Nielsen | Ich und mein Plural | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Nielsen Ich und mein Plural

Bekenntnisse
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-03853-064-0
Verlag: Der gesunde Menschenversand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Bekenntnisse

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-03853-064-0
Verlag: Der gesunde Menschenversand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Einmal bringt Jens Nielsen mit seinen Wort- und Denkkunststücken unsere Welt auf verführerische Weise durcheinander. Er macht das als Erzähler so ordentlich wie René Magritte als Maler, der Männer im Anzug vom Himmel regnen lässt. 'Man blättert durch sein Menschenleben und stellt fest / Überall sind Dinge vorgefallen die nicht möglich sind', sagt das erzählende Ich zu Beginn. Seine Abenteuer lassen sich in Episoden lesen oder als Roman, den wir bis zum Schluss nicht aus der Hand legen. Nielsen schafft damit ein neues Genre: den surrealistischen Schelmenroman. Für dessen Protagonisten bestehen Notwendigkeiten wie für seine Vorläufer darin, dass sie ihn in der Not wendig werden lassen. Er fuhrt uns in die Vergangenheit, also ins Heute, ins Tierreich, also zum Menschen, in die Physik, also in unser Innerstes, in die Medizin, also ins Verhängnis, in den Zerfall, also ins Wohlsein, in die Welt, also nach Hause. Mit Selbstverständlichkeit erlebt er so die ausgefallensten Abenteuer und fragt sich zum Schluss, warum alles eins sein soll, wenn doch 'alles zusammen unendlich viel ist.' In neugierigem Staunen legt er seine Bekenntnisse ab, nicht in reuiger Bussbereitschaft. Und wir wundern uns mit ihm und merken: Mit dem Staunen beginnt das lustvolle Denken, und das Ich gerät in den Plural.

Jens Nielsen, geboren 1966 in Aarau. Während seiner Schauspielausbildung in Zurich begann er zu schreiben. Seither arbeitet er als freier Schauspieler, Sprecher und Autor. Er ist Mitglied der Musik-Formation SEN-Trio mit Ulrike Andersen und Hans Adolfsen. Zahlreiche seiner dramatischen Werke wurden im Theater gespielt oder am Radio gesendet. Seine Soloprogramme zeigt er auf Schweizer Kleinkunstbühnen. 'Flusspferd im Frauenbad' wurde 2017 mit einem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.
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Autoren/Hrsg.


