Leinkauf | Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350–1600) | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 1937 Seiten

Leinkauf Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350–1600)


unverändertes eBook der 1. Auflage von 2017
ISBN: 978-3-7873-3160-4
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

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Zu Beginn seiner Abhandlung »Über das einsame Leben« (De vita solitaria) schreibt Francesco Petrarca 1346: »Niemand schafft es, lange unter Wasser zu leben. Es ist unausweichlich, dass er auftaucht und das Antlitz, das er verbarg, offen zeigt.« René Descartes dagegen, in seinen Cogitationes privatae, notiert dreihundert Jahre später: »Wie die Komödianten [...] Masken anziehen, so schreite ich, der ich am Schauspiel dieser Welt [...] teilzunehmen gedenke, mit einer Maske bedeckt voran.« - Einmal die offene, einmal die verdeckte Konfrontation: bei Petrarca ein Ich, das sich schrittweise erst aus dem mittelalterlich-scholastischen Gefüge herauswindet; bei Descartes ein selbstbewusstes, aber skeptisches Subjekt, das sich angesichts der Erfahrungen der Inquisition lieber verdeckt auf die Bühne des Theatrum mundi begibt. Zwischen diesen beiden Selbstentwürfen liegt eine komplexe geistesgeschichtliche Entwicklung, der Thomas Leinkauf in seiner großangelegten, materialreichen Studie zur Philosophie des Humanismus und der Renaissance zwischen 1350 und etwa 1600 detailliert nachgeht. Auf allerhöchstem Niveau, dabei die historischen Grundbedingungen wie die rasante Wissensentwicklung und Weltexploration, Protestantismus und Konfessionalisierung, aber auch Faktoren wie die Ausbreitung der Pest und die Rivalität zum kirchlich-scholastischen Denken im Blick behaltend, beschreibt das Werk die faszinierende, komplizierte, von gegensätzlichen Kräften und Denkschulen vorangetriebene Entwicklung hin zum modernen Denken. Eine Einleitung, ausführliche Register und eine Bibliographie erschließen das Werk.

Thomas Leinkauf (geb. 1954) ist Professor für Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster und Direktor der dortigen Leibniz-Forschungsstelle. Er ist Herausgeber der italienisch-deutschen Giordano-Bruno-Werkeausgabe.
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Einleitung


Oportet enim in Philosophia haereticum esse, qui veritatem invenire cupit.

