Otto | Neu codiert | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 120 Seiten

Otto Neu codiert

Ein Schießbefehl verändert den Lebensweg nachhaltig

E-Book, Deutsch, 120 Seiten

ISBN: 978-3-347-46937-2
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



In nur einer einzigen Nacht wird der linientreue DDR-Bürger Dirk Otto zum Widerstandskämpfer: Er sieht mit an, wie sich seine Kameraden im Zuge der 89er Demonstrationen darauf vorbereiten, mit Waffengewalt gegen das eigene Volk vorzugehen. Otto, gegen den die Stasi bereits wegen verdeckter Kontakte ins nichtsozialistische Ausland ein Ermittlungsverfahren anstrengt, entschließt sich, in die Bundesrepublik zu fliehen und dort mit dem BND an dem Sturz des DDR-Regimes mitzuwirken.

»Neu codiert« ist nicht nur ein zeitgeschichtliches Dokument, das den Alltag in der DDR und der Volksarmee lebensnah beschreibt, sondern auch ein Bericht darüber, wie sich ein über Jahrzehnte aufgebautes Wertegefüge binnen weniger Stunden ins Gegenteil verkehren kann.
Otto Neu codiert jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Kapitel: Der Vermerk in der Akte Als ich vor ein paar Jahren die zu meiner Person angelegten Stasi-Akten hervorholte und genauer anschaute, musste ich schmunzeln: Der erste Aktenvermerk erfolgte rund um meinen 18. Geburtstag, die Stasi hatte mir ohne mein Wissen ein „Geburtsgeschenk“ gemacht. Wie kam die Stasi zu ihrem zweifelhaften Ruf? Der offizielle Name lautete „Ministerium für Staatssicherheit“, kurz MfS, der Volksmund nannte sie „Staatssicherheit“ oder kurz eben „Stasi“. Das Ministerium wurde unter Führung des sowjetischen Geheimdienstes direkt bei Gründung der DDR geschaffen und war eine Mischung aus innenpolitischer Geheimpolizei, Auslandsnachrichtendienst und Ermittlungsbehörde. Das MfS verstand sich als ‚Schild und Schwert‘ der Regierungspartei SED. Die sowjetische Besatzungsmacht forcierte im April 1946 den Zusammenschluss der KPD und der SPD zu eben jener SED, der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“. Deren Führungsanspruch wurde in der Verfassung festgeschrieben und rechtfertigte das Eingreifen in sämtliche Lebensbereiche der Bürger. Die SED kontrollierte die Ausbildung der Kinder, die Freizeitgestaltung, die Arbeitsplatz- und Wohnungswahl. Es galt, den Sozialismus zu leben und zu fördern, und verdächtig machte sich, wer diesem Gleichschritt nicht folgte. Die Partei gab die politischen Leitlinien vor und die Stasi sorgte mit ihrer an militärische Armeen erinnernden zentralen Organisation für deren Einhaltung. In den ersten Jahren wurde sie von Wilhelm Zaisser geleitet, von 1953 bis 1957 von Ernst Wollweber und von 1957 bis fast zum Ende von Erich Mielke. Eigenen Angaben zufolge arbeiteten rund 90.000 Menschen hauptamtlich für die Behörde, die meisten von ihnen kamen in den 1970er-Jahren hinzu, da zu diesem Zeitpunkt die von Willy Brandt gesteuerte Entspannungspolitik die Befürchtung erstarken ließ, der Westen könne eine „feindliche Beeinflussung“ vornehmen. Die Mitarbeiter untergliederten sich in zwei Gruppen, die normalen Hauptamtlichen und die informellen Mitarbeiter. Wenn wir Anekdoten aus der Zeit hören, dann meist über die informellen Mitarbeiter, weil es Menschen „von nebenan“ waren, die projektbezogene Informationen über Verdächtige erhaschen und weitergeben sollten. Jedes Land hat seinen Geheimdienst und das Interesse, staatsfeindliche Bestrebungen zu unterbinden. Da ist von Haus aus also nichts Falsches dran. In Verruf brachte die Stasi ihre zweifelhaften Methoden. Kurz nach Gründung der DDR übte das MfS regelrechten Terror aus: Es gab körperliche Gewalt, willkürliche Verhaftungen und mit drakonischen Strafen endende Schauprozesse. Man wollte Signale setzen und sich von der Bundesrepublik abgrenzen. Das MfS arbeitete eng mit der Volkspolizei, dem Zoll und anderen Behörden zusammen und konnte dadurch auf sämtliche Informationen und Unterlagen zugreifen, sogar der Verstoß gegen DDR-Gesetze war legitimiert. Erst mit dem Bau der Berliner Mauer änderte sich die Taktik; fortan sollte vermehrt „leise“ überwacht werden. Weniger grausam war das allerdings nicht; die Stasi konnte sich Zutritt zur eigenen Wohnung verschaffen, schnüffeln, abhören, Informationen einholen und Gerüchte streuen, bewusst ausgrenzen und Dutzende Nadelstiche setzen. Verdächtige wurden über Monate schikaniert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Nicht wenige trieb man damit in den Selbstmord, Freundschaften gingen zu Bruch und Karrieren brachen ein. Alles so, dass nie ganz klar war, wer wirklich hinter all dem steckte. Erhärtete sich der Verdacht auf staatsfeindliches Handeln, konnten Bürger in Gewahrsam genommen und verhört werden. Auch hier kamen fragwürdige Mittel zum Einsatz, um die Beschuldigten zum Reden zu bringen. Als schockierend empfand ich etwa die Geschichte eines jungen Familienvaters, dem erzählt wurde, dass ihn seine eigene Ehefrau schwer belastet habe. Außerdem stünde das gemeinsame Kind kurz davor, in ein Heim gegeben zu werden – das alles könne er durch ein Geständnis verhindern. Er brach unter dem Druck zusammen und bestätigte den Beamten, was diese hören wollten. Warum das alles? Ziel war es, wie der Name schon sagt, die Sicherheit des Staates zu erhalten. Querulanten, die den Sozialismus hinterfragten und den Staat von innen angriffen, sollten aus dem Verkehr gezogen werden. Es galt als kriminell, das Denken der Mitmenschen zu vergiften – so kriminell, dass ausgerechnet diejenigen, die den Faschismus zum Staatsfeind erklärten, faschistisch-anmutende Methoden wählten, um Andersdenkende zum Schweigen zu bringen. