Kühn | Die Wirklichkeit der Welt | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 264 Seiten

Kühn Die Wirklichkeit der Welt

Essays

E-Book, Deutsch, 264 Seiten

ISBN: 978-3-347-42145-5
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Der Autor entwickelt in einer losen Folge von Essays, deren Herzstück die Auseinandersetzung mit der Sinnfeldontologie von Markus Gabriel darstellt, die Idee eines ontologischen Holismus, der mit einem epistemischen und semantischen Pluralismus vereinbar sein solle; das bedeutet vor allem, dass die solcherart holistisch verstandene Welt ontologisch unabhängig, jedoch epistemisch und semantisch abhängig von jedem Erkenntnissubjekt sei. Die Schlussfolgerung aus dieser Idee ist frappierend: Die Existenz der Welt - einschließlich unserer eigenen - sei jenseits von Sinn und Bedeutung, von Wahrheit und Erkenntnis, von Gut und Böse als gesichert anzunehmen. Dies Existenzpostulat korrespondiert mit der Erkenntnis unserer metaphysischen Freiheit. Wir selbst treten als Schöpfer von Sinn und Bedeutung auf den Plan. Diese altehrwürdige philosophische Position beansprucht keineswegs, "neu" zu sein; eher versucht der Autor, sie in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Positionen neu zu denken.
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„Jeder lebt nur in seiner eignen Welt.“ Die Rede von „meiner Welt“ hat gewisse auffällige Tücken. Denn der Gebrauch des Possessivpronomens „meiner“ lässt die Möglichkeiten offen, in deiner Welt, in unserer Welt, in eurer oder ihrer Welt zu leben. Die obige Behauptung will das aber ausschließen, indem sie das Leben in einer je eigenen Welt zum allgemeinen Faktum erhebt. Zum einen kann sie metaphorisch verstanden werden. Genauso wie ich in meiner Wohnung, in meinem Körper, mit oder in meinen Besitztümern lebe, kann ich auch sagen, ich lebe nur in meinen Wahrnehmungen und Gedanken, in meinen Gefühlen und in meiner Welt der Tatsachen. Es ist richtig: ich kann zwar in deiner Wohnung leben, aber nicht in deinem Körper und ich kann die Welt auch nicht mit deinen Sinnen wahrnehmen oder mit deinen Gedanken denken. Folgt daraus aber, dass ich die Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken, die du hast, nicht haben kann? Offenbar liegt eine Doppeldeutigkeit im Gebrauch des Possessivpronomens, die mit der privilegierten Ich-Perspektive etwas zu tun hat, also mit der Idee der Privatheit von Gefühlen und Gedanken, allgemeiner mit Bewusstseins-zuständen. Offenkundig bedeutet „mein“ jeweils etwas anderes: diesen bestimmten Koffer, von dem es viele Exemplare gibt, besitze ich, weil ich ihn gekauft habe (o.ä.); diese bestimmte Frau, die es nur einmal gibt, gehört zu mir (daraus leite ich vielleicht bestimmte Rechte ab, z.B. das Recht auf Vertrauen, Treue, Ehrlichkeit, Zugehörigkeit etc.), meinen Körper gibt es ebenfalls nur einmal, aber ich bin ihm auf andere Weise „verbunden“ als meiner Frau. Mein Körper ist einerseits ein öffentliches Phänomen, er existiert ja physisch und hat bestimmte materielle Eigenschaften, die ich meinem Ich nicht zuschreibe. Mein Körper und meine Existenz hängen auf eine Weise zusammen, die es schwierig macht, mir ihn ohne mich und mir mich ohne ihn vorzustellen – was im Fall meiner Frau schon leichter ist. Zu sagen, ich bin mein Körper, hat auch seine Tücken, denn ich kann das zumindest sprachlich nicht kohärent artikulieren. Immerhin behaupte ich die Identität zwischen mir und dem Körper, der mir gehört. Sage ich statt „ich schau mich im Spiegel an“ „mein Körper schaut sich im Spiegel an“ – wo steckt dann dies ominöse Ich? Natürlich in im Possessivum „mein“ und ich bin so klug als wie zuvor. Sage ich „mein Gehirn konstruiert sich ein neuronales Bild von seinem Körper“, stehe ich vor dem gleichen Problem. Immerhin kann ich die Sprache, die du benutzt, um deine Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen auszudrücken, auch benutzen und ich kann sie auch verstehen, wenn du von deinen Gedanken etc. berichtest. Die Tatsache, dass jemand Gedanken etc. hat, heißt nicht, dass nur er sie hat. Nun beziehen sich deine Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen auf etwas, was du nicht hast, beispielsweise mein Buch oder meine Frau oder meinen Laptop. Wenn du durch die Stadt fährst, siehst du lauter Dinge, die du nicht besitzt. Du hast zwar nur deine Wahrnehmungen, aber das, was du wahrnimmst, gehört nicht nur zu deiner Welt, sondern auch zu meiner Welt. Also kannst du gar nicht nur in deiner Welt leben. Außer du interpretierst den Satz streng solipsistisch, dann existieren ich und mein Buch auch nur in deiner Welt. Zu behaupten, dass für jeden nur das Wirklichkeit ist, was er selbst wahrnimmt, denkt etc., würde implizieren, dass beispielsweise mein Buch streng genommen dir gehört. Denn du hättest nicht die Möglichkeit, wenn deine Annahme zuträfe, meine Existenz und meine Besitztümer anzuerkennen. Weder als Existenz noch als Besitztümer: Ich und mein Buch würden gar nicht existieren, wenn sie nur für dich existieren würden. Es ergibt sich