E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Nielsen Ich und mein Plural
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-03853-064-0
Verlag: Der gesunde Menschenversand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bekenntnisse
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-03853-064-0
Verlag: Der gesunde Menschenversand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jens Nielsen, geboren 1966 in Aarau. Während seiner Schauspielausbildung in Zurich begann er zu schreiben. Seither arbeitet er als freier Schauspieler, Sprecher und Autor. Er ist Mitglied der Musik-Formation SEN-Trio mit Ulrike Andersen und Hans Adolfsen. Zahlreiche seiner dramatischen Werke wurden im Theater gespielt oder am Radio gesendet. Seine Soloprogramme zeigt er auf Schweizer Kleinkunstbühnen. 'Flusspferd im Frauenbad' wurde 2017 mit einem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.
Autoren/Hrsg.
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1Damals – also kürzlich
Mein Gehirn
Seit meiner Geburt
Genauer als ich ein paar Jahre lang schon lebte
Hatte meine Mutter immer mehr den Eindruck
Etwas stimme nicht mit mir
Was sollte denn nicht stimmen fragte ich
Du bist manchmal etwas seltsam
Ich bin seltsam
Schau einmal dich an
Aber darauf wollte sie nicht eingehen
Nicht bevor ein Arzt mich untersucht hatte
Zuerst ein Kinderpsychologe
Gut
Wir fuhren hin
Er begrüßte uns
Er sagte
Wen haben wir denn hier
Ich sagte
Wir haben hier mich
Das fand er lustig
Kurz
Es versprach eine lockere Sprechstunde zu werden
Mit kleinen Späßen zwischen Tests
Die ich durchmachen musste
In deren Verlauf sich weisen sollte
Dass sich meine Mutter grundlos sorgte
Aber ganz so einfach war es nicht
Der Psychologe wollte noch mehr Abklärung
Für diese mussten wir zu einem Neurologen
Der direkt in meinen Schädel schaute
Erst machte der auch kleine Späße
Dann runzelte er zunehmend die Stirn
Am Ende meinte er
Dass wirklich etwas nicht in Ordnung sei
Mit meinen Hälften im Gehirn
Ich hatte nur eine
Die rechte
Nein die linke
Nein
Nie wusste ich welche Hirnhälfte mir fehlte
Der Neurologe sagte
Das sei schon ein Merkmal dieser Fehlentwicklung
Indessen zeigte sich
Genau genommen hatte ich durchaus zwei Hälften
Nur war die eine klein geblieben wie ein Hirsekorn
Und funktional bedeutungslos
Während sich die zweite Hälfte ausgebreitet hatte
Auf der leeren Seite
Weil da ungenutzter Platz war
Und sie im Verlauf der Zeit dort alles überwuchert
Eine Art von zerebraler Kolonie gegründet hatte
Eine kleine Weltmacht war in meinem Kopf entstanden
In der Stille meiner frühen frühen Kindheit
Meine Mutter hatte ein Talent
Sie konnte eine schlechte Nachricht sogleich einordnen
Als etwas Gegebenes
Mit dem es möglichst ohne Klagen umzugehen galt
So betonte sie
Es gehe mir im Allgemeinen gut
Einfach mein Benehmen sei ein wenig seltsam
Dann fragte sie den Neurologen
Was das alles heiße für meine weitere Entwicklung
Entwicklung
Sagte der
Und zögerte
Er wolle keine Angst verbreiten
Er habe so einen Befund noch nie erhoben
Noch nie von einem solchen Fall gehört
Er könne daher gar nicht sagen
Was es für meine allfällige Entwicklung heiße
Er habe aber einem Spezialisten meinen Fall geschildert
Dieser möchte mich nun untersuchen
Gut
Wir bekamen den Termin bei einem weiteren Arzt
Dann fuhren wir nach Hause
Ich schaute auf dem Rücksitz aus dem Fenster
Deckte mir abwechselnd mit der Hand das eine Auge zu
Das andere
Um festzustellen ob ein Unterschied
Denn der Neurologe hatte mir erklärt
Die Augen seien einzeln mit den Hirnhälften verbunden
Über Kreuz
Und tatsächlich
Mit dem einen Auge sah ich in der Landschaft Tiere
Die mit dem anderen fehlten
Auf einer abgemähten Wiese stand ein Tapir
Der aber nicht da war
Als ich mit dem Auge schaute
Das zum Hirsekorn gehörte
Ich war also auf diesem Auge teilweise blind
Etwas später kroch entsprechend ein Waran am Straßenrand
Große Vögel kreisten über uns
Und zwischen ein paar Tannen
Die am Dorfeingang seit je beisammen standen
Versteckte sich ein Elch
Merkst du einen Unterschied
Fragte meine Mutter
Die mich im Rückspiegel beobachtete
Ich sagte Nein
Und bis heute habe ich es niemandem erzählt
Seit diesen Kindertagen bin ich groß und alt geworden
Ich habe längst erfahren
Das Gehirn hat gute Fähigkeiten
