Kurbjuweit | Nachbeben | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Kurbjuweit Nachbeben

Roman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-32992-1
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-641-32992-1
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Neuauflage eines bewegenden Frankfurt- und Taunus-Romans über die Macht des Zufalls, unvorhergesehene Erschütterungen und den zuweilen segensreichen Einfluss von Naturgewalten

Dirk Kurbjuweit schildert in Nachbeben die schicksalhafte Verstrickung zweier Liebender und zeichnet ein literarisches Seismogramm der deutschen Neunzigerjahre. Der im Bankenmilieu angesiedelte Frankfurt- und Taunus-Roman ist zugleich eine reizvolle Parabel über unvorhersehbare Erschütterungen, die Macht des Zufalls und den zuweilen segensreichen Einfluss von Naturgewalten.

Mit diesem Buch, das sich gekonnt in der »Tektonik der Herzen« einnistet, so Peter Henning im Tagesspiegel , gelinge Dirk Kurbjuweit etwas Eigentümliches, nämlich die »deutsche Währungs- und Wissenschaftsgeschichte ebenso kurzweilig abzuhandeln wie die darin eingebettet verlaufenden Regungen seiner fünf Hauptakteure«.

Ausgewählt für »Frankfurt liest ein Buch« 2025
Kurbjuweit Nachbeben jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1


Einmal in meinen vielen Jahren durfte ich erleben, wie aus einer Erdbebennacht eine Liebesnacht geworden ist, eine Liebesnacht mit Folgen. Mir bedeutet das viel, weil es mich ärgert, dass wir von den Regungen unseres Planeten allein die Zahl der Toten erinnern. Aber Erdbeben sind mehr als Heimsuchungen der Menschheit. Im besten Fall stiften sie Glück, Liebe, eine Ehe.

Es war der 22. Juni 1989, 22.54 Uhr MEZ. Ich weiß das, weil hier oben nichts verloren geht. Wir von der Dr. Albert von Reinach’schen Erdbebenwarte auf dem Kleinen Feldberg registrieren alles, wir führen ein Archiv, das vollständig ist. Es war, für deutsche Verhältnisse, ein starker Erdstoß, eine Magnitude von vier auf der Gutenberg-Richter-Skala.

Wir lagen im Nebel, auch das weiß ich noch. Selbst wenn ich mich nicht so genau erinnern würde, könnte ich mit diesem Satz kaum etwas Falsches behaupten. Wir haben hier zweihundert Nebeltage im Jahr. Die Wolken mögen uns, sie mögen den Kleinen Feldberg im Taunus, sie verweilen gern, bevor sie nach Frankfurt weiterziehen. Wir hassen sie dafür. Jeder hier oben hat seine Stunden, in denen er die Wolken hasst. Zweihundert Nebeltage sind nicht leicht auszuhalten. Man merkt sie uns an, fürchte ich. Aber warum rede ich immer noch im Plural? Ich bin allein seit ein paar Wochen, seit Konrad und Charlotte nicht mehr leben. Es ist noch stiller hier ohne die beiden. Aber keine Sorge, es geht mir gut. Ich bin glücklich auf 825 Metern über dem Meeresspiegel, trotz des Nebels, trotz der Einsamkeit. Ich weiß, dass ich nicht mehr lange allein sein werde. Bald kommt Zuwachs, ein Möbelwagen, Menschen, Stimmen. Wir werden wieder eine nette, kleine Gemeinschaft sein, eine Familie vielleicht.

Um halb elf hatte Lorenz das Licht ausgemacht, eine halbe Stunde nach seiner Mutter. Hier sind immer alle früh schlafen gegangen, außer mir. Was soll man auch tun in der Nacht? Bei uns gibt es nur den Wald und den Nebel. Man ist froh, wenn der Schlaf früh kommt und lange bleibt. Für mich hat das allerdings nie gegolten. Ich schlafe wenig. Ich verpasse es nicht gern, wenn die Erde bebt. Ich will die Ausschläge sehen, Primärwelle, Sekundärwelle, ich will die Entfernung messen, will genau beobachten, wenn sich unser Planet schüttelt. Hundertfünfzig Erdbeben der Magnitude drei und mehr gibt es weltweit jeden Tag, die allermeisten richten keinen Schaden an. Man dämonisiert Erdbeben, wie man alles dämonisiert, was sich nicht einfügt in die ewige Jagd nach dem Glück oder dem Geld, was so vielen dasselbe zu sein scheint.

