Interpretationshilfe für Oberstufe und Abitur
E-Book, Deutsch, Band 8, 128 Seiten
Reihe: Klett Lektürehilfen
ISBN: 978-3-12-923989-6
Verlag: Klett Lerntraining bei PONS Langenscheidt
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Die Natur ist ein beliebtes Motiv in der Lyrik, ob als Erlebnis- oder geheimnisvoller Bedeutungsraum, Ort der Sehnsucht oder der Erkenntnis. Durch alle Literaturepochen hindurch beschäftigen sich Dichter mit der Natur. Spannend ist dabei, wie sich das Bild im Laufe der Zeit ändert, der Mensch immer wieder neu seinen Vorstellungen anpasst.
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Klassik (1786–1805) – Natur als Symbol
Epochenspezifische Merkmale Erziehung des Menschen zur Humanität Ideal der griechischen Antike Versöhnung von Gegensätzen Weiterführung des Autonomiegedankens Natur als Gleichnis des Menschen Reflexion und Gedankenlyrik Goethes „vormoderner“ Naturbegriff als lebendiges Anschauen der Natur Wie die Aufklärer gingen die klassischen Autoren Goethe (1749–1832), Herder (1744–1803) und Schiller (1759–1805) von der Erziehbarkeit des Menschen zum Guten aus. Ziel war die Humanität, die wahre Menschlichkeit (das Schöne, Gute, Wahre). Den Erziehungsgedanken und das Ideal des wahren, umfassend gebildeten Menschen hat Schiller in seiner Schrift Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) entfaltet. Der Mensch sollte nicht nur einzelne Tugenden, wie z. B. Toleranz und Nächstenliebe, besitzen, sondern einem Ideal zustreben, das mit dem Begriff der Harmonie umschrieben wurde. Dies bedeutete, dass alle menschlichen Kräfte und Fertigkeiten gleichermaßen ausgebildet werden sollen: Gefühl und Verstand, künstlerisches Empfinden und wissenschaftliches Denken, theoretisches Erfassen und praktische Umsetzung. Diese Eigenschaften sollen eine ausgewogene Einheit bilden. Hierbei spielt der Gedanke der Versöhnung von Gegensätzen eine wichtige Rolle. Verwirklicht sahen die Klassiker dieses Ideal in der griechischen Antike; die Griechen des klassischen Altertums hätten – jeder Einzelne und die gesamte Gesellschaft – ihre Kräfte allseitig und harmonisch entfaltet wie kein Volk zuvor oder danach. In der Natur sei dieses Ideal nach Goethes Auffassung bereits Wirklichkeit. Zeit seines Lebens versuchte er, die mannigfaltigen Erscheinungsformen der Tier- und Pflanzenwelt auf bestimmte Urformen zurückzuführen, aus denen sich dann seiner Meinung nach die einzelnen, konkreten Formen durch Metamorphose entwickelt haben. Er entdeckte auch den Zwischenkieferknochen beim Menschen. Vor Goethe hatte das angebliche Fehlen dieses Knochens, der beim tierischen Schädel im Gegensatz zum menschlichen deutlich ausgeprägt ist, als Beweis dafür gegolten, dass der Mensch eine eigenständige Schöpfung der Natur (d. h. Gottes) sei. Durch seine Entdeckung zeigte nun Goethe Jahrzehnte vor dem Evolutionstheoretiker Charles Darwin (1809–1882) den Zusammenhang zwischen Tier- und Menschenwelt und damit die Einheit (Harmonie) der Natur. Er folgerte daraus die Analogie zwischen menschlichem Empfinden und naturhaftem Schaffen, zwischen dem Inneren des Subjekts und dem Äußeren der Natur. Kunst galt als Vorschein des Idealzustands. Mit ihrer Hilfe sollte die Veränderung des Einzelnen bewirkt werden. Dabei griff man auf den Erziehungsgedanken der Aufklärung zurück. Durch die Beschäftigung mit Kunst sollten sich die Menschen allmählich diesem Idealzustand annähern. Dabei nahm man in Kauf, dass sich dieses Unterfangen zunächst auf einen kleinen Kreis von Gebildeten beschränkte, einen Kreis, der sich mit der Zeit vergrößern würde. Aber der dahinter liegende Gedanke blieb bis in die Gegenwart lebendig: Die Poesie dient dazu, die Natur menschlich und den Menschen natürlich zu machen. In der Tradition des abendländischen Denkens verbinden sich mit dem Wort Natur die Vorstellungen vom Selbstständigen, Freien, Ursprünglichen, Inneren und Ungebundenen. Man spricht auch davon, „seiner Natur freien Lauf zu lassen“. Das Gegenwort ist Technik, die in allgemeiner Bedeutung als bewusst gesteuerte Einwirkung von Seiten des Menschen auf das Natürliche verstanden werden kann. Auch Kunst als die Technik des Poetischen gehört hierher und bezeichnet das Gegenteil von Natur. Johann Wolfgang Goethe Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen Und haben sich, eh’ man es denkt, gefunden; Der Widerwille ist auch mir verschwunden, Und beide scheinen gleich mich anzuziehen. 