E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Rytchëu Gold der Tundra
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30454-3
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-293-30454-3
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Juri Rytchëu, geboren 1930 als Sohn eines Jägers in der Siedlung Uëlen auf der Tschuktschenhalbinsel im äußersten Nordosten Sibiriens, war der erste Schriftsteller dieses nur zwölftausend Menschen zählenden Volkes. Mit seinen Romanen und Erzählungen wurde er zu einem berufenen Zeugen einer bedrohten Kultur. Juri Rytchëu starb 2008 in St. Petersburg.
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2
In Ulak rüstete man sich zum Empfang der amerikanischen Touristen. Der Dorfsowjet belegte im Parterre eines gewöhnlichen Wohnhauses eine Dreizimmerwohnung, und über dem Aufgang wehte eine verblichene Fahne von unbestimmter Farbe.
In dem engen Raum hatte sich zusammengefunden, was in Ulak Rang und Namen hatte: das Haupt der Lokalbehörde Michail Amos, der Direktor des Ateliers für Walrossbeinschnitzarbeit Anatoli Jetuwgi, die Schuldirektorin Awgusta Tantro, der Chef des Bezirks-KGB Dmitri Dudykin, der Kommandeur der Grenzwache Tschikin, der Stellvertretende Vorsitzende des Kreissowjets Dschafar Taligur sowie Margarita Borotojewa, Vertreterin der Moskauer Touristikfirma »Polarlicht«.
Dmitri Dudykin hielt eine Rede. Ungeachtet seines Oberstenranges war er in Zivil und unterschied sich äußerlich durch nichts von seiner Umgebung. Nur in seinem Gesicht ließ sich eine gewisse Raubgier beobachten, wie bei einem hungrigen Hecht. Die Ähnlichkeit mit einem Fisch verstärkten sein lang gestrecktes Gesicht und die weißlichen, ausdruckslosen Augen.
»Ich habe Mitteilungen darüber, dass unter den amerikanischen Touristen auch solche sein werden, die sich für unsere Militärgeheimnisse interessieren. Seid auf der Hut. Vor allem, was die militärischen Objekte betrifft …«
»Und was sollen wir als militärisches Objekt ansehen?«, erkundigte sich Michail Amos. »Die Ruinen der Radarstation, den erloschenen Leuchtturm?«
Natürlich hatte auch Dudykin selbst keinen Schimmer, was in diesem Nest als Geheimobjekt gelten konnte. Den Standort der Siedlung hatten Militärsatelliten längst registriert, und sogar die frei erhältlichen Touristenkarten waren viel präziser und detaillierter als die Landkarten, die, hinter Vorhängen verborgen, in seinem Arbeitszimmer in Anadyr und bei der Grenzwache hingen. Die Vorschriften für das Fotografieren waren veraltet. Bereits vor der Perestroika hatte ein japanisches Fernsehteam Tschukotka besucht. Die hatten Landkarten bei sich gehabt, wie sie die sowjetischen Militärs im ganzen Leben noch nicht besessen hatten! Die Warnung vor Kontakten mit dem Ausland war ja auch nicht mehr gültig. Im Gegenteil, es gab die Empfehlung, gemäß der Politik des neuen Denkens, solche Kontakte auf jegliche Weise zu fördern. Bald war es so weit, dass die offiziellen Organe bei einem so hochwichtigen, ja historischen Ereignis wie der Ankunft der ersten amerikanischen Touristen in Ulak nichts zu tun hatten!
