E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Krämer NEANDER
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8271-9698-9
Verlag: CW Niemeyer
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-8271-9698-9
Verlag: CW Niemeyer
Format: PDF
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Micha Krämer wurde 1970 in Kausen, einem kleinen 700-Seelen-Dorf im nördlichen Westerwald, geboren. Dort lebt er noch heute mit seiner Frau, zwei mittlerweile erwachsenen Söhnen und seinem Hund. Der regionale Erfolg der beiden Jugendbücher, die er 2009 eigentlich nur für seine eigenen Kinder schrieb, war überwältigend und kam für ihn selbst total überraschend. Einmal Blut geleckt, musste nun ein richtiges Buch her. Im Juni 2010 erschien 'KELTENRING', sein erster Roman für Erwachsene, und zum Ende desselben Jahres folgte sein erster Kriminalroman 'Tod im Lokschuppen', der die Geschichte der jungen Kommissarin Nina Moretti erzählt. Was als eine einmalige Geschichte für das Betzdorfer Krimifestival begann, hat es weit über die Region hinaus zum Kultstatus gebracht. Inzwischen findet man die im Westerwald angesiedelten Kriminalromane in fast jeder Buchhandlung im deutschsprachigen Raum. Neben seiner Familie, dem Beruf und dem Schreiben gehört die Musik zu einer seiner großen Leidenschaften.
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KAPITEL 1
Mit einem lauten Krachen ?el die Haustür ins Schloss. Diese blöden Spießer, die hatten doch überhaupt keine Ahnung. Warum behandelten die sie so? Schließlich war sie kein Kind mehr, das man herumschubsen konnte und dem man sagen musste, was richtig oder falsch war. Was für sie gut war oder nicht, das konnte sie wohl allein am besten entscheiden. Sabine Schiller stülpte den Helm über, setzte sich auf ihre alte Zündapp und trat das Mofa wutentbrannt an. In zwei Monaten würde sie achtzehn werden und endlich ausziehen können. Wohin, wusste sie nicht. Das war auch egal, Hauptsache weg von ihren rechthaberischen Eltern. Am liebsten in Richtung Limburg, wo sie seit einem Jahr eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin absolvierte. Sie würde damit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Erstens entkäme sie endlich der Bevormundung ihrer Eltern und zweitens könnte sie morgens länger ausschlafen. Die einstündige Fahrt mit dem Bus nervte schon gewaltig. Jeden Morgen eine Stunde hin und nachmittags wieder eine Stunde zurück. Mit dem Auto, über die A3, waren es bis Limburg noch nicht mal zwanzig Minuten, aber der blöde Omnibus musste ja in jedem der doofen Westerwaldkäffer auf der Strecke anhalten. Im Augenwinkel bemerkte sie ihren Vater, der mit hochrotem Kopf nun in der Haustür stand und ihr irgendetwas hinterherschrie. Sollte er doch. Ihretwegen konnte er schreien, bis er schwarz wurde. Sabine drehte mehrmals am Gashebel. Der Zweitakter röhrte rhythmisch. Dann legte sie den ersten Gang ein, ließ die Kupplung kommen und schoss aus der Einfahrt auf die Straße. Je weiter sie sich von ihrem Elternhaus entfernte, desto besser fühlte sie sich und desto mehr beruhigte sie sich. Ginge es nach ihren Eltern, müsste sie heute Abend brav mit ihnen zu Hause hocken und Scrabble spielen. Familienabend. Pah, ihre Familie konnte sie mal. Heute war Freitag. Freitags ging man aus. In die Diskothek nach Elz. Zu Hause hocken und Scrabble spielen konnte sie später im Altenheim genug. Sie war jung und wollte unter Menschen sein, und wenn ihre Eltern das nicht kapierten, dann war das deren Pech. Der Tacho des Mofas bewegte sich zitternd auf die fünfzig zu. Sabine musste grinsen. Die zwanzig Mark, die sie Tobi und Mark gegeben hatte, damit die beiden die alte Kiste ein wenig frisierten, hatten sich gelohnt. Die Höchstgeschwindigkeit des Fahrrads mit Hilfsmotor hatte sich tatsächlich verdoppelt. So kam man wenigstens voran. In Malmeneich bog sie auf die B8 in Richtung Elz ab. Es dämmerte bereits, und als sie das Stück durch den Wald kurz vor Elz fuhr, war sie froh, dass Tobi noch am Nachmittag das Birnchen in dem kleinen Scheinwerfer ausgetauscht hatte. Schnell wie der Wind schoss die alte Zündapp das leichte Gefälle hinunter und um ein Haar wäre sie an der Abbiegung zum Industriegebiet, in dem sich die Diskothek befand, vorbeigerauscht.
