E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Krämer Sand in der Kimme
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8271-8338-5
Verlag: CW Niemeyer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ostfriesland-Krimi
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-8271-8338-5
Verlag: CW Niemeyer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Mit Micha Krämer hat ein neues Talent die Szene betreten. Ich mag seine Schreibe. Er kann etwas, das langsam aus der Mode kommt: eine Geschichte erzählen und uns fesseln', schrieb Bestsellerautor Klaus-Peter Wolf einst über Micha Krämer. Dieses Talent demonstriert der Kultautor und Musiker aus dem Westerwald nicht nur in seinen zahlreichen Romanen und Jugendbüchern, sondern auch bei seinen Lesungen, die mittlerweile ganze Hallen füllen. Wer einmal mit dem Mythos Nina Moretti angefixt ist, den lassen die Geschichten rund um die junge Kommissarin nicht mehr los.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Juli 2017
Strand Insel Langeoog
Martin von Schlechtinger liebte die Wintermonate auf seiner Insel. Dann, wenn die Winterstürme über das alte Friesenhaus fegten und sich das Leben ein wenig verlangsamte, war seine Jahreszeit. Klar mochte er auch den Sommer. Früher, als er noch in Köln-Kalk lebte, hatte er ihn regelrecht herbeigesehnt. Weil … Winter am Rhein, das war ja überhaupt nicht schön, weil dann irgendwie alles so graubraun war. Dazu der ewige Nieselregen. Fürchterlich! Doch die Zeiten und Menschen änderten sich. Sogar ein Martin von Schlechtinger. Seit beinahe drei Jahren lebte und arbeitete er nun auf Langeoog. Er verließ die Insel nur selten, und das war auch in Ordnung so. Er brauchte die weite Welt nicht, um zufrieden zu sein. Die Winter hier auf seiner Insel waren, zumindest empfand er dies so, bei Weitem nicht so trostlos wie die in seiner alten Heimat. Doch Farben und Klima waren auch eher zweitrangig. Im Leben ging es doch um viel mehr als nur um das Wetter und ob die Bäume grün waren. Hier auf Langeoog zum Beispiel brach jedes Jahr mit dem Frühling nicht nur die warme Jahreszeit, sondern auch die Saison an. Regelrechte Scharen, Tausende von Touristen, brachten dann wieder Unruhe auf das kleine ostfriesische Eiland. Klar waren die Touristen auch wichtig für die Insel. Ohne diese und das Geld, das sie daließen, wären die Einheimischen ganz schön aufgeschmissen. Das war Martin schon klar. Langeoog lebte schließlich vom Tourismus. Dennoch musste Martin im Sommer beinahe täglich und sehr wehmütig an die gemütlichen Wintermonate denken, dann wenn die Urlauber nicht da waren. Aber es half nichts. Wenn er etwas im Leben gelernt hatte, dann war es das, dass man immer das Beste aus der jeweiligen Situation machen musste. Und die beste Zeit im Sommer war eindeutig der Sonnenaufgang.
Jeden Morgen schälten er und Annemarie sich deshalb bereits vor dem ersten Hahnenschrei aus den Federn und genossen die Zeit, in der die Urlauber noch in ihren Betten schlummerten. Dann wenn der Strand noch leer war und keine johlenden Kinder durch die Dünen streiften. Zu seinem Glück war Martin, genau wie Annemarie, ein Frühaufsteher. Während seine bessere Hälfte konsequent jeden Morgen eine Stunde am Strand entlangjoggte, radelte er mit dem Fahrrad über die Insel und genoss die frische Brise, die über das Meer aus fernen Ländern herbeiwehte. Einfach nur herrlich. Heute war er, wie so oft, früh morgens an den Strand geradelt. Natürlich nicht direkt am Dorf, da wo die ganzen Strandkörbe standen. Nein, er war zuerst bis zur Inselmitte an die Melkhörndüne gestrampelt und erst dort nach links zum Strand abgebogen. Er hatte sein Rad abgestellt, sich entkleidet und sich in die kalten Fluten gestürzt. Eine sehr erfrischende Angelegenheit. Er schwamm dann immer einige Meter hinaus aufs Meer und ließ sich von den Wellen zurück an den Strand tragen.
