E-Book, Deutsch, Band 1, 264 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 210 mm
Reihe: Almosen fürs Vergessen
Raven / Franke Almosen fürs Vergessen / Fielding Gray
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96160-043-4
Verlag: Elfenbein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 1, 264 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 210 mm
Reihe: Almosen fürs Vergessen
ISBN: 978-3-96160-043-4
Verlag: Elfenbein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Simon Raven (1927-2001) besuchte als Spross einer Strumpffabrikantenfamilie die elitäre Charterhouse School, von der er 1945 wegen homosexueller Handlungen relegiert wurde. Unter seinen Mitschülern waren u. a. James Prior (später Minister im Kabinett von Margaret Thatcher) sowie der spätere Herausgeber der 'Times', William Rees-Mogg (dessen Sohn Jacob heute dem Kabinett von Boris Johnson angehört). Beide hat er in der Romanreihe 'Almosen fürs Vergessen' literarisch verewigt. Nach seinem Militärdienst, den Raven als Offiziersanwärter in Indien ableistete, studierte er ab 1948 am King's College in Cambridge Altphilologie. Er wurde Vater eines Sohnes und heiratete widerwillig. In finanzielle Schwierigkeiten geraten, trat er erneut in die Armee ein, wurde in Deutschland und in Kenia stationiert, quittierte den Dienst aber schließlich, um eine unehrenhafte Entlassung wegen Wettschulden abzuwenden. Fortan widmete er sich der Schriftstellerei und arbeitete als Literaturkritiker, bis ihn der Verleger Anthony Blond 1958 unter der Bedingung, mindestens 50 Meilen von Londons Vergnügungsstätten entfernt zu wohnen, unter Vertrag nahm - ein Arrangement, das drei Jahrzehnte währen sollte. Ein ausschweifender Lebenswandel, kühne Meinungen, seine offen ausgelebte Bisexualität und die Tatsache, dass er das Material für seine Bücher aus dem unmittelbaren Freundeskreis gewann und mit freizügigen Sexszenen und scharfzüngigen Urteilen über die Gesellschaft kombinierte, verschafften ihm einen Ruf als Schandmaul unter den englischen Nachkriegsautoren. Zeitgenossen schmähten ihn als Verfasser des 'wohl schmutzigsten Cricketbuchs aller Zeiten', und sein Roman 'Fielding Gray' verdiene eigentlich den Namen 'Brideshead Revilified'. Zur gleichen Zeit wurde er von namhaften Kollegen wie etwa Anthony Powell nicht nur als Literaturkritiker, sondern auch als Literat geschätzt. Sein 10-bändiger Romanzyklus 'Alms for Oblivion' (1964-1976) wird heute mit dem Werk von Lawrence Durrell, Graham Greene, Anthony Powell und Evelyn Waugh verglichen und Raven als 'einer der brillantesten Romanciers seiner Generation' bewertet (Patrick Newley). Einem größeren Publikum bekannt geworden war Raven allerdings zunächst durch Arbeiten fürs Fernsehen, wie die Verfilmung von Trollopes 'The Pallisers' (1974) und die Serie 'Edward and Mrs. Simpson' (1978), sowie die Mitarbeit am Drehbuch für den James-Bond-Film 'Im Geheimdienst Ihrer Majestät' (1969). Dem Vorwurf, ein Snob zu sein, begegnete er mit dem Hinweis, er schreibe 'für Leute, die sind wie ich: gebildet, weltgewandt und skeptisch'.
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DIE AUFZEICHNUNGEN VON FIELDING GRAY
Am zweiten Sonntag nachdem der Krieg in Europa zu Ende war, wurde in der Kapelle unserer Schule ein Gottesdienst zum Gedenken an die Toten abgehalten. So viele Ehemalige, wie man in der kurzen Zeit erreichen konnte, waren darüber informiert worden, und die Sitzbänke für Besucher quollen über von Uniformen. Während wir abgetragene graue Flanellhosen und ausgebesserte Tweedjacken anhatten, waren Englands siegreiche Kämpfer mit allen nur denkbaren Farben und Effekten ausstaffiert. Da waren die schwarz-goldenen Kopfbedeckungen der Gardedivision, die dunkelgrünen Schiffchen des Schützenregiments, um die Hüften der Highlander waren Kilts geschwungen und die Mitglieder der berittenen Artillerie über und über mit Kugelknöpfen bedeckt; es gab makabere Uniformabzeichen und seltsam geknotete Achselschnüre; vereinzelt waren sogar Reiterstiefel mit Sporen zu sehen, obwohl ihr Anblick 1945 allgemein missbilligt wurde, weil sie Assoziationen an den Faschismus hervorriefen.
