Hass und Gewalt in unserer Gesellschaft
E-Book, Deutsch, 292 Seiten
ISBN: 978-3-7110-5208-7
Verlag: Ecowin
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Nahlah Saimeh weiß, dass aus scheinbar "normalen" Menschen Mörder werden können, dass die Anlage zur Gewalt in jedem steckt, und was das für eine immer brutaler werdende Gesellschaft bedeutet. Als forensische Psychiaterin kennt die Autorin die verschiedensten Arten von Gewalt. In faszinierenden Fallbeispielen spannt sie den Bogen von Gewalt im sozialen Umfeld bis zu Gewalt und Terror im öffentlichen Raum und regt jeden dazu an, an, sich zu fragen, wo er selbst steht.
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KAPITEL 2:
SEXUELLE GEWALT
Kaum ein Bereich der Kriminalität beschäftigt uns in Gesellschaft und Medien so stark wie sexuelle Gewalt. Das liegt vermutlich unter anderem an den im Einzelfall schwerwiegenden psychischen Folgen für die Opfer. Insbesondere schwere sexuelle Gewaltdelikte wie Vergewaltigungen oder gravierender Kindesmissbrauch können zu tiefer Traumatisierung führen. Nicht zuletzt dürfte auch der Voyeurismus, der bei Sex and Crime immer gegeben ist, zur besonderen öffentlichen Wahrnehmung beitragen. Das Thema berührt deutlich mehr als andere Formen der Kriminalität unser persönliches Normen- und Wertesystem und unterliegt stärker dem gesellschaftlichen Wandel als beispielsweise die Haltung zu Eigentums- oder auch Tötungsdelikten. Ist die junge Frau, die spätabends zu Fuß nach Hause geht, nicht doch leichtsinnig? Ist der Täter oder das Opfer schuld? Als es in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln am Hauptbahnhof und auf der Domplatte zu zahlreichen sexuellen Übergriffen kam, vor allem durch Männer aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum, wurde das Thema regelrecht zum gesellschaftspolitischen Sprengstoff. In der Diskussion kamen viele verschiedene Positionen zu Wort, leider kaum eine, die die verschiedenen Aspekte dieses eindeutig unduldbaren Phänomens zu integrieren versuchte. Auf die unterschiedlichen Aspekte werden wir noch zurückkommen. Dass die Silvesterübergriffe so massiv die politische Diskussion über Wochen bestimmten, ist unter anderem als Zeichen eines gelungenen Wandels der allgemeinen Einstellung gegenüber sexueller Gewalt zu verstehen. Unser gewachsenes Unrechtsbewusstsein bei diesem Thema ist das Ergebnis eines viele Jahrzehnte umfassenden gesellschaftlichen Wandels. 1951 schrieb ein Herr Kreuzhage in der Fachzeitschrift Kriminalistik, bei »keinem anderen Delikt kann man so häufig feststellen wie gerade bei einem Sittlichkeitsdelikt, dass auch das Opfer ein gut Teil Schuld trifft. Hier bewahrheitet sich die alte kriminalistische Erfahrungstatsache, dass das Opfer einer Straftat in vielen Fällen die Causa für die Tat setzt.« Im weiteren Verlauf des Artikels lässt sich jener Herr Kreuzhage dann höchst blumig und ausführlich über junge Mädchen in kurzen Hosen und Röcken aus - beim Lesen gewann ich deutlich den Eindruck, dass der Verfasser sich seinerzeit ziemlich in Erregung schrieb ... Heute dürfte man damit nicht mal mehr an so manchem Stammtisch punkten können. Wir sollten uns aber klarmachen, dass die Grundhaltung zu sexueller Gewalt in unserer Gesellschaft erst seit knapp 20 Jahren eine sehr deutliche Veränderung erfahren hat. Als 1995 die Vierte Weltfrauenkonferenz stattfand, meldeten nach einer einstimmigen Verabschiedung des Schlussdokuments sowohl einige islamisch als auch einige katholisch geprägte Länder Vorbehalte gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht an. Für die sehr jungen Leserinnen und Leser unter Ihnen mögen diese 22 Jahre eine Ewigkeit her sein, aber Menschen, die heute 40 Jahre sind, waren damals gerade volljährig. Auch 1995 war nicht mehr Mittelalter. Erst am 9. Mai 1996 wurde bei uns mit der Neufassung des
177 StGB der Straftatbestand der Vergewaltigung in der Ehe eingeführt. Die Zustimmung zu diesem Schritt war sowohl bei Frauen als auch bei Männern enorm hoch. Im Hellfeld, also bei den zur Anzeige gebrachten Straftaten, machen Sexualstraftaten nur 0,8 Prozent aus. Das Dunkelfeld, die nicht zur Anzeige gebrachten Taten, liegt deutlich höher. Man geht davon aus, dass insgesamt nur knapp acht Prozent aller Taten, die vom Strafgesetzbuch als Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung erfasst werden, überhaupt zur Anzeige gelangen. Ob eine Tat angezeigt wird, hängt insbesondere von deren Schwere ab und von der Beziehung zwischen Täter und Opfer, aber auch von der eigenen Scham und der Haltung der