Auch heute saß er nach seinem Bad, wie Gott ihn geschaffen hatte, im feinen Sand und genoss die Ruhe. Mit geschlossenen Augen lauschte er der Brandung und dem Gekreische der Möwen. Neben ihm lag fein säuberlich der Stapel mit seiner Kleidung, und in der Hand ruhte seine Meerschaumpfeife. Er schätzte, dass es nicht später als sechs Uhr in der Früh war. Genau wusste er es nicht, da er weder eine Uhr noch ein Handy dabeihatte. Wozu auch. Seine innere Uhr funktionierte doch noch tadellos. Nach ihr waren es noch gut und gerne zwei Stunden Zeit, sich für die Arbeit fertigzumachen. Er zündete deshalb in aller Seelenruhe die Pfeife an, sog den Rauch ein und beobachtete die Wellen, die an den Strand rollten. So ein Sandstrand war schon etwas Schönes. Obwohl er natürlich auch Nachteile barg. Dann zum Beispiel, wenn der Sand sich in jede Ritze der nassen Haut setzte und dort wie Paniermehl auf einem Schnitzel klebte. Besonders unangenehm war es, wenn man, wie Martin, nachher noch auf dem Sattel des Fahrrades sitzen und bis zum Dorf radeln musste. Sand in der Kimme, wie man den Landstrich unterhalb des Rückens in Köln zu nennen pflegte, war eine äußerst unangenehme Sache. Da half nur eins. Gleich, vor der Abfahrt, noch einmal gut im Meer durchspülen, sorgfältig abtrocknen und dann bloß nicht noch mal in den Sand setzen, bevor man seinen Schlüpfer angezogen hatte.
Heute war es relativ windstill. Wobei der Wind hier am Strand immer ein bisschen wehte, auch wenn man ihn im von den Dünen geschützten Inneren der Insel kaum noch wahrnahm. Martin blies den aromatisch nach Vanille schmeckenden Rauch in den klaren Morgenhimmel und lauschte wieder dem Gezeter einiger Möwen. Er stutzte: War da nicht noch ein anderes Geräusch? Etwas, das klang wie ein klägliches Jaulen? Er konzentrierte sich auf die Misstöne, die hier definitiv nichts zu suchen hatten. War das vielleicht ein Seehundbaby, ein Heuler, der von seiner Mutter getrennt worden war und jetzt um Hilfe rief? Also jetzt nicht so wie ein Mensch, sondern in der Sprache der Seehunde eben.
Martin klopfte seine Pfeife aus und griff sich seine Latzhose. Nachdem er sie angezogen hatte, ging er langsam in die Richtung, aus der das Klagen kam. Den Sand, der jetzt in seiner Hose scheuerte, würde er später noch unbedingt entfernen müssen, bevor er sich da was wund scheuerte. So etwas ging rapzap und war nicht zu unterschätzen. Jetzt interessierte ihn erst einmal nur, welches Geschöpf sich da gerade so zu quälen schien. Nein, ein Heuler war das nicht, die klangen anders. Vielleicht eine ausgewachsene Robbe, die sich in einem alten Fischernetz verheddert hatte? Ja, das könnte schon eher sein. Da stellte sich allerdings die Frage, wie das Tier und das Netz zwischen die Dünen geraten waren, die ja schon einige Meter von der Wasserlinie entfernt waren. Auf allen vieren kraxelte er durch den losen Sand eine sehr steile Düne empor und staunte nicht schlecht, als er in das Tal dahinter blicken konnte.
„Ja, wat bist du denn für einer?“, fragte er den pechschwarzen Hund mit dem Zottelfell, den Schlappohren und der schneeweißen Zeichnung auf der Schnauze bis hoch zu den Augen.
Natürlich konnte er nicht verstehen, was das Hundchen ihm antwortete. Doch egal was es war: Es klang äußerst jämmerlich. Vorsichtig rutschte Martin die Düne herunter, bis kurz vor das struppige Etwas. Durch das Wimmern des Tieres hörte er das Klappern von Metall. Als er die Ursache des metallischen Klirrens herausfand, fühlte er plötzlich eine unermessliche Wut in sich aufsteigen. Die rechte Vorderpfote des armen Tieres steckte in einem rostigen Eisending, das an einer Kette hing, die wiederum an einem Pflock im Sand befestigt war.