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1Damals – also kürzlich

Mein Gehirn

Seit meiner Geburt

Genauer als ich ein paar Jahre lang schon lebte

Hatte meine Mutter immer mehr den Eindruck

Etwas stimme nicht mit mir

Was sollte denn nicht stimmen fragte ich

Du bist manchmal etwas seltsam

Ich bin seltsam

Schau einmal dich an

Aber darauf wollte sie nicht eingehen

Nicht bevor ein Arzt mich untersucht hatte

Zuerst ein Kinderpsychologe

Gut

Wir fuhren hin

Er begrüßte uns

Er sagte

Wen haben wir denn hier

Ich sagte

Wir haben hier mich

Das fand er lustig

Kurz

Es versprach eine lockere Sprechstunde zu werden

Mit kleinen Späßen zwischen Tests

Die ich durchmachen musste

In deren Verlauf sich weisen sollte

Dass sich meine Mutter grundlos sorgte

Aber ganz so einfach war es nicht

Der Psychologe wollte noch mehr Abklärung

Für diese mussten wir zu einem Neurologen

Der direkt in meinen Schädel schaute

Erst machte der auch kleine Späße

Dann runzelte er zunehmend die Stirn

Am Ende meinte er

Dass wirklich etwas nicht in Ordnung sei

Mit meinen Hälften im Gehirn

Ich hatte nur eine

Die rechte

Nein die linke

Nein

Nie wusste ich welche Hirnhälfte mir fehlte

Der Neurologe sagte

Das sei schon ein Merkmal dieser Fehlentwicklung

Indessen zeigte sich

Genau genommen hatte ich durchaus zwei Hälften

Nur war die eine klein geblieben wie ein Hirsekorn

Und funktional bedeutungslos

Während sich die zweite Hälfte ausgebreitet hatte

Auf der leeren Seite

Weil da ungenutzter Platz war

Und sie im Verlauf der Zeit dort alles überwuchert

Eine Art von zerebraler Kolonie gegründet hatte

Eine kleine Weltmacht war in meinem Kopf entstanden

In der Stille meiner frühen frühen Kindheit

Meine Mutter hatte ein Talent

Sie konnte eine schlechte Nachricht sogleich einordnen

Als etwas Gegebenes

Mit dem es möglichst ohne Klagen umzugehen galt

So betonte sie

Es gehe mir im Allgemeinen gut

Einfach mein Benehmen sei ein wenig seltsam

Dann fragte sie den Neurologen

Was das alles heiße für meine weitere Entwicklung

Entwicklung

Sagte der

Und zögerte

Er wolle keine Angst verbreiten

Er habe so einen Befund noch nie erhoben

Noch nie von einem solchen Fall gehört

Er könne daher gar nicht sagen

Was es für meine allfällige Entwicklung heiße

Er habe aber einem Spezialisten meinen Fall geschildert

Dieser möchte mich nun untersuchen

Gut

Wir bekamen den Termin bei einem weiteren Arzt

Dann fuhren wir nach Hause

Ich schaute auf dem Rücksitz aus dem Fenster

Deckte mir abwechselnd mit der Hand das eine Auge zu

Das andere

Um festzustellen ob ein Unterschied

Denn der Neurologe hatte mir erklärt

Die Augen seien einzeln mit den Hirnhälften verbunden

Über Kreuz

Und tatsächlich

Mit dem einen Auge sah ich in der Landschaft Tiere

Die mit dem anderen fehlten

Auf einer abgemähten Wiese stand ein Tapir

Der aber nicht da war

Als ich mit dem Auge schaute

Das zum Hirsekorn gehörte

Ich war also auf diesem Auge teilweise blind

Etwas später kroch entsprechend ein Waran am Straßenrand

Große Vögel kreisten über uns

Und zwischen ein paar Tannen

Die am Dorfeingang seit je beisammen standen

Versteckte sich ein Elch

Merkst du einen Unterschied

Fragte meine Mutter

Die mich im Rückspiegel beobachtete

Ich sagte Nein

Und bis heute habe ich es niemandem erzählt

Seit diesen Kindertagen bin ich groß und alt geworden

Ich habe längst erfahren

Das Gehirn hat gute Fähigkeiten

Fehlentwicklung an sich selbst zu korrigieren

Wirklich sah ich den Waran schon bald mit beiden Augen

Auch den Tapir und die anderen Tiere

Mein Gehirn hatte den Mangel ausgeglichen

Aber wie erwähnt

Auch dem Spezialisten sagte ich nichts

Er untersuchte mich noch mehrmals

Eine Weile galt ich als ein medizinisch interessanter Fall

Dann vergaß man mich

Es wurden andere ins Rampenlicht gezerrt

Der Kinderpsychologe äußerte sogar die Ansicht

Ich hätte mir mein seltsames Benehmen ausgedacht