»Dennoch, Wachsamkeit ist geboten!«, sprach Dudykin mit Strenge. »Unter den Touristen befinden sich möglicherweise Agenten des CIA! Ich habe eine Liste …« Der KGB-Mann entnahm seinem schwarzen Diplomatenköfferchen ein Blatt Papier. »Hier, Michael Kronhouse, Leiter des Sprachenzentrums der Urvölker an der Alaska-Universität in Fairbanks. Der wird ganz bestimmt Verbindungen zur örtlichen Intelligenz knüpfen wollen, vor allem zu Lehrern der heimischen Sprachen und zu Nuwukaner Eskimos. Gibt es solche bei uns?«
»An Nuwukanern wären da Jascha Tagjok, Leiter des örtlichen Folkloreensembles, die Tschuktschisch-Lehrerin Tanja Putschetegina … Die übrigen Nuwukaner haben ihre Muttersprache vergessen«, erklärte Michail Amos. »Und auch Sie selbst leben ja schon fast ein Vierteljahrhundert auf Tschukotka, ohne die hiesigen Sprachen zu kennen.«
Natürlich, noch vor sehr Kurzem hätte sich Michail Amos um keinen Preis eine solche Bemerkung erlaubt, inzwischen aber verfügte Oberst Dudykin nicht mehr über seine einstige Macht. Amos ärgerte diese sich hinziehende Konferenz. Sein Kopf schmerzte nach dem gestrigen Abend zum Zerspringen, im Safe aber wusste er eine Flasche mit frischem Selbstgebrannten, den der Revierpolizist Katejew, ständiger Zechgenosse des Hauptes der Dorfadministration, vom Dorfarzt Miljugin besorgt hatte. Einigen Spaß bereitete es Amos lediglich, sowohl Dudykin als auch Taligur und alle anderen Vertreter der Macht verunsichert, ja sogar erschreckt zu sehen.
Einzig Margarita Borotojewa, die Repräsentantin der Touristikfirma »Polarlicht«, hielt beherzt die Fahne hoch. »Alles, was Sie sagen« – sie nickte zu Dudykin hin – »ist wichtig. Aber das ist nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist: den Touristen auf höchstem Niveau aufzuwarten, ihnen das Allerbeste zu zeigen, alles, worauf Ulak und ganz Tschukotka heute stolz sein können.«
»Ich wüsste zu gern, worauf wir stolz sein können«, murmelte Amos vor sich hin.
»Genau!« Dudykin, eben noch verdüstert, belebte sich. »Wir müssen es so einrichten, dass wir alles Negative vor der Aufmerksamkeit der amerikanischen Touristen abschotten.«
»Der Verkauf von Spirituosen im Laden wird untersagt! Überhaupt sollte man den Laden für diese Zeit schließen. Die Regale sind sowieso leer, wir blamieren uns nur. Es wird Inventur gemacht!«, steuerte Taligur seine Ideen bei.
»Bei uns kauft kaum jemand Schnaps im Laden, der ist zu teuer«, bemerkte Amos, dessen Gedanken abermals um jene im Safe verborgene Flasche kreisten.
»Sondern wo?«, fragte Taligur.
»Bei den Russen … Etliche von denen brennen selber. Lehrer, Bauleute, Heizer in den kommunalen Wohnungen …« Den wichtigsten Schnapsbrenner in Ulak, den Doktor, verschwieg Amos jedoch.
»Die Miliz muss Weisung erhalten – keine Betrunkenen auf die Straße lassen!«, erklärte Dudykin entschieden.
»Sollen wir sie anketten? Wie Hunde?«
»Da ist noch so ein verdächtiges Element auf der Liste der Touristen«, fuhr Dudykin fort. »Ein Mister Robert Carpenter, angeblich Wissenschaftler, Spezialist für Walrosse und Wale.«
»Ein bekannter Name«, bemerkte Amos nachdenklich. »Vor der Revolution hat es da, glaube ich, so einen Händler in Keniskun gegeben. Sollte der noch am Leben sein?«
»Der Heizer Andrej Sipkaljuk hat sich gelegentlich damit gebrüstet, dass dieser Carpenter sein Großvater sei. Sipkaljuks Großmutter soll bei Carpenter in Keniskun Dienstmädchen gewesen sein und Kinder von ihm gehabt haben«, ließ sich der Kommandeur der Grenzwache Tschikin vernehmen.