ein weiteres Problem aus der Verallgemeinerung „Jeder“. Wenn „jeder“ in „seiner“ Welt lebt, dann können für keinen andere Welten existieren – die er aber doch zugleich behauptet. Dann wäre auch das Possessivpronomen „mein“ überflüssig, denn „dein“ oder „unser“ gäbe es nicht. Der Satz ist paradox, denn, wenn er wahr wäre, dann würde es nur meine Welt geben. Wenn ich aber andere Welten zugestehe, was ich mit dem Satz ja tue, dann kann ich schon nicht mehr behaupten, dass jeder ganz streng genommen nur in seiner Welt lebt, denn dann würde ich ja meine Welt auf andere Welten hin öffnen. Auch das „Jeder“ schließt eine gemeinsame Welt ein, in der jeder für sich und für andere existiert. Sobald ich auch nur die Existenz eines anderen anerkenne, lebe ich schon nicht mehr nur in meiner Welt. Die Sätze „jeder lebt (nur) in seiner eigenen Welt“ oder „jeder hat (nur) seine Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle“ sind also aus logischen Gründen unhaltbar, da sie einerseits keine Perspektive zulassen, von der aus über jeden geurteilt werden kann; andererseits benutzen sie eine solche Perspektive, indem sie eben über jeden urteilen. Ließen sie nämlich eine solche universelle Perspektive zu, dann wären sie falsch, dann kann gar nicht jeder nur in seiner Welt leben, sondern eben – zumindest zum Teil – lebt jeder auch mit und in der Welt der anderen. Dies aber ist nur denkbar, wenn alle in einer gemeinsamen Welt leben, in der sie sich auf die Erkenntnis dieser Welt einigen können, wenn sie es wollen und wenn sie die Befähigungen dazu haben. Die Tatsache, dass jeder nur seinen Körper, seine Gefühle, Gedanken und Wahrnehmungen hat, impliziert also nicht, dass er nur in seinen Wahrnehmungen existiert, denn der Körper ist ebenso wie geistige Zustände und Eigenschaften zum Teil öffentlich für andere wahrnehmbar, erkennbar. Zugleich ist der Körper mit seinen Organen und Sinnesleistungen ein Teil der physischen Welt, die unabhängig von meinem Denken, Wahrnehmen etc. existiert. Anders verhält es sich auf dem ersten Blick mit dem Solipsismus, denn der Satz: „Ich lebe (nur) in meiner Welt.“ ist weder beweis- noch widerlegbar, da ja weder allgemeine Beweisverfahren noch andere Personen existieren bzw. erkennbar sind. Fraglich ist zwar das „Ich“, da es in einer Reihe anderer Personalpronomen steht. Fraglich ist ferner die Existenz einer Sprache, die ja auch vollständig meine Sprache sein muss. Aber es ist denkbar, dass alles, was ich wahrnehme, fühle, denke, sage (und höre) nur meine Welt konstituiert. Diese Welt wäre aber keine Welt der Tatsachen, Eigenschaften und Gegenstände, da ich keine Möglichkeit hätte, sie mit Tatsachen einer Welt, die nicht die meinige ist, zu vergleichen. In dieser meiner Welt wären Tatsachen und Fiktionen, wahr und falsch gleichbedeutend und damit gleichgültig. Es gäbe für mich keine Außenwelt, da innen und außen identisch wären, es gäbe auch keine materiellen Gegenstände im Unterschied zu geistigen Phänomenen, es gäbe kein Fremdpsychisches und kein Eigenpsychisches, ich hätte nicht einmal die Möglichkeit, festzustellen, dass ich nur in meiner Welt lebe. Ich hätte kein Bewusstsein und auch nicht die Chance dazu, meine Welt als meine Welt zu erkennen, da ich weder von einer objektiven Welt noch von der binären Korrespondenztheorie der Wahrheit noch von anderen Personen mit einer eigenen Denk-, Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit etwas wüsste. Kurz, der Satz „Ich lebe in meiner Welt“ ist selbstwidersprüchlich und ebenso wenig zu halten, wie der Satz „Jeder lebt (nur) in seiner Welt.“: Wäre er wahr, könnte ich ihn nicht einmal denken. Wo diese Behauptung dennoch aufgestellt wird, kann sie ganz unterschiedliche Funktionen haben. Zum einen ist sie eine Schutzbehauptung, die das Ich zum Selbstschutz gegen zu großen Rechtfertigungsdruck machen kann. Zum anderen leben tatsächlich viele Menschen mit einer Selbstimmunisierungs-strategie, die sie vom Realitätsprinzip entlastet. Die Tatsache, dass viele Menschen in ihrer Welt leben wollen und jeden Kontakt mit einer kritischen, unangenehmen „Außenwelt“ meiden wollen, die ihre Welt- und Selbstkonzepte falsifizieren könnte, bestätigt aber gerade die Falschheit des Satzes. Denn je mehr ein Mensch sich in seiner Welt isoliert, desto größer wird die Welt, die er dabei ausschließt und die ihm Widerstand entgegensetzt. Daraus lässt sich ein Vorwurf ableiten: „Du erkennst die wirkliche Welt nicht, weil Du in Deiner eingebildeten eigenen Welt lebst!“. Die Behauptung, dass wir alle in einer Welt, in einer Wirklichkeit leben, kann also missbraucht werden, um abweichenden Weltsichten epistemischen Isolationismus, Eskapismus und Solipsismus vorzuwerfen. In Bezug auf ideologisch oder religiös eingeschworene Kollektive lautet der Satz denn auch: „Wir leben in der Wirklichkeit – ihr dagegen lebt in eurer eigenen Welt, also in der falschen!“. Er ist sehr problematisch, weil programmatisch alle Diskussionen außer Kraft setzend. Wer diskutiert mit Träumern und Wahrheitsleugnern? Tatsächlich bedeutet...