In einem grundlegenden Text des Jahres 13462 lesen wir folgenden Satz: »Niemand schafft es, lange unter Wasser zu leben. Es ist unausweichlich, dass er auftaucht und das Antlitz, das er verbarg, offen zeigt« (»nemo sub aquis diu vivit: erumpat oportet et frontem, quam celabat, aperiat«). Diese Exhortatio, die sich nicht nur an ihn selbst richtet, formulierte Francesco Petrarca in dem Prohemium, eigentlich einem Widmungsschreiben an den Bischof Philippe de Cabassoles, das er seiner Abhandlung De vita solitaria voranstellte. Im Jahre 1619, gut 270 Jahre später, hingegen lesen wir den folgenden Satz: »Wie die Komödianten, ermahnt, dass auf ihrem Gesicht die Schamesröte nicht sichtbar werde, Masken anziehen, so schreite ich, der ich am Schauspiel dieser Welt, in dem ich bis jetzt nur Betrachter war, teilzunehmen gedenke, mit einer Maske bedeckt voran« (larvatus prodeo), den Descartes in seinen Cogitationes privatae notierte, kurz vor der Abfassung seines ersten Hauptwerkes Le monde.3 Ein noch gar nicht wirklich in Erscheinung getretenes Ich, das sich schrittweise aus den Vorgaben eines eine jede solitäre, subjektivistische Ich-Konstitution transzendierenden mittelalterlich-scholastischen Diskurses herauszudrehen beginnt, pocht auf die Notwendigkeit, ja Unausweichlichkeit des Hervortretens und des Expressivwerdens. Das artikulierte, radikal sich aus seinen eigenen Möglichkeiten konstituierende Ich hingegen, das durch Descartes’ kompromisslose Reflexion auf ein von aller Körperlichkeit und Materialität abgeschnittenes, autarkes Ich als »ego cogito« und »res cogitans« absolut gesetzt wird und das den »larvatae scientiae« die Masken abziehen will,4 bedeckt sich mit der massa corporea oder zumindest mit der Materie, die es als gar nicht zu sich gehörig betrachtet, und entzieht sich dem offenen aspectus. Beide Male haben wir ein starkes, unübersehbares Zeugnis von Selbststilisierung und kalkulierter, strategischer Aufforderung: einmal die offene und einmal die verdeckte Konfrontation. Dies sollte zumindest zu Überlegungen Anlass geben, nicht nur, weil mit diesen beiden Daten rein zeitlich die Pflöcke angegeben sind, zwischen denen der Entwicklungsfaden der komplizierten geistesgeschichtlichen Entwicklung zwischen endendem Mittelalter und beginnender Neuzeit aufgezogen und aufgespannt ist, sondern weil es vielleicht, was das sogenannte ›Ich‹ und ›Subjekt‹ der Neuzeit betrifft, gar nicht so ist, wie man sich das immer zurechtgelegt hat – nicht zuletzt durch die großangelegte pro-domo-Geschichtsdeutung des Idealismus.5 Aber: Aus der Perspektive dieses Buches steht Descartes schon am Anfang einer anderen Zeit, zumindest jedoch am Anfang einer deutlich anderen mentalen und philosophischen Verarbeitung der Produkte der langen Gärungsphase, die wir hier zwischen 1350 und 1600 ansetzen. Er gleicht Petrarca daher gerade durch das Anfangsbewusstsein, nicht nur durch die große, teils Wesentliches auch verdeckende Geste des sich selbst in einem unerhörten Werk Einbringen-Wollens. Markiert wird durch den unterschiedlichen Umgang mit dem Selbst oder dem Ich auch, dass die Bedingungen historisch und konfessionell andere geworden sind: Das »larvatus« des Descartes verdankt sich auch der Reaktion auf die Präsenz der Inquisition, die es zur Zeit des Petrarca noch nicht gab; das »erumpat oportet« des Petrarca reagiert auf ein Eingebundensein in einen hierarchischen Ordo, der zur Zeit des Descartes, nach Nikolaus Kopernikus, Giordano Bruno, Thomas Hobbes so nicht mehr existierte.6 Das »larvatus« des Descartes verweist auf ein skeptisches Bewusstsein, in dessen Perspektive das vom Ich ausgehende Argument, seine These, das Werk insgesamt zu einer Hypothese werden kann, die andere neben sich duldet (oder: dulden muss), die vom Ich abgelöst auf der Bühne des theatrum scientiarum erscheinen kann, während dieses selbe Ich maskiert ihrem Schicksal zuschaut.7 Damit ist eine ganz andere Freiheit gewonnen als die, die auch Petrarca in seinen Texten immer wieder (angeregt durch seine Augustinus-Lektüre) im Blick hatte,8 eine Freiheit, die sich die Techniken der Dissimulation der höfischen Ethik und deren feinziselierten, einem Dekor gleichenden Verhaltenskodizes zu eigen gemacht hat. Das Expressiv-Werden des Petrarca hingegen ist immer immediat mit dem verbunden, an dem, wodurch und weswegen es die innere Position zum Ausdruck bringt; die Vielheit und Pluralität, die hierbei notwendig ins Spiel kommt, ist eine andere als die des Descartes: sie ist Ausdruck der Selbstformung des Ich.9 Bei Descartes ist es nicht das Ich, das geformt, ausgebildet, gestaltet wird – dieses ist vielmehr dabei, sich aus der plastischen Fülle, die es mit der durch Petrarca angestoßenen frühneuzeitlichen Reflexion sich erworben hatte (Leonardo da Vinci, Michel de Montaigne, Girolamo Cardano, Francesco Patrizi, Philip Sideney, Giordano Bruno), in eine unbegrenzt fungible, aber substantial ›arme‹ Formalität herauszuhebeln –, sondern es ist das