E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Krämer Mordskutter
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8271-8421-4
Verlag: CW Niemeyer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ostfriesland-Krimi
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-8271-8421-4
Verlag: CW Niemeyer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Mit Micha Krämer hat ein neues Talent die Szene betreten. Ich mag seine Schreibe. Er kann etwas, das langsam aus der Mode kommt: eine Geschichte erzählen und uns fesseln', schrieb Bestsellerautor Klaus-Peter Wolf einst über Micha Krämer. Dieses Talent demonstriert der Kultautor und Musiker aus dem Westerwald nicht nur in seinen zahlreichen Romanen und Jugendbüchern, sondern auch bei seinen Lesungen, die mittlerweile ganze Hallen füllen. Wer einmal mit dem Mythos Nina Moretti angefixt ist, den lassen die Geschichten rund um die junge Kommissarin nicht mehr los.
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Kapitel 1
Sonntag, 5. Juni 2022, 7:42 Uhr
Hafen/Insel Langeoog
Endlich Urlaub. Nina saß zufrieden und dick eingepackt auf der vordersten Sitzbank am Bug der ANNE II, blinzelte in die noch tief stehende Morgensonne und streckte die Beine aus. Die Luft war kühl und frisch, und es roch herrlich nach Meer. Am strahlend blauen Himmel über dem Schiff balgten sich wild zeternd einige Möwen um die Überreste eines Fischbrötchens.
„Diese verdammten Mistviecher“, schimpfte Ninas Freundin Lotta Dönges und ließ sich neben sie auf die Bank plumpsen.
„Na, lass sie doch“, meinte Nina, da sie nichts Schlimmes dabei fand, wenn die Möwen sich hin und wieder ein Stück Brot oder sonst etwas Nahrhaftes stibitzten. Leben und leben lassen. Außerdem könnte die Freundin eh nichts daran ändern, dass die Möwen da waren. Heute am Sonntag trug sie ja noch nicht einmal wie sonst in der Woche ihre Dienstwaffe.
„Nee, lass ich nicht. Diese Biester sind eine echte Plage. Die klauen alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Die sind so dreist und frech, dass sie den Kindern das Eis oder die Kekse aus den Fingern reißen“, empörte sich Lotta. Nina erwiderte nichts, sondern ließ ihren Blick über den Hafen schweifen. Gerade lief das Fährschiff LANGEOOG III ein. An der Mole unweit der ANNE II lag das Seenotrettungsboot der DGzRS. Nina könnte noch stundenlang einfach nur hier sitzen, sich umschauen und die frische Seebrise genießen. Erst gestern Abend waren sie, ihr Mann Klaus und die Zwillinge nach Langeoog angereist. Und sofort heute Morgen sollte es mit dem zu einem Ausflugsschiff umgebauten Krabbenkutter hinaus zu den Seehundbänken gehen. Chiara und Matteo sprachen seit Tagen von nichts anderem.
„Die ANNE II ist wirklich toll geworden. Sieht ganz anders aus als früher. Weißt du noch, als wir beide und Krischan damals damit nach Spiekeroog gefahren sind?“, überlegte Nina laut. Beinahe sieben Jahre war dies nun her, und ihr kam es immer noch vor, als wären nur Wochen seitdem vergangen.
Lotta kicherte.
„Ja klar, das werde ich auch niemals vergessen. Auf der Rückfahrt habe ich Krischan das erste Mal geküsst. Wenn mir damals jemand erzählt hätte, dass ich irgendwann einmal die Frau des Kapitäns werden würde … nee“, schwärmte sie und sah zum Heck des Schiffes, wo sich das kleine Steuerhaus befand, in dem Käpt’n Krischan gerade den Motor startete. Das Rumpeln im Bauch des ehemaligen Krabbenkutters war unüberhörbar.
„Stimmt, und hätte ich ihm nicht gesagt, er solle mal endlich voranmachen, bevor du dir einen anderen Traumprinzen suchst, hätte das vermutlich nichts mit euch gegeben“, erklärte Nina. Nur zu gut konnte sie sich nämlich daran erinnern, wie die beiden sich gegenseitig zwar angeschmachtet, aber sich einfach nicht getraut hatten.