Thomas Kühn verbrachte seine frühe Kindheit bis zur Einschulung in der DDR, zwei Jahre davon in einem Kinderheim, nachdem die Flucht der Mutter missglückte.
Intensive Beschäftigung mit Literatur und Philosophie seit dem vierzehnten Lebensjahr auf der Suche nach einer sprachlichen Form für das als absurd erlittene Leben.
Der Autor arbeitete zwanzig Jahre als Nachtwächter in einer Einrichtung für geistig Behinderte.
In dieser Zeit holte er sein Abitur nach, studierte Philosophie und Germanistik, wurde Lehrer.
"Das Kupferhaus" ist sein Erstling. Es folgt die Novelle "Ohne Schuld". Nach den "Zerreißproben", einem philosophischen Tagebuch, und "Die Selbstverständlichkeit der Welt" - einer Auseinandersetzung mit dem "Neuen Realismus" und dem neurobiologischen Konstruktivismus - legt der Autor mit "Handeln und Sein" seinen bislang umfassendsten Versuch einer philosophischen Selbstbesinnung und Selbstbestimmung vor. Das Buch "Der eigene Wille in der Moral" stellt eine überarbeitete und erweiterte Neuauflage des Vorgängers "Handeln und Sein" dar. Die Essaysammlung "Denken und Sein" setzt diesen Versuch fort. Die Ergebnisse seiner Beschäftigung mit Kant, Hegel und Nietzsche legt er in dem Band "Geschichte und Sinn. Von Kant zu Nietzsche" vor. "Die Wirklichkeit der Welt" ist eine überarbeitete und erweiterte Neuauflage des Werkes "Die Selbstverständlichkeit der Welt".


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