Zunächst verlief der Gottesdienst im Einklang mit diesem prächtigen Dekor. Ein innig gesungenes »Jerusalem«, dessen politische Implikationen den meisten Anwesenden entgingen, sorgte für ein wohlgefälliges Gefühl des Triumphs, und die Stelle aus den Apokryphen, die sie bei solchen Gelegenheiten immer wählen, ließ uns, auch wenn sie dem gemeinen Fußvolk den nötigen Tribut zollt, keinen Zweifel, dass materieller Wohlstand und ein traditionelles Herrschaftsverständnis das waren, worauf es letztlich ankam. Ich selbst saß in der Abteilung für die Oberstufenschüler, von wo aus man einen guten Blick auf die Besucher hatte, und ich konnte sehen, dass sich die prachtvollen Offiziere zu diesem Zeitpunkt unverhohlen zurechtmachten, als wäre die ganze Veranstaltung dazu da, ihnen zu huldigen. Tatsächlich zeigten sich, als die Verdienste der Toten gewürdigt wurden (ein Prozedere, das einige Zeit in Anspruch nahm), unmissverständliche Anzeichen von Langeweile und Missfallen, es wurde ausgiebig an Offiziersstöcken und Pferdepeitschen herumgespielt und viel an den Sam-Browne-Gürteln herumgefummelt; die Krieger waren, wie es schien, nicht hier versammelt, um sich lang und breit die Errungenschaften anderer anzuhören. Es wäre das Mindeste gewesen, so schienen sie zu denken, dass man die Liste diskret ein wenig hätte kürzen können.
»Connaught la Poeur Beresford«, tönte unser Schulvorsteher, »Leutnant, Irische Garde, in einem Lazarett an Kriegsverwundungen verstorben, die er bei Anzio erlitten hat. Zuvor mit dem Militärverdienstkreuz ausgezeichnet, für Tapferkeit in der Libyschen Wüste.«
Gut, das war in Ordnung: Selbst der überhebliche Kavallerist in den kirschroten Hosen konnte daran schwerlich etwas auszusetzen haben. Aber:
»Michael John Blood, Obergefreiter, Königliches Fernmeldekorps, verstorben an einer Lungenentzündung im Militärhospital in Aldershot.«
Das war hier natürlich ganz und gar fehl am Platz. Vielleicht mochte es unter Umständen gerade so angehen, solange man nicht noch die Aufmerksamkeit darauf lenkte. Es war nicht nötig, das an die Öffentlichkeit zu zerren – so sah das offenbar ein junger Major mit steinern verkniffenem Mund, der obsessiv immer wieder über einen riesigen, khakifarbenen Filzhut strich. Als ich den hochmütigen Major beobachtete, wallte schuldbewusst eine Welle von Mitleid für Michael John Blood in mir auf, der geradezu grotesk verpickelt und o-beinig gewesen war, aber nie hochmütig auf jemanden herabgesehen hatte. Ruhe in Frieden! Für wen hielt sich dieser Major, dass er meinte, auf dieses klägliche Grab spucken zu können?
Andererseits, für wen hielt ich mich, wenn ich meinte, andere kritisieren zu dürfen, und sei es einen arroganten Fiesling wie den hier? Ich verschloss meine Ohren gegen die aufreibende Deklamation der Sterblichkeit und dachte darüber nach, dass meine eigene Geisteshaltung, auch wenn sie vielleicht weniger abschätzig war als die der hier versammelten Großtuer, dennoch ganz ähnlich und im Grunde genauso eigensüchtig war. (»Norman Isaac Cohen, Hauptmann, Fallschirmjägerregiment« … Cohen ?) Denn das einzige Gefühl, dessen ich mir an diesem schönen Sommerabend im ersten Mai der Friedenszeit wirklich bewusst war, war Erleichterung: Erleichterung, dass niemand vorhatte, mich zu töten, dass ich jetzt ungehindert in eine Zukunft eintreten konnte, die mir sowohl Vergnügen versprach als auch die Möglichkeit, mich hervorzutun. Es lag, gleich als Erstes, ein ganzer Sommer mit nichts als Cricket vor mir, und danach würde ich noch ein weiteres Jahr auf der Schule bleiben, in dieser Zeit dann Kapitän meines Hauses (und vielleicht der gesamten Schule) sein und versuchen, das kleine Stipendium, das mir im letzten April für Lancaster College zugesprochen worden war, zu einem üppig dotierten Vollstipendium aufzustocken. Ein Platz in Cambridge war mir also bereits sicher, und da mein Vater finanziell gut gestellt (wenn auch nicht eben freigebig) war, konnte ich an der Ausschreibung leichten Herzens als jemand teilnehmen, dessen Beweggrund die ehrenvolle Auszeichnung und nicht die Notwendigkeit war.