Um Aufmerksamkeit zu erzeugen

Als ich sah

Wie gerne meine Mutter diesen Irrtum glauben wollte

Sagte ich

Jaja

Das könne sein

Entschuldigung

Der Brunnen

An einem Nachmittag im Frühjahr

Meine Schulzeit hatte kaum begonnen

Stachelte mich meine Schwester an zum Schuleschwänzen

Ich weiß ein neues Spiel versprach sie mir

Es heißt Brunnentrog verstopfen

Gut

Wir gingen nach dem Mittagessen los

Das war nicht weit

Um die Zeit war es auf dem Dorfplatz ruhig

Wenn kein Verkehr war auf der Hauptstraße

Hörte man das Plätschern aus dem Trog als lautestes Geräusch

Die Bauern waren bei der Arbeit

Saßen draußen auf den Feldern auf Traktoren

Säten vielleicht aus

Flickten einen Zaun der Vieh beisammen hielt

Oder richteten in einer Tenne eine Landmaschine her

Bäuerinnen waren nachmittags im Garten bei der Arbeit

Auf dem Feld

Beim Einkaufen im Dorfladen

Oder sie standen eine Weile bei den Nachbarn

Vor den Hauseingängen um zu plaudern

Jetzt aber sahen wir

Viele Leute standen auf dem Dorfplatz

Versammelt um den Brunnen

Immer mehr kamen hinzu

Nur Kinder waren nicht dabei

Keine meiner Kameraden

Die saßen wohl gehorsam in der Schulbank

Um die spärlichen Lektionen zu erdulden

Die zwar unterbrochen sein mussten

Denn ich sah

Die Lehrerin kam eben auch zum Brunnen

Sie hatte ihre Schüler offenbar verlassen

Sitzen lassen in der Schule

Sonst aber hatten alle Dorfbewohner mit der Arbeit aufgehört

Gleichzeitig soweit wir sehen konnten

Und waren auf dem Weg hierher

Oder schon angekommen

Sie grüßten nicht

Noch redeten sie sonst ein Wort

Meine Schwester stand mit mir inmitten dieser Szene

Wir schauten einem Vorgang zu

Den niemand sonst bezeugen konnte

Die Dorfbewohner wollten später nichts mehr wissen

Sie hatten einer Kraft gehorcht

Die nach dem Zwischenfall verschwunden war

Vergessen

Abgestritten was weiß ich

Nicht mehr gefühlt

Wir aber sahen es

Von allen Seiten kamen sie

Aus den Häusern

Von den Feldern

Auf den Dorfplatz

Sie standen eine Weile still

Wie um sich zu konzentrieren

Zogen ihre Schuhe aus

Dann kletterten sie in den Brunnen

Das Wasser schwappte über

Als die ersten darin standen

Und den nächsten halfen wenn es nötig war

Denn es fiel nicht allen leicht den Brunnenstein zu übersteigen

Bald war der runde Trog gefüllt mit Menschen

Sie standen eng zusammen

Die Gesichter hin zur Mitte

Es sah aus wie die Besprechung einer sehr geheimen Sache

Nur dass eben niemand etwas sagte

Nun war der Brunnen groß für einen Brunnen

Aber viel zu klein um alle Dorfbewohner aufzunehmen

Jedenfalls so dachte ich

Doch wie viele Menschen auch hinzuströmten

Und von allen Seiten in den Brunnen stiegen

Er war zwar immer voll

Aber immer groß genug

Alle fanden darin Platz

Sie standen dicht an dicht

Rückten dabei langsam gegen innen

Einer Mitte zu die wir nicht sehen konnten

Nach einer Weile waren alle in den Brunnentrog gestiegen

Und zum großen Teil

Ich muss es sagen

Nicht mehr da

Meine Schwester sprach ein paar der Leute an

Die als Letzte eingestiegen waren

Und uns den Rücken zeigten

Guten Tag Frau Wasserfallen

Geht es Ihnen

Niemand reagierte

Meine Schwester gab mir einen Schubs

Los komm

Wir machen etwas anderes

Wir gehen Süßigkeiten ausleihen im Laden

Ja gut

Von mir aus

Und wir gingen hin

Der Dorfladen war menschenleer

Ich stopfte mir die Hosentaschen voll Bonbons und Schokolade

Ich plante es als Beute zu verstecken

Meine Schwester legte keinen Vorrat an

Sie aß einfach drauflos

Bis ihr der Appetit verging

Wir streiften noch etwas umher im Laden

Bis wir keine Lust mehr hatten

Schlichen dann hinaus

Als wir ein zweites Mal zum Brunnen kamen

Plätscherte er ruhig

Rund um den Brunnen

Ordentlich gereiht

In Kreisen

Standen hunderte Paar Schuhe

Und die Menschen waren weg

Der Brunnentrog enthielt sie nicht

Sie sind in der Geschichte die das Quellwasser...



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