E-Book, Deutsch, Band 1323, 64 Seiten
Reihe: Notärztin Andrea Bergen
Sandow Notärztin Andrea Bergen - Folge 1323
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7325-4582-7
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die Bilder ihres Lebens
E-Book, Deutsch, Band 1323, 64 Seiten
Reihe: Notärztin Andrea Bergen
ISBN: 978-3-7325-4582-7
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Foto für Foto aus der alten Kiste zeigt die junge Marisa ihrem Vater, doch kein Zeichen des Wiedererkennens ist auf seinen Zügen zu sehen. Nicht bei seinem Hochzeitsfoto, nicht bei dem, das bei seiner Einschulung aufgenommen wurde. Die Alzheimer-Krankheit hat jede seiner Erinnerungen ausgelöscht!
Als Marisa nun das nächste Foto aufnimmt, kann sie nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrücken: Es zeigt sie selbst als Dreijährige, was ihr auch die Aufschrift auf der Rückseite beweist. Doch Marisa hat dasselbe Mädchen erst am Morgen auf einem alten Fahndungsfoto der Polizei gesehen: Hanna Conrad, 3 Jahre, vor 30 Jahren in Berlin verschwunden und nie mehr aufgetaucht ...
Nach dieser Entdeckung ist für die junge Frau nichts mehr, wie es vorher war! Und sie muss sich die bange Frage stellen: Kann es sein, dass ihre Eltern sie vor all den Jahren ... entführt haben?!
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Es war ein denkbar schlechter Ort für eine Autopanne! Notärztin Andrea Bergen schimpfte leise und suchte in der Tasche nach ihrem Handy.
Auch das noch, der Akku war leer!
Andrea legte das Handy zurück und schaute sich um. Sie befand sich am Stadtrand, in einer Gegend, die sich in den vergangenen Jahren zur No-go-Area entwickelt hatte. Eine trostlose Betonwüste! Verlassene Fabrikgebäude, verwahrloste Wohnhäuser. Davor ein Platz, der von Unkraut überwuchert war. Vielleicht war es früher einmal ein Spielplatz gewesen. Eine Schaukel, befestigt an einem rostigen Gestell, schaukelte im Wind hin und her.
Andrea spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufrichteten. Langsam drehte sie sich um die eigene Achse und hatte dabei das Gefühl, dass sie aus den dunklen Fensterhöhlen der Gebäude angestarrt wurde.
Ich bilde mir das nur ein, versuchte sie, sich selbst zu beruhigen. Dabei war der Gedanke nicht abwegig. Die Stille war trügerisch. Hier lebten Menschen. Hausbesetzer, Obdachlose, die hier gestrandet waren und jede Zukunftsperspektive verloren hatten. Außerdem war diese Gegend ein Zufluchtsort für Kriminelle.
Andrea wusste, dass hier oft Polizeirazzien stattfanden. Außerdem war sie mehrmals als Notärztin in diesem Bezirk gewesen. Nach Schlägereien oder wenn jemand eine Überdosis Drogen erwischt hatte. Aber da waren jedes Mal ihre Sanitäter und ein großes Polizeiaufgebot dabei gewesen.
Die Notärztin überlegte, ob sie ihren Wagen einfach abschließen und zu Fuß weitergehen sollte. Wie lange brauchte sie bis in die Innenstadt?
Sie fuhr erschrocken herum, als sie in ihrem Rücken eilige Schritte vernahm. Ein Mann kam aus der maroden Fabrikhalle. Er stutzte, als er sie sah.
Andrea registrierte sein sehr kurz geschnittenes Haar. Bekleidet war er mit Jeans, Springerstiefeln und einem dicken Parka.
Er setzte sich wieder in Bewegung und kam jetzt direkt auf sie zu.
Unsicher wich Andrea einen Schritt zurück, doch als sie ihm ins Gesicht sah, schwand das Gefühl des Unbehagens. Instinktiv spürte sie, dass ihr von diesem Mann keine Gefahr drohte.
»Haben Sie ein Handy?«
Andrea nickte. »Aber der Akku ist leer.«
»Verdammt«, stieß er hervor. »Ich hab meines im Büro vergessen.« Er wies auf Andreas Auto. »Ist das Ihr Wagen?«
Andrea nickte mit einem schwachen Lächeln. »Panne«, sagte sie knapp.