Fehlentwicklung an sich selbst zu korrigieren
Wirklich sah ich den Waran schon bald mit beiden Augen
Auch den Tapir und die anderen Tiere
Mein Gehirn hatte den Mangel ausgeglichen
Aber wie erwähnt
Auch dem Spezialisten sagte ich nichts
Er untersuchte mich noch mehrmals
Eine Weile galt ich als ein medizinisch interessanter Fall
Dann vergaß man mich
Es wurden andere ins Rampenlicht gezerrt
Der Kinderpsychologe äußerte sogar die Ansicht
Ich hätte mir mein seltsames Benehmen ausgedacht
Um Aufmerksamkeit zu erzeugen
Als ich sah
Wie gerne meine Mutter diesen Irrtum glauben wollte
Sagte ich
Jaja
Das könne sein
Entschuldigung
Der Brunnen
An einem Nachmittag im Frühjahr
Meine Schulzeit hatte kaum begonnen
Stachelte mich meine Schwester an zum Schuleschwänzen
Ich weiß ein neues Spiel versprach sie mir
Es heißt Brunnentrog verstopfen
Gut
Wir gingen nach dem Mittagessen los
Das war nicht weit
Um die Zeit war es auf dem Dorfplatz ruhig
Wenn kein Verkehr war auf der Hauptstraße
Hörte man das Plätschern aus dem Trog als lautestes Geräusch
Die Bauern waren bei der Arbeit
Saßen draußen auf den Feldern auf Traktoren
Säten vielleicht aus
Flickten einen Zaun der Vieh beisammen hielt
Oder richteten in einer Tenne eine Landmaschine her
Bäuerinnen waren nachmittags im Garten bei der Arbeit
Auf dem Feld
Beim Einkaufen im Dorfladen
Oder sie standen eine Weile bei den Nachbarn
Vor den Hauseingängen um zu plaudern
Jetzt aber sahen wir
Viele Leute standen auf dem Dorfplatz
Versammelt um den Brunnen
Immer mehr kamen hinzu
Nur Kinder waren nicht dabei
Keine meiner Kameraden
Die saßen wohl gehorsam in der Schulbank
Um die spärlichen Lektionen zu erdulden
Die zwar unterbrochen sein mussten
Denn ich sah
Die Lehrerin kam eben auch zum Brunnen
Sie hatte ihre Schüler offenbar verlassen
Sitzen lassen in der Schule
Sonst aber hatten alle Dorfbewohner mit der Arbeit aufgehört
Gleichzeitig soweit wir sehen konnten
Und waren auf dem Weg hierher
Oder schon angekommen
Sie grüßten nicht
Noch redeten sie sonst ein Wort
Meine Schwester stand mit mir inmitten dieser Szene
Wir schauten einem Vorgang zu
Den niemand sonst bezeugen konnte
Die Dorfbewohner wollten später nichts mehr wissen
Sie hatten einer Kraft gehorcht
Die nach dem Zwischenfall verschwunden war
Vergessen
Abgestritten was weiß ich
Nicht mehr gefühlt
Wir aber sahen es
Von allen Seiten kamen sie
Aus den Häusern
Von den Feldern
Auf den Dorfplatz
Sie standen eine Weile still
Wie um sich zu konzentrieren
Zogen ihre Schuhe aus
Dann kletterten sie in den Brunnen
Das Wasser schwappte über
Als die ersten darin standen
Und den nächsten halfen wenn es nötig war
Denn es fiel nicht allen leicht den Brunnenstein zu übersteigen
Bald war der runde Trog gefüllt mit Menschen
Sie standen eng zusammen
Die Gesichter hin zur Mitte
Es sah aus wie die Besprechung einer sehr geheimen Sache
Nur dass eben niemand etwas sagte
Nun war der Brunnen groß für einen Brunnen
Aber viel zu klein um alle Dorfbewohner aufzunehmen
Jedenfalls so dachte ich
Doch wie viele Menschen auch hinzuströmten
Und von allen Seiten in den Brunnen stiegen
Er war zwar immer voll
Aber immer groß genug
Alle fanden darin Platz
Sie standen dicht an dicht
Rückten dabei langsam gegen innen
Einer Mitte zu die wir nicht sehen konnten
Nach einer Weile waren alle in den Brunnentrog gestiegen
Und zum großen Teil
Ich muss es sagen
Nicht mehr da
Meine Schwester sprach ein paar der Leute an
Die als Letzte eingestiegen waren
Und uns den Rücken zeigten
Guten Tag Frau Wasserfallen
Geht es Ihnen
Niemand reagierte
Meine Schwester gab mir einen Schubs
Los komm
Wir machen etwas anderes
Wir gehen Süßigkeiten ausleihen im Laden
Ja gut
Von mir aus
Und wir gingen hin
Der Dorfladen war menschenleer
Ich stopfte mir die Hosentaschen voll Bonbons und Schokolade
Ich plante es als Beute zu verstecken
Meine Schwester legte keinen Vorrat an
Sie aß einfach drauflos
Bis ihr der Appetit verging
Wir streiften noch etwas umher im Laden
Bis wir keine Lust mehr hatten
Schlichen dann hinaus
Als wir ein zweites Mal zum Brunnen kamen
Plätscherte er ruhig
Rund um den Brunnen
Ordentlich gereiht
In Kreisen
Standen hunderte Paar Schuhe
Und die Menschen waren weg
Der Brunnentrog enthielt sie nicht
Sie sind in der Geschichte die das Quellwasser...




