wandte sich ab und eilte davon.
„Aber … jetzt warte doch mol … ich … “, versuchte er es erneut. Er überlegte, sie am Arm zu fassen, um sie festzuhalten, war aber unfähig, sich zu rühren. Er stand da gerade so, als würde er Wurzeln schlagen wollen. Was, wenn er sich doch irrte und sie war es gar nicht, kamen ihm nun kurz Zweifel. Auf der Erde gab es zig Milliarden Menschen, da konnte es ja schon sein, dass sich zwei so ähnlich sahen, dass man sie glatt für Zwillinge oder nun mal für ein und dieselbe Person halten konnte. Das kleine Mädchen, das über ihre Schulter auf Martin zurücksah, lächelte freundlich und winkte ihm zu, während die Blondine weiterrannte. Wie ein Roboter hob Martin ebenfalls die Hand, um dem Kind zurückzuwinken. Nur Sekunden später waren die beiden um die Hausecke verschwunden.
Martin verstand die Welt nicht mehr. Diese Begegnung gerade hatte ihn und seine Erinnerungen um Jahre zurückgeschleudert. Doch, er war sich sicher, dass sie es gewesen war. Okay, früher waren ihre Haare weder blond noch lockig, sondern eher brünett und glatt gewesen. Meist hatte sie sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden gehabt. Was aber in der heutigen Zeit ja nichts zu bedeuten hatte. Er kannte Frauen, die alle naselang ihre Haarfarbe und ihre Frisur änderten. Manche ließen sogar ihre kurzen Haare künstlich verlängern. Das nannte man dann Ecktännchens oder so ähnlich. Wie das genau ging, wusste er nicht. Es war aber jetzt auch egal. Was ihn stutzig machte, war, dass sie ihn nicht erkannt hatte … oder erkennen wollen. Wobei … nein. Sie hatte ihn erkannt. Warum sonst wäre sie so erschrocken gewesen, als er sie ansprach? Es stellte sich allerdings auch die Frage, warum sie bei seinem Anblick überhaupt erschrak. Er hatte ihr doch nichts getan. Oder doch? Nein! Überrascht hätte sie sein können. Ja, das hätte eher gepasst. Er war schließlich auch überrascht und nicht erschrocken und vor ihr fortgelaufen, so wie sie gerade vor ihm.
„Martin?“, hörte er hinter sich die fragende Stimme von Annemarie, die ihn jäh aus seinen Gedanken riss.
„Ähm ja … mein Sonnenschein?“, stammelte er und wirbelte herum.
Annemarie legte den Kopf schief. „Sag mal, is was?“
„Ähm, nä … Wieso?“, fragte er.
„Na, weil du aussiehst, als hättest du gerade einen Geist gesehen“, fand sie.
Martin überlegte kurz, ob er Annemarie von seinem Erlebnis erzählen sollte, schüttelte dann aber den Kopf und winkte ab.
„Nä, et is nix. Ich hatte nur eben jedacht, dat ich die junge Frau irjendwoher kennen tu“, antwortete er nur fast ehrlich.
Annemarie lächelte.
„Ob du es glaubst oder nicht, mein Lieber, als ich mich eben mit ihr unterhalten habe … da hab ich ebenfalls gedacht, ich würde sie irgendwoher kennen. Es hat einen Moment gedauert, bis es mir dann einfiel, warum dem so war.“
„Ja … und warum war dem dann so?“, wollte er jetzt unbedingt wissen.
„Sie hat mich an dich erinnert, mein Lieber. Weil sie genau wie du gesprochen hat. Man hat ganz deutlich ihren Dialekt gehört, obwohl sie sich bemüht hat, Hochdeutsch zu sprechen. Die kam irgendwo aus der Region Köln“, antwortete Annemarie, und Martin wurde sogleich wieder flau in der Magengegend.
„Und, hast du sie jefragt, wo sie herkütt?“, wollte er wissen.
„Brauchte ich nicht, mein Lieber. Das stand nämlich schon auf ihrer Anmeldung. Sie kommt aus Euskirchen. Das ist ja quasi von Köln direkt um die Ecke“, wusste Annemarie.