»William King Fullworthy, Unteroffizier, Nachrichtenkorps. Irgendwo im Dschungel in Burma.«
Irgendwo im Dschungel. Als hätte man das nicht schon vorher wissen können. Fullworthy hatte, kaum zwei Jahre älter als ich, bevor er Soldat wurde, das großartigste von all den großartigen Stipendien, die Lancaster zu bieten hatte, zugesprochen bekommen. Doch würde Fullworthy, wie es schien, nicht zurückkehren, um es in Anspruch zu nehmen: Stelle frei. Wohingegen ich, Fielding Gray, nur hinaustreten musste in die Abendsonne, und zu allen Seiten hin würde sich die Welt friedlich und heiter um mich erstrecken, um mein Wissen zu mehren, mein Lob zu singen, mir Freude zu verheißen.
Und so musste ich in der Tat, dachte ich, angesichts dieser Erlösung zumindest versuchen, Dankbarkeit zu zeigen. Aber wem gegenüber? Wofür?
»Tobias Ainsworth Jackson, Oberstleutnant, Königlich-Britisches Feldzeugkorps, starb an Herzversagen als Kommandeur der 14. Versorgungseinheit in Woking.«
Starb am Suff. Jeder kannte die Geschichte, da Woking nicht weit entfernt lag und Oberstleutnant Jackson, gelangweilt von seiner Aufgabe, die genau genommen in der Abwicklung von Militärbegräbnissen bestand, häufig und unglückseligerweise seine alte Schule besucht hatte. Nein, ihm konnte ich nicht dankbar sein für die Zukunft, die mir wiedergeschenkt worden war. Aber wem sonst? Dem toten, o-beinigen Blood? Ein furchtbarer Gedanke. Dem rotlippigen Fähnrich der Blues and Royals, der da gerade, einen Schmollmund machend, von gegenüber zu mir herüberschmachtete? Lächerlich. Dem hochnäsigen Major? Niemals. Gott? Der hätte die ganze Sache erst gar nicht losgehen lassen dürfen. Dann dem Schicksal? Vielleicht. Oder dem Glück? Das traf es gewiss schon besser. Der Dank war Frau Fortuna geschuldet, der es, so konnte man sich denken, gar nicht recht sein würde, wenn man denen, die sie verlassen hatte, zu viel Aufmerksamkeit zukommen ließ. Die Vernunft gebot es also, dass man Fullworthy, irgendwo im Dschungel, besser unbetrauert vor sich hin verrotten ließ.
»Alastair Edward Farquar Morrison, Hauptmann, Landwehrregiment Norfolk, gefallen an den Stränden Kretas, nachdem er sich mit viel Mut und Hingabe freiwillig zum Dienst verpflichtet hatte. Von Maschinengewehrfeuer zu Fall gebracht, ist Hauptmann Morrison …«
Um ihn nicht zu weinen war schwer. Alastair Morrison war ein Mann gewesen, wie es nur wenige gab. Wie sein jüngerer Bruder Peter. Sehr langsam wandte ich meinen Kopf, bis ich, weiter drüben in der Reihe, das großflächige, runde Gesicht und den stämmigen Oberkörper von Peter Morrison sehen konnte.
»… woraufhin Hauptmann Morrison zurück ins Meer watete, einen Mann rausholte und in Sicherheit brachte, um dann den anderen zu holen. Er wurde nur wenige Meter vor der schützenden Deckung tödlich getroffen. Bekam postum das Viktoriakreuz verliehen.«
Peters Gesicht schien sich, während ich zu ihm hinübersah, leicht zu verzerren; er blinzelte einmal, blinzelte dann noch mal, schniefte daraufhin einmal kräftig, verschränkte die Arme vor seiner Brust und fand in sein übliches Erscheinungsbild, seine ruhige, gutmütige Souveränität, zurück. Über die Jahre hatte ich diesen Anblick liebgewonnen; nun aber würde Peter sehr bald weg sein – nicht über den Styx, wie sein Bruder, aber mit Sicherheit doch in einer ganz anderen Welt. Peter, der ein Jahr älter war als ich und derzeit noch unserem Haus vorstand, würde nämlich zum Ende des Sommers von der Schule abgehen; und auch wenn ich sein designierter Nachfolger war, hätte ich die Anwesenheit meines Freundes seinem Titel doch vorgezogen.
»Hilary James Royce. Major bei den Königlichen Füsilieren. Beim Rückzug aus Tobruk gefallen.
Percival Nicholas de Courcy Sangster. Leutnant beim Schützenregiment Rajputana Rifles. Bei der Verteidigung Singapurs gefallen.
Lancelot Sassoon-Warburton. Generalmajor, vormals beim Neunten Panzerverband. Während der Evakuierung aus Dünkirchen gefallen …«
Wer würde wohl, fragte ich...




