Melville | Mardi und eine Reise dorthin | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 832 Seiten

Melville Mardi und eine Reise dorthin

Roman. Überarbeitete Ausgabe

E-Book, Deutsch, 832 Seiten

ISBN: 978-3-641-18304-2
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Wer «Moby-Dick» liebt, muss «Mardi» lesen
Jubiläumsausgabe zum 200. Geburtstag Melvilles: «Ein ebenso hinreißendes wie monströses Werk ... der helle Wahn.» (Klaus Modick, Deutschlandfunk) Südsee und Abenteuer, Liebe und Geheimnis, Zivilisations- und Gesellschaftskritik: All das findet sich in Herman Melvilles grandiosem Roman «Mardi». 1849 entstanden, gilt er als kühner Vorläufer von «Moby-Dick». Rainer G. Schmidts Übertragung erntete 1997 Begeisterungsstürme und wurde vielfach ausgezeichnet. Zum 200. Geburtstag Melvilles liegt sie, sorgfältig durchgesehen, nun in einer prachtvollen Ausgabe vor. Alles beginnt mit einer Flucht: Der Erzähler desertiert von einem Walfänger, auf dem er erfolglos den Pazifik durchstreift hat. Die Begegnung mit einem unwiderstehlich schönen Mädchen führt ihn zunächst nach Mardi, dann zu weiteren Südsee-Idyllen und in den weiten Ozean enthemmten Fabulierens...