Vor der Disco wartete Annika auf sie. Annika lernte, genau wie Sabine, Zahnarzthelferin und genau wie sie, war die Freundin nun im zweiten Lehrjahr. Allerdings bei der Konkurrenz, wenn es so etwas bei Ärzten gab. Sie beide kannten sich aus der Berufsschule. Annika war ein Jahr älter als sie und wohnte seit Kurzem mit André, ihrem neuen Freund, in einer kleinen Wohnung mitten in der Limburger Innenstadt. Ein Zustand, von dem Sabine nur träumen konnte. Eine eigene Wohnung, natürlich in ihrem Fall ohne André, da der Typ ein Idiot war. Sie selber war derzeit solo. Wobei vielleicht nicht der richtige Ausdruck war, da sie bisher noch nie mit einem Jungen gegangen war. Es war halt noch nicht der Richtige dabei gewesen.
Sie musste an Tobi denken. Eigentlich fand sie den Sohn ihrer Nachbarin nett. Tobi hatte sie auch neulich erst gefragt, ob sie mit ihm gehen wollte, doch Sabine hatte sein Angebot ausgeschlagen. Tobi war fünfzehn, also zwei Jahre jünger als sie. Außerdem kannten sie sich schon ewig. Er war mehr wie ein kleiner Bruder für sie. So etwas ging doch gar nicht.
Annika lehnte lässig an Andrés altem Opel Ascona und zog an einer Zigarette. Sabine parkte das Mofa direkt daneben, stieg ab und begrüßte die Freundin mit einer Umarmung. Dann deutete Annika auf André, der einige Meter entfernt mit zwei Jungs bei einem tiefergelegten VW Golf stand und wild gestikulierte.
„Siehst du den Typ mit dem schwarzen Hemd?“, flüsterte sie verschwörerisch.
Natürlich sah Sabine ihn. Der Zwei-Meter-Kerl mit dem hellblonden Bürstenschnitt war schließlich nicht zu übersehen.
„Was ist denn mit dem?“, hakte sie deshalb nach.
Annika kicherte und flüsterte dann: „Das ist Volker, ein Freund von André. Er ist momentan solo.“
Sabine verstand nicht.
„Na und? Ich dachte, André wäre deine große Liebe?“
Annika verdrehte die Augen.
„Klar, du Dummchen. Ich dachte da ja auch eher an dich.“
Sabine schüttelte energisch den Kopf.
„Quatsch. Spinnst du? Was soll ich denn mit so ’nem alten Sack? Der ist doch schon mindestens Ende zwanzig.“
Annika schüttelte den Kopf.
„Mensch Bine, besser ’nen richtigen Kerl, der zehn Jahre älter ist, als so einen Milchbubi wie diesen Tobi.“
In diesem Moment ärgerte sich Sabine, der Freundin von Tobi erzählt zu haben. Aber sie hatte vermutlich recht. Dieser Volker besaß immerhin ein Auto und so ganz hässlich war er auch nicht. Annika nahm ihr den Helm ab, warf ihn auf den Beifahrersitz des Opel Ascona und zog sie mit zu den jungen Männern. Dort angekommen, stellte sie Sabine vor. Dieser Volker war, aus der Nähe gesehen, noch weniger ihr Typ als André. Trotzdem ließ sie sich nachher von ihm, als sie endlich in der Disco waren, aushalten. Volker konnte quatschen wie ein Wasserfall. Das Wichtigste in seinem Leben schien die Bundeswehr zu sein. Dicht dahinter kam sein Golf GTI, von dem er ununterbrochen sprach. Sabine wusste noch nicht mal, was das ganze Auto-Chinesisch bedeutete. Zwar hatte sie Begriffe wie Nockenwelle und Einspritzpumpe schon einmal gehört, aber wo die Teile hingehörten, war ihr schleierhaft und eigentlich auch ziemlich egal. Tanzen war für den Typen ein Fremdwort. Dazu kam, dass er sein Bier schneller herunterkippte als er nachbestellen konnte. Sie hingegen trank nur Cola.