Der Mann atmete tief durch und zeigte auf das Fabrikgebäude, aus dem er gekommen war.
»Da drinnen ist ein Mädchen, das unbedingt ins Krankenhaus muss. Ich hab keine Ahnung, was ich jetzt machen soll.«
»Ich bin Ärztin.«
Sekundenlang starrte er sie an wie eine Erscheinung. Dann zeigte sich Erleichterung auf seinem Gesicht.
»Kommen Sie!« Er wandte sich um und lief zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Er schien vorauszusetzen, dass Andrea ihm folgte, sah sich nicht nach ihr um.
Natürlich folgte sie ihm. Sie hegte keinen Zweifel an seinen Worten.
Die rostige Tür stand so weit offen, dass sie die Halle betreten konnte. Obwohl die meisten Fensterscheiben an der Längsfront der Halle nicht mehr vorhanden waren, fiel nur wenig Licht ins Innere. Es reichte, um Palettenstapel und verschimmelte Kartons zu erkennen. Die Luft war erfüllt von Moder und Verfall.
Das Dach, getragen von rostigen Stahlträgern, schien undicht zu sein. Andrea umrundete eine riesige, ölig schimmernde Pfütze. Sie musste aufpassen, nicht in die Scherben einer Bierflasche zu treten. Den Mann konnte sie nicht mehr sehen, dafür vernahm sie jetzt lautes Stöhnen und hörte den Mann reden.
Sie folgte den Stimmen. Hinter einem der Palettenstapel saß auf einer schmutzigen Matratze ein junges Mädchen, das beide Hände auf den gewölbten Bauch gepresst hatte.
Das hochschwangere Mädchen war höchstens sechzehn Jahre alt. Neben ihr hockte ein Junge mit hilfloser Miene und strich über ihren Arm.
Andrea sah sich nur kurz um und registrierte die leeren Flaschen, die als Kerzenhalter dienten. Vergammelte Pizzakartons und Getränkedosen zeigten, dass die beiden jungen Leute sich in dieser Fabrikhalle häuslich eingerichtet hatten.
Die Notärztin überlief ein Schauer. Wie konnten die beiden es hier nur aushalten. Sie beugte sich zu dem jungen Mädchen und ergriff dessen Hände. »Ich bin Andrea Bergen«, stellte sie sich vor. »Ich bin Ärztin.«
Das Mädchen begann zu weinen. »Ich kann mir keinen Arzt leisten.«
Andrea schüttelte den Kopf. »Daran sollst du jetzt nicht denken. Wie weit bist du denn?«
»Achter Monat.« Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Glaube ich!« Erneut stöhnte sie laut auf.
Es fiel Andrea auf, dass sie in Monaten und nicht in Schwangerschaftswochen rechnete. Sie fragte sich, ob das Mädchen seit Beginn ihrer Schwangerschaft jemals untersucht worden war.
Das Mädchen stöhnte erneut auf, ihre Hände drückten sich tief in ihren Unterleib. »Das sticht und brennt«, stieß die junge Frau hervor. »Am Anfang hatte ich das nur auf der linken Seite, jetzt ist es auf beiden Seiten.« Mit weit aufgerissenen Augen starrte es die Ärztin an. »Sind das Wehen?«
Andrea Bergen schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Aber wir sollten dich so schnell wie möglich ins Krankenhaus bring …«
»Das geht doch nicht!« Das Mädchen schüttelte heftig den Kopf. »Ich habe kein Geld …!«
»Und ich habe dir schon mehrfach gesagt, dass das keine Rolle spielt«, mischte sich der Mann ein. »Sei vernünftig, Nele! Denk an dein Baby!«
Nele begann zu weinen, sagte aber nichts mehr.
Andrea Bergen hatte das Gefühl, dass das Mädchen noch etwas anderes quälte als die fehlende Krankenversicherung.
»Nele«, sprach sie das Mädchen jetzt mit seinem Namen an. »Du musst keine Angst haben, alles wird gut. Ich sorge dafür, dass du ins Elisabeth-Krankenhaus kommst. Da arbeite ich und kann mich dort um dich kümmern. Vertrau mir einfach!«
Ein winziger Hoffnungsfunke zeigte sich in den Augen des Mädchens.