Herman Melville, 1819 in New York geboren, übte nach dem frühen Tod des Vaters diverse Gelegenheitsjobs aus, bevor er 1841 auf einem Walfänger anheuerte. Als freier Schriftsteller unternahm er lange Auslands- und Vortragsreisen, arbeitete als Farmer und Zollinspektor. Heute vor allem für seinen «Moby-Dick» weltberühmt, starb der Romancier, Dichter und Essayist einsam und vergessen im Jahr 1891.
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III.
Ein König als Kamerad Wir mussten uns zu der Zeit, von der ich jetzt berichte, etwas mehr als sechzig Grad westlich der Galapagos-Inseln befunden haben. Und da wir den erwünschten Längengrad erreicht hatten, steuerten wir nordwärts auf unseren arktischen Bestimmungsort zu: rings um uns ein weites Meer. Doch genau nach Westen, obschon tausend Meilen entfernt, erstreckte sich nördlich und südlich ein fast unendlicher Archipel, hie und da bewohnt, doch kaum benannt; und fast niemand findet dorthin, selbst Walfänger nicht, die sich sonst überall tummeln. Beginnen wir mit der Südgrenze dieser großen Inselkette: Dort liegen die unter dem vagen Namen Ellice-Gruppe bekannten Inseln, dann die Kingsmill-Inseln, dann die Radack- und Mulgrave-Gruppen.25 Diese Inseln waren mir im Wesentlichen als Korallenformationen geschildert worden, flach und fruchtbar und mit mannigfachen Früchten in Hülle und Fülle. Die Sprache der Bewohner, hieß es, sei derjenigen der Navigator-Inseln sehr ähnlich, von woher ihre Vorfahren vermutlich ausgewandert waren.26 Und aus den Erzählungen wusste ich damals nicht mehr über die fraglichen Inseln als gerade das eben Gesagte. Doch Hauptsache, sie existierten überhaupt und unser Weg dorthin führte über eine verträgliche See, von einem verlässlichen Passat befördert. Die gleichwohl große Strecke war doch nur eine ausgedehnte Wasserfläche, nichts weiter als eine große Leere, die zu durchsegeln war; zudem in einem Gefährt, das bekanntermaßen bei richtiger Handhabung größere Schiffe in einem Sturm überlebt. Denn dies trifft wahrlich auf ein Walfangboot zu: in seiner Art das Ausgefeilteste, was Menschenhand je hergestellt hat. Dann beschloss ich, komme was da wolle, meinen Fuß auf eine der Kingsmill-Inseln zu setzen. Und gleichfalls stand mein Entschluss fest, dass mich eines der Beiboote dorthin bringen sollte. Doch konnte ich mir nicht vorstellen, ohne einen Gefährten zu sein. Was wäre das für ein verdrießliches Umschauhalten, wenn ich alles für mich behielte, und nichts als der Horizont in Sicht. Nun gab es in der Mannschaft einen trefflichen alten Seemann, einen gewissen Jarl. Keiner konnte sagen, wie alt er war, selbst er nicht. Die Zeitrechnung auf Vordeck ist immer unbestimmt und mangelhaft. «Ob ich nun Mann oder Junge war», sagte der gute Jarl, «ich habe immer gelebt, seit ich denken kann.» Und wirklich, wer kann sich daran erinnern, dass er nicht lebte? Uns selbst scheint es, als seien wir alle gleichzeitig mit der Schöpfung da. Daher kommt es, dass es so schwerfällt zu sterben, bevor die Welt dahingegangen ist. Jarl stammte von der Insel Skye, eine aus der Schar der Hebriden. Daher wurde er oft der Skyeman genannt. Und obwohl er alles andere als eine Piratenseele besaß, war er doch als ein alter Norse27 anzusehen. Seine Hände waren kräftig wie Bärenpranken, seine Stimme war rau wie ein Sturm, der um die alten Gipfel von Mull28 tobt, und sein langes Flachshaar umwehte seinen Kopf wie eine untergehende Sonne. Bei meinem Leben, Jarl: Deine Vorfahren waren Wikinger, die viele Male über die salzige Nordsee und die Ostsee segelten, die ihre Brunhilden in Jütland heirateten und die nun in der Halle der Walhalla Met schlürfen und mit ihren Krügen den Takt zu den Gesängen der Skalden schlagen. Ach, wie mich die alten Sagas durchrieseln! Doch Jarl, der Abkömmling von Helden und Königen, war ein einsamer, freundloser Seemann auf hoher See, seinen Ahnen nur getreu durch das Seefahrerleben, das er führte. Aber so ist es gewesen, und so wird es immer sein. Welcher königliche Leibgardist wird nicht schwören, dass er von König Alfred29 selbst abstammt? Welcher Wortklauber nicht, dass er ein Abkömmling des alten Homer sei? König Noah – Gott hab ihn selig – war unser aller Vater! Dann hoch den Kopf, o ihr Heloten, hochkarätiges Blut rollt durch unsere Adern. Wir alle sind mit Monarchen und Weisen versippt, nein, haben Engel und Erzengel zu Vettern, da sich ja in vorsintflutlichen Tagen die Gottessöhne fürwahr mit unseren Müttern vermählten, den unwiderstehlichen Töchtern Evas. Daher sind alle Generationen miteinander verquickt, sind Himmel und Erde von einem Geschlecht: die Hierarchien der Seraphim im allerhöchsten Himmel, die Throne und Fürstenränge im Zodiakus, die Schatten, die den Raum durchschweifen, die Nationen und Familien, Scharen und Gemeinden der Erde, jeder Einzelne und alle, im Innersten Brüder – ach, seien wir also wirklich Brüder! Alles bildet doch ein Ganzes; das Universum ein Judäa und Gott Jehova dessen Haupt. Drum wollen wir nicht mehr erschreckt zusammenzucken. Was ist unter einer Gottesherrschaft zu fürchten? Lasst uns gefasst dem Tod entgegengehen wie ermattete Reiter, die im Sattel schlafen. Lasst uns selbst Geister begrüßen, wenn sie auferstehen. Hinfort unser Gaffen und Grimassenschneiden! Des Neuseeländers Tätowierung ist keine Sonderlichkeit und des Chinesen Artung kein Rätsel. Kein Brauch ist befremdend, kein Glaube absurd, und kein Feind, der sich nicht doch zuletzt als Freund erwiese. Am Ende wird im Himmel unser gütiger, alter, weißhaariger Vater Adam alle ohne Unterschied begrüßen; und immer wird man der Gesellschaft pflegen. Christen werden Versöhnung stiften zwischen Juden und Nichtjuden, der grimmige Dante vergisst seine Infernos und schüttelt sich vor Lachen mit dem feisten Rabelais, und Mönch Luther plaudert, über einem Krug mit altem Nektar, von alten Zeiten mit Papst Leo. Dann werden wir bei den Weisen sitzen, die vordem den sonnenbeschienenen Medern und Persern Gesetze gaben;30 bei den Rittmeistern der Kavallerie im Perseus31, die «Zu Pferde!» riefen, als sie von den Posaunen des Jüngsten Gerichts geweckt wurden, die zum Sturm bliesen; bei den alten Waidmännern, die, vor Jahrhunderten, den Elch im Orion jagten; bei den Spielleuten32, die in der Milchstraße sangen, als Jesus, unser Heiland, geboren wurde. Dann werden wir keinem seichten Gerede über Magellane und Drakes lauschen, sondern den Reisenden unser Ohr leihen, die um die Sonnenbahn gefahren sind, die den Polarstern umrundeten, als sei er Kap Hoorn. Dann werden der Stagirit33 und Kant vergessen sein, und ein anderes Blatt als ihres wird man wenden, um Weisheit zu erlangen: jenes mit jetzt noch nicht entzifferten Horoskopen übersäte Blatt, den Himmel der Himmel in der Höh’. Nun, im Kauderwelsch des alten Jarl gab es gar keinen Dialekt. Unser eingefleischter Seemann ist dafür zu sehr Kosmopolit. Lange Kameradschaft mit Seeleuten aller Völkerschaften – Filipinos, Angelsachsen, Cholos, Laskaren34 und Dänen – nutzt schnell alles muttersprachliche Gestammel ab. Man lässt seinen Clan fallen, bergab geht es mit der Nation, es wird eine Weltsprache gesprochen, joviales Geplapper in der Lingua franca des Vordecks. Seinem Beruf getreu, war der Skyeman sehr ungebildet: unbeleckt von Salamanca, Heidelberg und Brasenose35. In Delhi hat er nie in den Büchern der Brahmanen geblättert. In Geografie, worin Seeleute bewandert sein sollen, da sie ewig und alle Tage den Globus aller Globen umrunden, wies Jarl bedauerliche Lücken auf. Seiner Ansicht nach war diese Land-Wasser-Welt wie eine Obsttorte geformt: Das Land war bloß eine Rinde am Rande, und darin wälzte sich die eigentliche Wasserwelt. Solches schien die kosmografische Theorie meines guten Wikingers zu sein. An andere Welten glaubte er nicht, doch dies so uneingeschränkt wie Chrysostomos36. Ach Jarl, du redlicher, ernster Kerl, so wahr und schlicht, dass die geheimsten Betätigungen deiner Seele unergründlicher waren als die subtilsten Werke Spinozas.37 So viel sei von dem Skyeman gesagt, denn er war äußerst schweigsam und wird nur selten selbst sprechen. Nun, von größeren Sympathien einmal abgesehen, fühlte ich mich Jarl wunderbar zugetan; denn er hatte mich lieb, hatte schon gleich zu Beginn an mir gehangen. Manchmal kommt es vor, dass ein alter Seebär wie er eine sehr starke Zuneigung zu einem jungen Seemann fasst, eine so ergebene Zuneigung, dass sie gänzlich unerklärlich ist, außer man suchte ihren Ursprung in der Herzenseinsamkeit, von der die meisten Seeleute in zunehmendem Alter befallen werden und die sie veranlasst, sich an einen zufälligen Gegenstand der Wertschätzung zu heften. Doch was immer es war, deine freiwillige Zuneigung war die nobelste Huldigung, die mir je erbracht wurde. Und ehrlich gesagt bin ich eher geneigt, gut von mir zu denken, wenn ich in gewisser Hinsicht deiner Verehrung wert bin, als wenn ich von kultivierteren Geistern mit hochtönenden Komplimenten umgeben bin. Auf See nun und in der Gemeinschaft der Seeleute erscheinen alle Männer so, wie sie sind. Keine bessere Schule als ein Schiff, will man die menschliche Natur studieren. Der Kontakt von Mann zu Mann ist zu nah und konstant, als dass er Täuschung beförderte. Salopp trägt man seinen Charakter wie die flatternden Hosen. Umsonst alle Mühe, andere Eigenschaften anzunehmen als die eigenen; oder die zu verhehlen, die man hat. Inkognitos, obwohl wünschenswert, kommen nicht infrage. Und daher war ich an Bord aller Schiffe, mit denen ich fuhr, gleichermaßen unter einer Art Salonname bekannt. Nicht – um das rasch zu sagen – dass ich mit sauertöpfischer Miene in den Teertopf gegriffen oder die Takelage mit Chesterfield’scher38...