„Mama, Mama, Eike sagt, man darf keine Möwen füttern“, kreischte Ninas Sohn Matteo im Vorbeilaufen. Nina packte den kleinen Wildfang und hob ihn zu sich auf den Schoß.
„Ja, da hat der Eike recht“, belehrte sie ihn.
„Und warum?“, wollte der beinahe Fünfjährige wissen.
Als Nina schon antworten wollte, vernahm sie von unter sich aus dem Bauch des Schiffes ein lautes Knirschen und Rumpeln. Dann starb der Motor ab. Sie sah zu Lotta, die sich erneut mit nun besorgtem Blick in Richtung des Steuerhauses umblickte.
„Was war das?“, wollte Nina wissen.
„Keine Ahnung. Das hatten wir auch noch nicht“, erwiderte die Freundin. Nina setzte Matteo zurück auf den Boden und erhob sich. Gut zwei Dutzend Fahrgäste befanden sich an Deck des betagten Krabbenfängers. Klaus, Ninas Mann, saß mit Krischans Onkel Piet Dönges, einem ehemaligen Käpt’n der Langeooger Fährgesellschaft, auf der Bank vor dem Steuerhaus. Auf seinem Schoß die kleine Chiara.
Kapitän Krischan hatte sein Steuerhaus verlassen und verschwand gerade durch die Luke, durch die es in den Bauch des Schiffes ging. Dort befanden sich neben einer Kajüte auch eine Toilette und der Maschinenraum.
„Hoffentlich ist nichts kaputtgegangen. Die Saison hat doch gerade erst angefangen“, stöhnte sie.
„Geht denn an so einem alten Schiff oft etwas in die Brüche?“, wollte Nina wissen.
Lotta schüttelte den Kopf.
„Nein, die ANNE II ist in einem Topzustand. Bisher war noch nie irgendwas Größeres defekt. Aber das gerade hörte sich nicht gut an“, erklärte sie.
Nina, deren Blick noch immer auf die Luke gerichtet war, entdeckte Krischan, der zurück auf Deck stieg und zu ihnen herüberkam. Der große, schlaksige Kerl mit den strubbeligen blonden Haaren und den leuchtend blauen Terence-Hill-Augen wirkte reichlich blass um die Nase.
„Lotta, du musst sofort kommen … das Getriebe …du, der ist mausetot … Nina, du auch“, stammelte er wirres Zeug. Nina bemerkte, wie seine Hand zitterte, als er nach Lotta griff, um sie mit sich zu ziehen.
„Mensch, Krischan, was ist denn los?“, zischte diese und sah sich um, als sei es ihr vor den Fahrgästen peinlich. Nina folgte den beiden durch die Reihen der Passagiere. Was Krischan ihnen beiden wohl zeigen wollte? Nina hatte keinerlei Ahnung von Schiffsantrieben oder was auch immer eben kaputtgegangen sein könnte. Dass mit der ANNE II etwas nicht stimmte, war offensichtlich.
Im Vergleich zu draußen war die Luft unter Deck irgendwie schwerer. Nicht direkt muffig. Die verschiedensten Gerüche überlagerten sich. Es roch nach Tee und Kaffee, aber auch irgendwie nach Öl und Werkstatt. Krischan eilte mit Lotta durch den Salon, wie er die kleine Kajüte unter Deck nannte, in der sich die Fahrgäste bei schlechtem Wetter, beengt wie die Ölsardinen in der Dose, aufwärmen konnten. Am Ende des Raumes stand die Luke zum Maschinenraum offen. Nina kannte die kleine stählerne Tür mit den schweren Riegeln von früheren Fahrten. Dass sich dort der Motor des kleinen Schiffes befand, war auch nie zu überhören gewesen. Sie hatte ja früher sogar schon mal hier unten während der Fahrt geschlafen. Da, wo damals die Schlafkojen waren, befanden sich heute Sitzgelegenheiten und ein Tisch für die Passagiere. Eigentlich schade. Als Hausboot hatte der Kahn ihr persönlich besser gefallen.