Also, sie schliefen, und ich schlief nicht. Ich saß in meinem Haus, einem schönen, wenn auch verwitterten Haus aus braunrotem Holz, und schaute auf das weiße Papier, das endlos und träge vor mir abrollte. Es war still, die Erde schlief wohlverdient, ist sie doch strapaziert und geschunden wie kein anderer Planet. Soll sie ruhen. Die Pause sei ihr vergönnt, auch wenn es dann nichts zu sehen und zu messen gibt für den alten Luis, der manchmal einnickt in diesen Pausen, und das kam früher nicht vor. Ich bin ein Greis geworden.

Ich sah hinüber zum Haus des Hausmeisters, das nur zwanzig Meter entfernt steht, weshalb ich es auch in den meisten Nebelnächten sehen kann. Es braucht schon schwarze Wolken, um mir diesen Blick zu nehmen. Wie verloren ich mich dann fühle, wie abgeschnitten und allein. Gott behüte mich vor den schwarzen Wolken. Es sind meine schlimmsten Stunden. Bei leichtem Nebel, wie in jener Nacht, sehe ich das Haus gut. Es ist klein, das Dach ist tief heruntergezogen wie eine Mütze, ein Hutzelhaus, verwinkelt, eine hübsche Gaube am Dach, ein Haus für die Träume von der glücklichen Kindheit. Lorenz wohnte damals nicht mehr dort, war längst nach Frankfurt gezogen und arbeitete hoffnungsvoll für die Bundesbank, für die Stärke unserer Deutschen Mark, unserer verlorenen Mark, wie man jetzt wohl sagen muss. Letzte Nacht war Sylvester. Seit heute gibt es den Euro. Ich habe noch nicht getauscht. Hier oben brauchen wir kein Geld, und ich habe Vorräte für ein paar Wochen. Danach werde ich hinuntergehen zum ›Roten Kreuz‹, mit dem Bus nach Kronberg fahren und das neue Geld in Empfang nehmen. Wenn kein Schnee liegt. Bei Schnee gehe ich nicht mehr den Berg hinunter, dafür sind meine Knochen zu alt.

Lorenz war in jener Nacht bei uns, weil sein Vater im Krankenhaus lag und seine Mutter nicht mehr allein sein konnte, nicht allein in diesem Haus, auf diesem Berg. Ich sah die beiden beim Abendbrot sitzen, dann ging Lorenz in das Zimmer, das früher sein Kinderzimmer war, und las. Wahrscheinlich las er Akten, Berichte über die Wirtschaft, über den Geldwert, Zahlen, nicht irgendwelche Zahlen, sondern die wichtigsten, die es für uns gibt. Wir haben ja alle Angst vor der Inflation, wir Deutschen. Ich habe zweimal erlebt, wie unser Geld seinen Wert verlor. Nie wieder, heißt es nun, nie wieder. Unsere Besten gingen damals zur Bundesbank, Lorenz hatte einen Abiturschnitt von eins Komma null.

Die Erde bebte viermal, bis Lorenz das Licht ausmachte, kleine Ausschläge, weit weg. Ich saß da, dachte nicht viel. Mein Haus ist innen hübsch mit dunklem Holz verkleidet, der Fußboden ist hell bis auf ein paar schwarze Flecken. Mein Vorgänger hier, Professor Manthey, war Meteorologe und hatte versucht, Blitze einzufangen, um ihre Energie zu nutzen. Es kam mehrmals zu kleineren Bränden. Er starb in einer psychiatrischen Klinik. Manchmal glaube ich, dass der Nebel uns hier so oft besucht, weil er auf der Suche ist nach einer Tür zu unserem Kopf, unserer Seele. Mit den Jahren lernt er uns immer besser kennen und irgendwann findet er den Weg in unser Inneres.

Die Primärwelle kam um 22.54 Uhr. Ich sah die Tintennadel zittern, der Strich auf dem Papier zackte aus. Ich nahm mein Lineal und wartete. Die Zeit nach der Primärwelle ist immer die spannendste. Wann kommt die nächste Sekundärwelle? Der Zeitunterschied zeigt an, wie weit das Epizentrum entfernt ist. Fünf Sekunden, sechs Sekunden … die Nadel zitterte. Es war nahe, das wusste ich schon. Ich maß mit dem Lineal, rechnete, kam auf 170 Kilometer. Ich ermittelte die Koordinaten, ging zur Weltkarte. Südlich von Köln, genauer lässt sich der Ort so schnell nicht bestimmen. Bleibt ruhig, dachte ich, eure Häuser stehen fest, ein bisschen Gewackel, ein kleiner Schrecken in der Nacht, vielleicht hier und dort ein Riss in der Wand. Niemand muss sterben. Als ich wieder am Seismographen saß, trafen die Oberflächenwellen ein. Sie sind die langsamsten, ihr Ausschlag ist oft am größten und zeigt die Magnitude an, die Stärke des Erdbebens. Es war eine Vier, harmlos.

