E-Book, Deutsch, 311 Seiten
Schäfer Bildung als Entformung
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7799-9189-2
Verlag: Beltz Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine bildungstheoretische Studie im Anschluss an Günther Anders
E-Book, Deutsch, 311 Seiten
ISBN: 978-3-7799-9189-2
Verlag: Beltz Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jan-Philipp Schäfer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Bildungswissenschaft der JMU Würzburg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Erziehungs- und Bildungsphilosophie sowie dem Verhältnis von Bildung und Nachhaltigkeit.
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1. Helmuth Plessners Prinzip der offenen Frage
Die Schlagkraft und immer wieder betonte Aktualität von Plessners Philosophischer Anthropologie besteht wohl nicht zuletzt darin, dass seine Beschreibungen des Menschen weder einem naturalistischen noch einem idealistischen Fehlschluss unterliegen. Vielmehr thematisiert Plessner, vor allem in seinem Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch, die Natur des Menschen, ohne sie in positiven Eigenschaften und Merkmalen festzulegen. Es ist gerade eine bestimmte Form und Struktur von Negativität, die Plessner als Daseinsform des Menschen zu fassen sucht und schließlich kategorial im Begriff der exzentrischen Positionalität findet. Gleichzeitig unterläuft Plessner hiermit gängige Dualismen der anthropologischen Theoriebildung wie Natur oder Kultur, Körper oder Geist, Subjekt oder Objekt, etc. Auch methodisch verhindert er, dass seine Philosophische Anthropologie vorschnell in Schubladen gefasst werden kann. Durch seinen phänomenologischen, hermeneutischen, dialektischen, aber auch naturwissenschaftlich fundierten Ansatz sichert er sich eine interdisziplinäre Offenheit, die er aufgrund des anthropologischen Gegenstandes für geboten hält. Mit dem Begriff der Person fasst Plessner die Tatsache, dass menschliches Leben in der Einheit der Differenz von Leib-Sein und Körper-Haben besteht. Als Person zu leben, bedeutet ihm in geschichtlichem Lebensvollzug diese Einheit der Differenz immer wieder neu aushandeln zu müssen.
In einem ersten Teil des Kapitels soll aufgezeigt werden, wie es Plessner in seinem naturphilosophischen Ansatz gelingt, einen naturalistischen Fehlschluss zu vermeiden, ohne das Projekt einer Beschreibung des Menschen aufgeben zu müssen. In einem zweiten Teil wird einer Argumentation von Olivia Mitscherlich gefolgt, nach der Plessners Werk der 20er und 30er Jahre als ein „einheitliche[r] Ansatz einer in sich gebrochenen Lebensphilosophie“ (Mitscherlich 2008, 2) zu verstehen ist, der „zugleich natur- und geschichtsphilosophisch angelegt“ (ebd.) ist. Es ist gerade diese Zeit der 1920er bis 30er Jahre, in der Günther Anders mit Plessners Anthropologie in Kontakt tritt. In der historisch-systematischen Rekonstruktion von Anders’ Schriften zur philosophischen Anthropologie, wird deutlich, dass es dieses gebrochene Verhältnis ist, welches er produktiv aufnimmt, wenn dieser auch einen gänzlich anderen Denkweg einschlägt. Dennoch sind es die von Plessner aufgeworfenen Fragen nach dem Verhältnis von Natur und Geschichte, welche ihn in eine kritische Analyse moderner Gesellschaft leiten.