»Wie alt wäre er dann, doch mindestens hundert Jahre!«, rechnete Amos verwundert.
»Bei den Amerikanern gibt es viele Langlebige«, gab die Borotojewa zu bedenken. »Im Westen bilden die Älteren das Hauptaufkommen an Touristen. Ein Leben lang sparen sie, gönnen sich nichts, um dann ein glückliches Alter zu genießen.«
»Darin liegt der grundlegende Unterschied zwischen Sozialismus und Kapitalismus«, bemerkte Amos.
»Worin?«, fragte Dudykin aufhorchend.
»Bei uns haben wir eine glückliche Kindheit, und bei denen gibt es ein glückliches Alter.«
Dudykin vertiefte sich erneut in die Liste und präzisierte: »Nein, nein, dieser Carpenter muss jünger sein, Jahrgang zweiundfünfzig. Entweder ein Namensvetter oder ein entfernter Verwandter.«
Man rief Tagjok herbei, den Leiter des Dorfensembles und ehemaligen Solisten der berühmten Truppe »Ergyron«. Äußerlich machte er einen angenehmen Eindruck, er war korrekt gekleidet und sauber rasiert. Mit »Ergyron« hatte er ganz Europa bereist, er war mehrmals in Alaska gewesen und sogar bis Grönland gekommen.
»Bei mir ist alles bereit«, meldete Tagjok. »Die Vorführung wird zwei Stunden dauern.«
»Ist das nicht ein bisschen viel?«, fragte Amos.
»Bestens so, in Ordnung!« Dudykin nickte billigend. »Es ist die beste Art und Weise, um die Gäste zu unterhalten und sie von ungenehmigter Kontaktaufnahme abzuhalten. Und wie steht es mit dem Repertoire? Ich meine hinsichtlich Ideologie und Tendenz …«
»Unsere Lieder und Tänze sind in der Tendenz stets richtig«, erwiderte Tagjok würdevoll und sah dem Oberst gerade in die Augen.
Awgusta Tantro gab Bescheid, dass in der Schule sauber gemacht worden sei, dass die Kinder im Internat frische Bettwäsche erhalten hätten und dass es für sie eine gute Mahlzeit geben werde, ein Festessen, präzisierte sie.
Am Eingang zum Dorfsowjet tummelte sich allerlei angereistes Volk: Fernsehleute aus Anadyr, Magadan und Moskau, Journalisten, Fotoreporter.
Nur Iwan Kutegin saß allein hoch oben auf dem Felsen Eppyn, von wo sich ein weiter Blick auf den nördlichen Ausgang der Beringstraße eröffnete, und beobachtete mit einem gewaltigen Fernglas den Meereshorizont. Er hatte es sich auf einem von zwei gänzlich gleichartigen großen Steinen bequem gemacht. Die Steine waren von einer bemoosten rauen Kruste bedeckt, die die Spuren von Tierkrallen trug, so als habe jemand versucht, die Oberfläche zu zerkratzen. Aus Erzählungen der alten Leute wusste Kutegin, dass an eben dieser Stelle der berühmte Ulaker Schamane Mletkyn bestattet worden war, aber fast schon am Tag nach dem Begräbnis war er spurlos verschwunden, so erzählte man.
Kutegin gehörte zu denen, die sich am meisten vom Besuch der amerikanischen Touristen versprachen. Er hielt vorsorglich eine größere Kollektion von Souvenirs für den Verkauf bereit und hoffte auf einen Erlös von mehreren Hundert Dollar. Natürlich würde es schwierig sein, das Geschäft heimlich vor der Obrigkeit zu tun. Was das Haupt der Dorfadministration und den Direktor des Ateliers für Walrossbeinschnitzerei anging, in dem der Meister formal eingeschrieben war, so bereitete ihm das keine Sorgen. Vor allem fürchtete er Dudykin und Taligur.
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