Schmidt, Rainer
Rainer G. Schmidt, 1950 im Saarland geboren, lebt als Übersetzer in Berlin. Er überträgt aus dem Englischen und Französischen, so u.a. Werke von Joseph Conrad, Victor Hugo, Arthur Rimbaud, Robert Louis Stevenson und Henry David Thoreau. Schmidt wurde mehrfach für seine Arbeit ausgezeichnet, für die Übersetzung von «Mardi und eine Reise dorthin» mit dem Paul-Celan-Preis.

Schmidt, Rainer
Rainer G. Schmidt, 1950 im Saarland geboren, lebt als Übersetzer in Berlin. Er überträgt aus dem Englischen und Französischen, so u.a. Werke von Joseph Conrad, Victor Hugo, Arthur Rimbaud, Robert Louis Stevenson und Henry David Thoreau. Schmidt wurde mehrfach für seine Arbeit ausgezeichnet, für die Übersetzung von «Mardi und eine Reise dorthin» mit dem Paul-Celan-Preis.

Melville, Herman
Herman Melville, 1819 in New York geboren, übte nach dem frühen Tod des Vaters diverse Gelegenheitsjobs aus, bevor er 1841 auf einem Walfänger anheuerte. Als freier Schriftsteller unternahm er lange Auslands- und Vortragsreisen, arbeitete als Farmer und Zollinspektor. Heute vor allem für seinen «Moby-Dick» weltberühmt, starb der Romancier, Dichter und Essayist einsam und vergessen im Jahr 1891.

Schmidt, Rainer G.
Rainer G. Schmidt, 1950 im Saarland geboren, lebt als Übersetzer in Berlin. Er überträgt aus dem Englischen und Französischen, so u.a. Werke von Joseph Conrad, Victor Hugo, Arthur Rimbaud, Robert Louis Stevenson und Henry David Thoreau. Schmidt wurde mehrfach für seine Arbeit ausgezeichnet, für die Übersetzung von «Mardi und eine Reise dorthin» mit dem Paul-Celan-Preis.


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