„Ja, wo gibt dat denn sujet“, schimpfte er und näherte sich vorsichtig dem armen Hund, der tatsächlich in einer Tierfalle steckte. Martin kannte diese Art von Fallen nur aus dem Fernsehen. Mit solchen Dingern fingen die Trapper im Wilden Westen Bären und anderes Getier. Wer zum Teufel stellte so ein Mistding bloß hier zwischen den Dünen auf Langeoog auf? Hier gab es doch weder Bären noch Wölfe. Er musste handeln.
„Jetzt pass mo uff, liebes Hundchen. Mir zwei, mir machen jetzt ene Geschäft. Der liebe Onkel Maddin, der befreit dich jetzt aus dem Dingens da, und dafür tust du den nit beissen tun. Verstanden?“, schlug er dem Vierbeiner vor. Martin konnte nicht sagen warum, aber er hatte tatsächlich das Gefühl, das Hundchen würde ihn verstehen. Er ging in die Hocke und krabbelte dann auf allen vieren, ganz vorsichtig, weiter auf das Tier zu. Als Kind hatte Martin sich immer einen Hund gewünscht, doch seine Eltern waren strikt dagegen gewesen. Einmal hatte er einen Dackel, den er am Rheinufer gefunden hatte, mit nach Hause gebracht und ihn in seinem Zimmer versteckt. Als sein Vater es rausbekam, hatte er dem kleinen Martin wie so oft die Hosenbeine stramm gezogen. Aber so etwas von heftig. Er hatte zwei Tage nicht sitzen können, so weh hatte sein Hinterteil getan, nachdem der hölzerne große Kochlöffel darübergetanzt war. Dagegen war das bisschen Kratzen an seinem Popo, von dem feinen Sand in seiner Latzhose, heute beinahe eine wahre Wohltat. Die fuffzig Mark Finderlohn, die der Besitzer des Dackels damals springen ließ, hatte sein alter Herr aber dann doch gerne eingesteckt und sofort in der nächsten Kneipe versoffen. Alles in allem ein Kindheitserlebnis, das sich in Martins Hirn förmlich eingebrannt hatte. Vorsichtig streckte Martin dem Hund seine Hand hin. Das Tier knurrte kurz, schnüffelte dann aber interessiert und begann schließlich wieder zu winseln. Der erste Schritt war also schon mal getan. Vorsichtig näherte er sich dem Kopf des Tieres und strich nun über das lange flauschige Fell. Erst jetzt sah er, dass nicht nur ein Teil des Kopfes zwischen den Augen weiß war, sondern auch alle vier Pfoten. Er überlegte, was das wohl für eine Rasse war. Er hatte keine Ahnung. Es war jetzt im Moment auch vollkommen egal.
„Ja, der Onkel Maddin … der tut dir nix. Der will dir nur helfen“, beruhigte er das Hundchen und besah sich die blutende Wunde oberhalb der Hundepfote. Das sah ja gar nicht gut aus.
„Lumpi, du musst jetzt ganz tapfer sein“, erklärte er dem Tier, das er soeben auf den Namen getauft hatte,
den er vor vierzig Jahren schon einmal dem Funddackel gegeben hatte. Dann fasste er mit beiden Händen die
rostige Bärenfalle und drückte sie mit aller Kraft auseinander. Das Hundchen fiepte und machte einen Satz nach hinten.
„Siehste, Lumpi, dat war doch gar nit so schlimm“, meinte er zu dem Hund, der nun sogar mit dem Schwanz wedelte. Martin betrachtete noch einmal die Wunde am Vorderlauf des Hundes. Also, gut sah das nicht aus. Nein, ganz und gar nicht. Es wäre wohl das Beste, wenn er den Hund zu einem Tierarzt brächte. Dumm war nur, dass es auf der Insel keinen Veterinär...