„Ich glaub, das Getriebe zwischen der Welle und dem Motor ist hin“, jammerte Krischan, und Nina hatte den Eindruck, als kämen dem jungen Mann gleich die Tränen. Dennoch stellte sich Nina die Frage, wie sie und Lotta da helfen sollten. Sie waren keine Mechaniker, sondern Polizistinnen.
„Das ist Sabotage. Warum hat er das bloß gemacht? Ich hab doch keinem was Böses getan“, meinte Krischan und stieg als Erster durch den engen Durchgang. Nina sah, wie Lotta sich anschickte, über die etwas erhöhte Türschwelle zu steigen, dann aber zurückstolperte. Nina trat schnell einen Schritt vor und hielt die Freundin fest, da sie Angst hatte, Lotta könnte stürzen. Das ungute Gefühl in Ninas Magengegend wuchs.
„Verflixt, das kann doch nicht wahr sein“, hörte sie Lotta, die von dem, was sie gesehen hatte, wahrlich schockiert schien. Nina musste jetzt wissen, was los war. Sie schob Lotta zur Seite und sah durch das Schott in den hell erleuchteten Maschinenraum. Der war gar nicht so dreckig, wie sie es sich vorgestellt hatte. Nein, alles war penibel sauber und frisch gestrichen. Alles tipptopp, wenn da nicht die große Blutlache unter dem Kopf des reglosen Körpers gewesen wäre.
*
Ein Inselpolizist wie Polizeihauptmeister Onno Federsen war in der Saison quasi immer im Dienst. Selbst wenn er wie heute noch zu Hause in seinem Bett lag. Es war lang geworden gestern Abend. Bis nach Mitternacht hatte er mit seiner besseren Hälfte Tine vor dem Fernseher gehockt und diese Serie angesehen. Eigentlich machte sich Onno nichts aus Fernsehen. Natürlich schaute auch er sich mal einen Film oder eine interessante Dokumentation an. Krimis mochte er am liebsten. Wobei die ja mit richtiger Polizeiarbeit eigentlich gar nichts zu tun hatten. Und schon gar nicht mit den Aufgaben eines Inselpolizisten auf Langeoog.
Der Hauptunterschied zwischen einer Insel und dem Festland war das Wasser drum herum. Ein Schutz vor Gaunern, Verbrechern, Autos und sogar tollwutbringenden Füchsen. Im Sommer, also in der Hauptsaison, konnte Onnos Job schon mal stressig werden. Dann, wenn täglich Tausende Touristen über das kleine Eiland herfielen. Darunter waren dann auch solche, die seit ihrer Kindheit kein Fahrrad mehr angefasst hatten und nun meinten, sie müssten sich hier auf der Insel mit einem gemieteten Drahtesel in das Getümmel stürzen. Wobei stürzen in einigen Fällen die Sache sehr gut beschrieb. Und wer wurde dann wieder gerufen, wenn es gekracht hatte? Die Polizei! Zum Glück war Onno nicht der Einzige seines Berufsstandes auf der Insel. Außer ihm gab es nämlich noch die Polizeimeisterin Lotta Dönges, die allerdings seit der Geburt ihres Sohnes Eike nur noch eine halbe Stelle bekleidete.
Es war deshalb mehr als ungewöhnlich, dass an diesem Sonntagmorgen ausgerechnet Lottas Name auf dem Display seines Mobiltelefons stand, als er verschlafen darauf blickte. Sofort richtete er sich auf. Wenn Lotta so früh bei ihm anrief, musste etwas passiert sein. Noch dazu wo die Kollegin ihm gesagt hatte, dass sie heute Morgen mit ihren Freunden hinaus auf See wollte und er daher eigentlich alleine klarkommen musste.
Mit einer bösen Vorahnung nahm er das Gespräch an.
Und tatsächlich … das, was Lotta ihm zu sagen hatte, klang gar nicht gut.
„Ein Toter … bist du sicher?“, fragte er vorsichtshalber noch einmal nach und hielt dann, als die doch sehr lautstarke Antwort kam, das Gerät so weit weg, wie sein ausgestreckter...