„Und wie heißt sie?“
„Haberstatt … Eva Haberstatt“, antwortete sie fast wie aus der Pistole geschossen. Martin fand es immer wieder verblüffend, wie seine bessere Hälfte sich Namen merken konnte. So etwas war gar nicht sein Ding. Martin musste sich Namen immer sofort aufschreiben. Ansonsten hatte er sie nämlich bereits nach wenigen Minuten vergessen. Eine Eva Haberstatt aus Euskirchen kannte er nicht. Da war er sich ausnahmsweise einmal ganz sicher. Aber das Gesicht, die Augen und auch die Stimme – er hätte schwören können, dass sie es gewesen war.
Aber wie hieß es doch gleich – Irren ist menschlich. Dennoch zückte er, als Annemarie zurück in ihr Büro gegangen war, seinen Notizblock und den Bleistift, um sich den Namen von Eva Haberstatt aus Euskirchen zu notieren.
*
Nina Moretti kurbelte das Fenster des betagten VW Bulli herunter und sog die frische Luft ein. Sie liebte diesen Geruch nach Meer, Salz und dem Schlick im Watt. So roch es nur an der Nordsee, und auch nur dann, wenn man diesen Geruch lange nicht wahrgenommen hatte. Es war schon merkwürdig, wie schnell sich die Nase an jegliche Gerüche gewöhnte. Über zwei Jahre waren vergangen, seit sie und Klaus zuletzt hier an der Küste gewesen waren.
„Schatz, kannst du das bitte zumachen? Es zieht den Kindern doch“, stöhnte Klaus und sah sie mit großen vorwurfsvollen Augen an.
„Quatsch, so ein bisschen frische Luft schadet doch niemandem“, entgegnete sie ihm.
„Und was, wenn Chiara wieder Ohrenschmerzen bekommt?“, wandte er ein. Nina drehte den Kopf und sah nach hinten zu der Schlafklappbank des historischen Campingmobils. Chiara schlief friedlich in ihrem Kindersitz, während Matteo, ihr Zwillingsbruder, sichtlich begeistert aus dem Fenster in Richtung Hafen blickte.
Klaus setzte den Blinker und lenkte den Bulli auf den großen Parkplatz der Fährgesellschaft, auf dem die Wagen der Inselbesucher warteten, bis ihre Besitzer zurück von der Insel kamen, um dann damit wieder nach Hause zu fahren.
„Meinst du nicht, du hättest zuerst bis zum Fähranleger fahren sollen, um mich, die Kinder und das Gepäck dort abzusetzen?“, wandte sie ein, da es schon noch ein gutes Stück bis zum Anleger zu laufen war.
„Nein, Schatz, mein ich nicht. Meine Frau hat nämlich gerade eben noch behauptet, dass ein bisschen frische Luft noch keinem geschadet hat. Da kann man auch mal ein paar Meter zu Fuß gehen. Außerdem passt ja alles in den Bollerwagen“, belehrte er sie und grinste schelmisch.
Nina resignierte, ausnahmsweise ohne irgendwelche Gegenwehr. Er hatte recht. Sie hatten ja Zeit. Niemand hetzte sie. Die Fähre, mit der sie eigentlich fahren wollten, würde erst in drei Stunden ablegen. So viel Zeitreserve hatten sie nämlich für den alltäglichen Wahnsinn auf den deutschen Autobahnen einkalkuliert, der heute wider Erwarten nicht eingetreten war. Weder am Westhofener noch am Kamener Kreuz hatte es sich gestaut. Auch das Stück A1 in Höhe Münster/Osnabrück konnten sie dieses Mal ohne Verzögerung passieren. Lotta, Ninas Freundin auf Langeoog, würde sie erst in gut vier Stunden am Bahnhof der Inselbahn abholen kommen.
Ninas Blick schweifte über den riesigen Parkplatz. Den hatte sie auch schon wesentlich voller gesehen. Man merkte es, dass die richtige Urlaubssaison erst noch bevorstand. Super, dann war es wenigstens nicht so überlaufen auf der Insel.
Erstmals würden sie, Klaus und die Zwillinge ihren...