5 Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen! Und wenn wir erst in abgemeßnen Stunden Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden, Mag frei Natur im Herzen wieder glühen. So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen: 10 Vergebens werden ungebundne Geister Nach der Vollendung reiner Höhe streben. Wer Großes will, muß sich zusammenraffen; In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben. Mit dem Begriffspaar „Natur und Kunst“, mit dem das um 1800 entstandene Gedicht beginnt, bezieht sich Goethe auf den Gegensatz beider Vorstellungsbereiche. Damit stellt sich sogleich die Frage, in welcher Weise ihr Verhältnis zueinander bestimmt wird, ob es dabei um Ausgleich geht, ob ihre Vereinbarkeit hergestellt oder ihre Gegensätzlichkeit als unaufhebbare polare Spannung behauptet werden soll. Inwiefern kommt das Natürliche im Kunstwerk selbst zum Ausdruck? Lässt sich das innere Erleben in künstlerischer Form aussagen? Ist nicht sogar die Kunst der einzige subjektiv-empfindsame und ungeregelt-impulsive Ausdruck des menschlichen Individuums, der es erlaubt, das naturgegebene und von keiner gesellschaftlichen oder sittlich-normativen Vorschrift eingeschränkte Wesen des Menschen zu verwirklichen? Oder ist mit Kunst die Einhaltung von Regeln gemeint, von metrischen Gesetzmäßigkeiten und Gattungsvorschriften, also das Künstliche, unter dessen Vorschriften die Schaffenskräfte der Natur sich nicht entfalten können? Aus diesen Erwägungen zur 1. Zeile des Gedichts wird ersichtlich, dass das Gedicht im Ganzen ein Problem thematisiert: das Problem der Harmonie oder Nicht-Harmonie von Natur und Kunst. Deshalb ist zu erwarten, dass sich das lyrische Ich dem Thema des Gedichts eher in argumentativ geäußerten Gedanken als im bildhaften Sprechen nähert. Der Sprecher fungiert nicht als Instanz des Schauens, sondern als Instanz der Überlegung, der Begründung und der Schlussfolgerung. Goethe benutzt zum Zweck der gedanklichen Auseinandersetzung mit dem genannten Thema die lyrische Form des Sonetts. Diese Gedichtform kommt schon von ihrer Grundstruktur her mit der dualistischen Unterteilung in zwei Quartette und zwei Terzette der Erörterung eines Begriffspaares entgegen. In historischer Hinsicht lässt sich feststellen, dass das Sonett oftmals herangezogen wurde, um polare Spannungsbereiche darzustellen. Im deutschen Sprachraum ist das Sonett seit dem 16. Jahrhundert bekannt und diente den Dichtern der literarischen Epoche des Barock (1600–1720) dazu, die Gegensätzlichkeit zwischen der Erfahrung des Diesseits und der Erwartung des Jenseits einzufangen. Der formale Aufbau ermöglichte ihnen, ihre Gedanken Schritt für Schritt zu entwickeln und auf eine Problemlösung in den Terzetten hin zu organisieren. Allerdings bringt die strenge Sonett-Struktur auch Hindernisse mit sich. So haben die Dichter des Sturm und Drang, darunter auch Goethe selbst, diese Gedichtform gerade wegen ihrer einengenden Gedankenführung abgelehnt; der Aufbau des Gedichts vermittelte ihnen den Eindruck von Geschlossenheit und Harmonie, einem Lebensgefühl, dem die Stürmer und Dränger sich auf keinen Fall unterwerfen wollten. Wenn sich nun Goethe wieder auf das Sonett besinnt und die traditionelle Form für die Behandlung eines wichtigen Themas wählt, dann lässt sich darin nicht nur sein eigener, sondern darüber hinaus auch ein epochengeschichtlich bedeutsamer Wandel beobachten. Die strenge Beschränkung, die die Sonettform jeglichen gedanklichen Überlegungen auferlegt, zeigt sich im strikt durchgehaltenen fünfhebigen Jambus mit jeweils weiblichen Kadenzen an den Zeilenenden sowie in der formgebenden Reimstruktur: abba abba cde cde. Durch den umarmenden Reim werden die Quartette äußerlich abgeschlossen; sie wirken wie massive Blöcke. Die beiden Terzette sind über das Mittel der Reime miteinander verknüpft. Schon äußerlich lassen sich die Quartette als Beschreibung und Darlegung erkennen; die Terzette fließen ineinander über und vermitteln eher eine Entwicklung und ineinandergefügte Gedankenführung. Die 1. Zeile des 1. Quartetts behauptet die scheinbare Gegensätzlichkeit von Natur und Kunst, nimmt aber sofort darauf die Nichtvereinbarkeit zurück: „Und haben sich […] gefunden“ (Z. 2). In Z. 3 bezeichnet der lyrische Sprecher seinen Widerwillen gegen die Vereinbarkeit beider Sphären als „verschwunden“. Möglicherweise meint Goethe hiermit die Distanzierung zur eigenen Dichtung der Jugendzeit. Überträgt man die gemeinte Zeit nicht nur auf die biographischen Erlebnisse des jungen Goethe, sondern auch auf die Genieästhetik des Sturm und Drang, in der das Genie der Kunst die Regeln vorgab, so deutet sich hier...