durch das Ich in Form einer prinzipiell unbegrenzt erweiterbaren Hypothesen-Pluralität hervorgebrachte Argument. Dem pluralen Ich bei Petrarca, das sich, um seine als ausstehend erfahrene Einheit zu ›retten‹, in einem durch den Einheitsgedanken strukturierten Weltdeutungshorizont differenziert artikuliert, tritt eine plurale Wissensform und Wissenschaft zur Seite, die, da sie sich in einem durch den Vielheitsgedanken bestimmten Deutungsparadigma bewegt – der scientia universalis, der Methoden-Vielfalt, der ars memorativa und Enzyklopädik, der Entwicklung und Ausdifferenzierung der Einzeldisziplinen –, ihre innere Einheit nur als System behaupten kann, in dem die Instanz des Ich jederzeit als formale, setzende Einheit gegenwärtig ist oder, sieht man es dann aus der Perspektive Kants, zumindest jederzeit und in jedem Ausprägungsakt dieses Wissens als diesen begleitend gedacht werden können muss. Das frühneuzeitliche, humanistische Bewusstsein kennt diese Form der Abstraktheit noch nicht, es ist, selbst wenn es in seinen komplexen, vielschichtigen, häufig auch skeptischen Selbstfindungsbewegungen zur »Pluralität« tendiert, doch in dieser Vielheit dem Vielen selbst nicht äußerlich, ja kann dieses gewissermaßen sich selbst und auch sich selbst erfahren10 – das selbstgewählte Motto Petrarcas, peregrinus ubique, »überall ein Fremder« (aber, wie das lateinische peregrinus mit impliziert: auch ein Pilger), reicht so über ihn hinaus in den faktischen Lebens- und Existenzvollzug eines anderen Weltbürgers, Giordano Bruno, dessen iter europaeum oder peregrinatio europea ihn zu einem in diesem Falle unfreiwilligen Heimatlosen werden ließ und in dessen Lebensdaten mit seinem Tod 1600 auch der Endpunkt des hier dargestellten Zeitraumes exakt eingeschlossen ist; das frühmoderne, neuzeitliche Subjekt hingegen, das einen »zweiten« Anfang setzt, tut dies unter Distanz-, Entfremdungs- und Einsamkeitsbedingungen, die in ihrer Radikalität den »ersten« Anfang der Humanisten, trotz aller nominalistischen Einflüsse, als nicht radikal erscheinen lassen. Zu den Konstituentien dieser Bedingungen gehören Faktoren wie der frühneuzeitliche, sich insbesondere im Verlauf des 16. Jahrhunderts ausprägende Skeptizismus, gehören die für das damalige Empfinden extrem schnell sich ausweitenden neuen Erfahrungsräume, die kosmologisch und geographisch-anthropologisch die traditionelle Position des Menschen, die , verrückte und zu marginalisieren drohte, sowie, auf der anderen Seite, das Einrücken eines Kompetenz- und Machenkönnengefühls ins neuzeitliche Bewusstsein, das dessen manipulative, direktive und dominative Intentionen ernährte. Alle diese Faktoren führen zu einer ganz anderen Form der Selbstannahme und des Selbstbewusstseins – z. B. zu dem Gestus der rational abgesicherten Positionalität, des Setzens-von-etwas (nicht umsonst schließt der Idealismus von Kant bis Hegel so exklusiv affirmativ an Descartes an11) – als derjenigen der spätmittelalterlich-humanistischen Tradition. Aber auch schon dort, im Trecento, bereitet sich eben vor, was dann später als ›subjektive‹ Setzungsdynamik zumindest einen bedeutenden Teil des philosophischen Diskurses bestimmen sollte: die Sensibilität für das Einzelne, für das Ich als Individualität und als Einzelnes im Sinne des Alleine-Seins und im Sinne der sich selbst gewissen Selbstgegenwart und –genügsamkeit (Scaliger: sib iipsi autarkês, siehe unten, S. 19), für die Präsenz und die Dynamik des Willens, für die Vielheit, Varianz, Buntheit des Seins, für die »vicissitudines« des Existierenden. Deswegen ist der hier darzustellende Zeitraum eben auch ein einheitlicher. Insgesamt sehen sich die Zeitgenossen dieser Epoche wohl doch so, wie es der Dichter und Philosoph Cristoforo Landino in seinen Disputationes Camaldulenses formuliert hat: Man fühlt sich von einer unfassbaren, transzendenten Instanz und Macht – vom höchsten Gott – in die »unterste Region dieser Welt wie auf eine lang andauernde und schwierige Expedition gesendet«, auf welcher der Mensch, permanent gegen viele Schwierigkeiten ankämpfend, die beiden wildesten Feinde, Schmerz und Begierde, überwinden lernen soll, um schließlich einen dauerhaften Frieden genießen zu können.12 In diesem Szenario verbinden sich christliche Viator-Vorstellungen (Jammertal, Erlösung), antiker Herkulesmythos (Bivium) und eine aus antiken und christlichen Vorgaben geprägte Basisethik (Lustbekämpfung, Vorstellung des...


Leinkauf, Thomas
Thomas Leinkauf (geb. 1954) ist Professor für Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster und Direktor der dortigen Leibniz-Forschungsstelle. Er ist Herausgeber der italienisch-deutschen Giordano-Bruno-Werkeausgabe.

Thomas Leinkauf (geb. 1954) ist Professor für Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster und Direktor der dortigen Leibniz-Forschungsstelle. Er ist Herausgeber der italienisch-deutschen Giordano-Bruno-Werkeausgabe.



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