Drei Minuten später klingelte drüben das Telefon. Ich wusste, dass es die Polizei war. Nach einer größeren Erschütterung will die Polizei wissen, ob ein Beben registriert wurde. Denn wenn es kein Beben war, war es eine Bombe. Einmal war es eine Bombe, gezündet ganz in der Nähe, in Bad Homburg. Damals starb der Chef der Deutschen Bank, ich sah den Ausschlag auf dem Papier.

Als das Telefon klingelte, ging in Lorenz’ Zimmer das Licht an. Was für ein schöner Anblick in einer solchen Nacht, ein milchig gelber Schimmer im Nebel, in der Dunkelheit, ein Trost, gerade wir Seismologen brauchen viel Trost.

Der Tod, manchmal der massenhafte Tod, ist unleugbar eine Folge der inneren Unruhe unserer Weltkugel, wenn auch nicht oft, wirklich nicht oft. Es gab gleichwohl schreckliche Nächte für mich, Nächte, in denen ich große Ausschläge auf dem Papier sah, Beben der Stärke sieben oder acht, und ich inständig hoffte, betete, dass ich einen Ort errechnen würde, der weit entfernt lag von menschlichen Ansiedlungen. Wie bedrückt ich war, wenn ich von der Weltkarte zurücktrat und ein Epizentrum in der Türkei errechnet hatte oder in China, in der Nähe von großen Städten, inmitten einer Ansammlung von Dörfern. Auf dem Kleinen Feldberg war es auch in solchen Nächten still, aber ich hörte die Schreie der Verletzten, das Rufen und Heulen der Kinder, hörte das Schweigen der Toten. Zehntausend Tote können sehr laut schweigen, auch auf große Distanz. Niemand weiß das besser als der alte Luis. Ein gelbes Licht hätte mich trösten können, ein bisschen jedenfalls, ein kleiner Widerspruch zur tiefen Einsamkeit und Schwärze solcher Nächte. Aber meist war es dunkel auf dem Berg, und dunkel hier oben ist anders dunkel als unten, als in Kronberg, als in Frankfurt. Dunkel für uns ist Undurchdringlichkeit.

Ich sah Lorenz in die Küche gehen. Er nahm den Hörer auf, sagte wahrscheinlich »Erdbebenwarte« und seinen Namen. Er lauschte. Er sagte ein paar Worte, legte den Hörer neben das Telefon und zog den Mantel über. Dann kam er herüber zu mir. Ende zwanzig war er damals, groß, stattlich, der Haaransatz schon auf dem Rückzug. Ich empfing ihn an der Tür, bat ihn herein, aber er wollte nur schnell wissen, ob es im Kölner Raum ein Erdbeben gegeben habe. Ich sagte ihm, was mir der Seismograph gemeldet hatte. Er ging wieder nach drüben, nahm den Hörer auf, sprach hinein. Dann legte er auf. Er ließ Leitungswasser in ein Glas laufen, stand an die Spüle gelehnt, trank und wartete. Kurz darauf kam der nächste Anruf. Viele Leute rufen nach einem Beben bei der Auskunft an und fragen, ob es irgendeine Nummer für einen solchen Fall gebe. Dann landen sie bei uns auf dem Kleinen Feldberg. Sie wollen wissen, ob noch mehr Beben kommen, ob sie sich schützen können, ob sie im Haus bleiben oder im Freien warten sollen. Wir beruhigen sie. Wenn es ihnen ein besseres Gefühl gibt, sollen sie nach draußen gehen, aber notwendig ist es nicht. Ihr Leben ist nicht in Gefahr. Dies ist Deutschland, nicht Anatolien, wir hier am westlichen Rand der eurasischen Platte leben auf vergleichsweise festen...


Kurbjuweit, Dirk
Dirk Kurbjuweit, geboren 1962 in Wiesbaden, zählt zu den vielseitigsten und renommiertesten Autoren unserer Gegenwart. Als Zeit- und Spiegel-Reporter einer breiten Leserschaft bekannt, überzeugte er schon früh als Erzähler. Nach dem Debüt »Die Einsamkeit der Krokodile« (1995) wurden besonders die Novelle »Zweier ohne« (2001) und der Roman »Angst« (2013) von der Kritik gefeiert. Zuletzt sorgten der Roman »Haarmann« (2020) und die Erzählung »Der Ausflug« (2022) für breites Presse-Echo. Etliche seiner literarischen Erfolge dienten als Vorlage für Verfilmungen, Theaterstücke und Hörspiele.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.