Fragend schaute Andrea Bergen den Mann an. »Wie können wir Hilfe rufen? Ihr Handy hat keinen Empfang, bei meinem ist der Akku leer, und mein Auto springt auch nicht an.«
»Ich kümmere mich darum!« Der Junge neben Nele sprach zum ersten Mal. »Wen soll ich anrufen?«
»Hast du ein Handy?«, fragte Andrea Bergen.
Der Junge schüttelte den Kopf. »Aber ich kenne hier ein paar Leute und weiß, wer eines hat. Sagen Sie mir nur, wen ich anrufen soll.«
Andrea Bergen nannte ihm die Nummer der Leitstelle und gab ihm die Informationen vor, die er weitergeben sollte.
Der Junge lief los, offensichtlich froh, dass er etwas tun konnte.
Fünfzehn Minuten später waren die Kollegen da. Clemens Stellmacher, Andrea Bergens Notarzt-Kollege, hatte heute Dienst. Andrea teilte ihm kurz mit, was sie wusste. Der Kollege überprüfte Blutdruck und Puls des Mädchens, tastete ebenfalls ihren Bauch ab und teilte Andreas Einschätzung, dass keine unmittelbare Gefahr bestand. Trotzdem hielt auch er es für richtig, dass Nele ins Krankenhaus gebracht wurde.
Andrea begleitete das Mädchen. An ihren Wagen, den sie in dieser Gegend zurücklassen musste, verschwendete sie keinen Gedanken.
***
»Günter!« Richard Sander tippte auf das Foto.
»Ja, Papa, das ist Onkel Günter.« Marisa freute sich und blätterte eine Seite weiter zu den Bildern der letzten Geburtstagsfeier ihrer Mutter. Auf einem der Fotos stand sie selbst neben ihrer Mutter.
Richard Sander runzelte die Stirn. »Wer sind die Leute.«
Marisa war Ärztin. Sie kannte die Diagnose und wusste genau, dass der Zustand ihres Vaters unheilbar war. Trotzdem traf die Enttäuschung sie in solchen Situationen jedes Mal wie ein Schlag.
»Das sind Mama und ich!« Marisa blieb geduldig, auch wenn sie mit den Tränen kämpfte.
Ihr Vater sah auf, in seinen Augen lag kein Erkennen. »Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«
»Ich bin Marisa, deine Tochter!«
Richards Blick wurde misstrauisch. »Ich habe keine Tochter«, behauptete er.
Das tat richtig weh, auch wenn sie genau wusste, dass es nur an seiner Alzheimerkrankheit lag. Er hatte vergessen, wer sie war, erkannte ganz oft auch ihre Mutter nicht und wusste meistens nicht einmal, wo er sich befand.
»Lass es gut sein, Kind!« Marisa spürte die Hand ihrer Mutter auf ihrer Schulter. »Heute ist ein besonders schlechter Tag.«
Das sagte ihre Mutter immer. Ganz so, als gäbe es gute und schlechte Tage. Vielleicht gab es die auch. Tage, an denen ihr Vater sich ein wenig besser erinnerte, aber das waren nur kurze Momente. Lichtblicke, die ihn für Minuten ins Hier und Jetzt eintauchen ließen, bevor die Vergesslichkeit wieder Besitz von ihm ergriff.
Marisa war zu selten da, um diese Augenblicke mitzuerleben. Sie erhob sich und umarmte ihre Mutter. Dann schauten sie beide zu Richard, der das Album durchblätterte und die Fotos mit leerem Blick betrachtete. Plötzlich schlug er es zu, legte es auf den Tisch und erhob sich. »Ich gehe jetzt nach Hause!«
»Ich bringe dich nach Hause.« Karin Sander griff nach seinem Arm und führte ihn aus dem Raum. Marisa folgte den beiden in das Schlafzimmer der Eltern.
Ihr Vater drehte sich um und wollte wieder hinaus. »Ich will nach Hause«, verlangte er.
»Du musst dich erst ein bisschen ausruhen, sonst ist der Weg zu anstrengend für...