Als sie gegen halb zwölf auf die Uhr sah, torkelte Volker gerade Richtung Toilette. Sie hatte nicht unhöflich sein wollen, trotzdem sah sie nun ihre Chance. Sie schaute sich um – er war nirgends zu sehen. Annika stand einige Meter entfernt mit André an einem Pfeiler und knutschte. Sie ließ das halb volle Glas auf dem Tresen stehen. Die letzte Coke hatte eh merkwürdig bitter geschmeckt. Dann schob sie sich durch die Menge zu der Freundin, tippte ihr auf die Schulter und schrie gegen das Dröhnen der Lautsprecherboxen: „Ich brauche meinen Helm.“
Annika sah sie verwirrt an.
„Warum? Willst du etwa schon los?“
Sabine nickte nur. Annika löste sich von André und beide gingen in Richtung Ausgang. Die frische Luft, die Sabine entgegenschlug, als sie endlich ins Freie trat, tat gut. Obwohl sie nur Cola getrunken hatte, war ihr fürchterlich komisch. Sie fühlte sich schwindlig und leicht benommen.
„Ach Mensch, Bine“, maulte Annika. „Du willst doch nicht schon nach Hause?“
Sie antwortete nicht, sondern ging schnurgerade auf den Ascona zu. Sie wollte nach Hause, einfach nur nach Hause in ihr Bett. Und das sofort!
„War der Typ denn so schlimm?“, hörte sie Annika hinter sich fragen.
Sabine blieb stehen und wirbelte herum. Dabei wurde ihr so schwindelig, dass sie beinahe gestürzt wäre.
„Nee, noch schlimmer. Der Freak hat mich über zwei Stunden lang nur von seiner blöden Karre vollgelabert!“
Annika verdrehte die Augen.
„Mann Bine, so sind die Typen alle, da gewöhnst du dich schon dran. Das hört auf, wenn du mit ihnen das erste Mal in der Kiste gewesen bist. Danach entwickeln die auf einmal ganz andere Interessen.“
Sabine glaubte, sich verhört zu haben. Niemals würde sie mit so einem Proll wie diesem Volker in die Kiste gehen. Allein der Gedanke daran ekelte sie.
„Gib mir den Helm. Ich muss nach Hause“, erklärte sie nun entschlossen und ging die letzten Schritte zu dem Opel.
Dabei blinzelte sie immer wieder mit den Augen. Verflucht, warum sah sie denn plötzlich alles so verschwommen?
„Sach ma, hast du was getrunken?“, erkundigte sich Annika, als sie ihr den Motorradhelm reichte.
Sie klang nun besorgt. Sabine schüttelte den Kopf.
„Nein, ich bin nur müde.“
„André kann dich fahren“, schlug die Freundin vor.
Sabine lehnte ab. Sie würde einfach das Visier auf lassen. Das Einzige, was ihr jetzt fehlte, war frische Luft. Sie stieg auf die Zündapp, drehte den Schlüssel um und trat den Motor an.
Als sie auf die Bundesstraße abbog, musste sie trotz der enormen Konzentration, die die Fahrt in der Nacht ihr heute abverlangte, an Tobi denken. Sie wünschte sich in diesem Moment so sehr jemanden zu haben, der ihr zuhörte und mit dem sie reden könnte. Vielleicht sollte sie doch mit ihm gehen? Was waren schon zwei Jahre Altersunterschied? In dem zitternden Rückspiegel nahm sie die Scheinwerfer eines Autos wahr, das einige Hundert Meter hinter ihr den Berg hinaufkroch, aber, wie es schien, nicht näher kam. Immer wieder sah sie von nun an in den Rückspiegel. Waren das die Bullen? Schauten die etwa, wie schnell sie fuhr? Verdammt, wenn die Polizei sie mit dem frisierten Mofa anhielt, konnte sie ihren Autoführerschein mit achtzehn vergessen. Einem Freund war es ähnlich gegangen. Zu allem Übel, wurde mit jedem Meter, den sie fuhr, das Schwindelgefühl stärker. Kurz vor Malmeneich...