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen; arbeitende Staatsbürger, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht auf der Linie des Staates bewegten und womöglich gar von Freiheit, Demokratie, offenen Grenzen und einer anderen Gesellschaft oder einem anderen Leben träumten, sollten daran gehindert werden, über ihre Gedanken zu sprechen. Alles, was diese Menschen wollten, war, sich selbst entfalten zu dürfen, dazulernen zu können und hinterfragt zu werden. Sie wollten ihren Horizont erweitern – und nicht vorgebetet bekommen, was sie zu glauben haben. *** Meine Schilderungen sollen dennoch nicht den Eindruck erwecken, das Leben in der DDR glich einem Horrortrip. Anders als es Anekdoten suggerieren, war man nicht ständig in Sorge darüber, sich an den falschen Stellen zu verplappern. Mit dem richtigen Verhalten ließ es sich gut leben. Man wusste um die Umtriebigkeit der Staatssicherheit, und auch, dass man Probleme bekommen konnte – doch im Alltag spielte dieser Gedanke für die allermeisten Bürger keine nennenswerte Rolle. Manchmal fällt mir das Wort der „Parallelgesellschaft“ ein, wenn ich an die Vielzahl der IMs denke, die es gegeben hat. Obwohl jeder ein solcher informeller Mitarbeiter hätte gewesen sein können, waren diese im Regelfall unsichtbar. Intern gab es für sie Tarnnamen, sodass jemand mit Akteneinsicht nicht hätte erkennen können, wer sich dahinter verbarg. Als ich 1968 geboren wurde, waren die Tage des offenen Terrors längst gezählt und die Stasi arbeitete meist präventiv oder aber im Hinblick auf Menschen, die sich verdächtigt gemacht hatten. Überhaupt stellte das MfS kein größeres Problem dar, solange man sich an die Spielregeln hielt. Die hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiter verfolgten einen klaren Auftrag und hatten kein Interesse an der Gängelung Unschuldiger. Wie in allen Machtgefügen sind beide Positionen in gewisser Weise verletzlich; der eine kann nicht ohne den anderen. Aus Sicht des Bürgers war die Stasi berechenbar. Man wusste, welches Verhalten die Staatsführung erwartete und es war klar, über was geredet werden durfte. Es stand zwar nirgendwo explizit geschrieben, aber wir sogen mit der Muttermilch auf, dass die Linie zwischen Gut und Böse an der Grenze zur BRD verläuft. Wir, der Osten, der Sozialismus, waren die „Guten“, die danach strebten, die klassenlose Gesellschaft im Arbeiter- und Bauernstaat zu perfektionieren, und auf der anderen Seite gab es „die anderen“, den Westen, die „Bösen“. Der ausbeuterische Kapitalismus war der Faschismus im neuen Gewand. Das Kapital, Amerika, die Bundesrepublik, London, Paris, Reisefreiheit – feindliche Konzepte, bei deren Erwähnung die Ohren gespitzt wurden. Die Maßgabe war jedoch transparent und ein linientreuer Bürger hatte nichts zu befürchten. Tabu waren Kontakte ins nichtsozialistische Ausland wie auch der Besitz verdächtiger Print-Medien. Auch eine das Regime kritisierende Meinungsäußerung konnte eine Aktenlage gegen sich produzieren; wer das wusste und vermied, bekam keine Probleme. Und, unter uns: Es hätte weder die Bereitschaft noch die Ressourcen gegeben, um 15–20 Millionen DDR-Bürger lückenlos zu drangsalieren … *** Unsere Familie hatte zwei Berührungspunkte mit der Stasi. Einerseits wohnte in unserer Nachbarschaft der Richter des Landkreises Freital, der im alltäglichen Umgang ein angenehmer Zeitgenosse war, der jedoch im Verdacht stand, ein Informant des MfS zu sein. Bis heute konnten wir das nicht nachprüfen; mit meiner eigenen Ermittlungsakte hatte er jedenfalls nichts zu tun. Die Vermutung prägte unseren damaligen Umgang: Wann immer wir ihm begegneten, verhielten wir uns konform. Andererseits gab es die Geschichte meines Vaters, der bei den Nachrichteningenieuren für Funkverbindungen eine Dienstreise nach Russland machen durfte. Während dieser Reise hatte er sich negativ über die Lebensumstände und die Technologie geäußert, die sie vor Ort vorgefunden hatten, und als dann ein Jahr später eine weitere Dienstreise zu vergeben war, wurde er nicht mehr berücksichtigt, obwohl seine Arbeit zufriedenstellend gewesen war. Wir interpretierten das bereits damals als eine Art verdecktes Zeichen: „Wir tun dir nichts – aber du solltest aufhören, uns zu kritisieren.“ Die Stasi war also in alle Angelegenheiten und insbesondere in die, die...


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.