1.1Die naturphilosophische Entwicklung der Positionalität des Menschen
Helmuth Plessner stellt seinem Hauptwerk ein Zitat aus der Korrespondenz von Alexander v. Humboldt und Friedrich Schelling voran, in dem sich Humboldt begeistert von Schellings Naturphilosophie zeigt. Nach Humboldts Ansicht könne die Naturphilosophie für den „Fortschritt der empirischen Wissenschaften nie schädlich sein. Im Gegenteil, sie führt das Entdeckte auf Prinzipien zurück, wie sie zugleich neue Entdeckungen begründet.“ (Humboldt an Schelling 1805, zit. n. Plessner 31975/1928). Einige Zeit lang teilen beide das Interesse, ein Natur und Geist verbindendes Drittes zu finden, eine Einheit, welche die Zusammenhänge von Geist und Natur zu erklären vermag. Mit Schelling und Humboldt ist Plessner in seinem Vorhaben verbunden, naturwissenschaftliche Fakten und philosophische Einsichten in einen fruchtbaren Austausch zu bringen. Damit will Plessner der klassischen Alternative zwischen Empirismus und Apriorismus einen dritten Weg entgegenstellen, der weder die Natur in eine Metaphysik des Geistes einbettet noch die Sphäre des Geistes lediglich auf Basis eines natürlichen Grundes erklären kann. Weder Alexander von Humboldt noch Schelling spielen für die weitere Argumentation der Stufen eine wesentliche Rolle. Vielmehr sind es Naturwissenschaftler wie Buytendijk und Uexküll, die für Plessner den Weg gebahnt haben für eine naturphilosophische Forschung, die „mit den anthropomorphen Analogien aufgeräumt“ (Plessner 31975/1928, XIV) hat. Gleich zu Beginn seiner methodischen Einführung macht Plessner jedoch klar, dass es nicht darum gehen kann, diesen Weg in einer Art und Weise einzuschlagen, wie es Herbert Spencer getan hat und damit sozialdarwinistisch zu argumentieren. Der „circulus vitiosus“ (ebd., 8) Spencers liege darin, die natürliche Entwicklung des Menschen unter ein geistiges Kategoriensystem zu stellen, ohne zu sehen, dass er das Kategoriensystem zunächst geistig setzen muss, um es anschließend in der natürlichen Entwicklung wiederzuerkennen.
Um den Menschen adäquat fassen zu können, bedarf es nach Plessner eines nicht-reduktionistischen Prinzips, das sowohl der natürlichen Eingebundenheit des Menschen als auch seiner geistigen Dimension Rechnung trägt. Er findet dies im Prinzip des Lebens, dessen Besonderheit Plessner an gleichzeitiger Immanenz und Transzendenz eines Organismus festmacht:
„Erkenntnissubjekt und Erkenntnisgegenstand gehören demselben Leben der einen menschlichen Sphäre an, deren Objektivationen in Taten und Werken nicht von außen gleichsam an sie herangebracht sind und wie Fremdkörper ihr wesensfremd bleiben, sondern aus ihr selbst hervortreiben, weil es zum Wesen des Lebens gehört, sich zu transzendieren und zugleich die Ergebnisse der Selbsttranszendenz wieder in sich hineinzunehmen und aufzulösen.“ (Plessner 31975/1928, 22)
Mit dem Begriff des Lebens, den er strikt von den reduktionistischen Auffassungen Bergsons und Spenglers abgrenzt, erhält Plessners Philosophische Anthropologie eine ihrer stärksten Grundlagen. Plessner kann vor diesem Hintergrund nach einer Bestimmung des Menschen suchen, ohne ihn theoretisch oder evolutionsbiologisch strikt von anderen Lebewesen trennen zu müssen und so doch wieder die christliche Metaphysik der Sonderstellung des Menschen zu wiederholen. Nur auf dieser Grundlage ist es Plessner möglich, die Einheit der Differenz von Natur und Geist festzustellen, die sich für ihn aus einer spezifischen Realisierung der eigenen Körpergrenze ergibt. Die Differenzierung zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen, die für Plessner weiterhin zentrales Thema seiner Arbeit ist, kann auf der Basis einer gemeinsamen Grundlage allen Lebens getroffen werden: der je unterschiedlichen Art und Weise, die Grenze zwischen lebendigem Wesen und seiner Umwelt zu vollziehen. In der Bestimmung der spezifisch menschlichen Daseinsart bedarf es nach Plessner einer „philosophischen Biologie“, welche die Eingebundenheit des Menschen in die Natur, seine organische Ordnung, philosophisch begreiflich machen kann:
„Eine Vorstellung von der Daseinsart des Menschen als eines Naturereignisses und Produkts ihrer Geschichte gewinnt man nur im Wege ihrer Kontrastierung mit den anderen uns bekannten Daseinsarten der belebten Natur. Dazu bedarf es eines Leitfadens, als den ich den Begriff der Positionalität wählte, eines, wie ich glaube, fundamentalen Merkmals, durch welches belebte sich von unbelebten Naturgebilden unterscheidet.“ (Plessner 31975/1928, XIX)
Der Begriff der Positionalität steht dabei nicht lediglich für eine umgrenzte Position eines Dings innerhalb einer räumlich-zeitlichen Umwelt, sondern für ein lebendiges Verhältnis eines Körpers zu seiner eigenen Begrenzung. Das Verhältnis, welches Körper mit ihrer eigenen Grenze haben, gilt Plessner als „Minimalbedingung“ der „Lebendigkeit“ (ebd., XX).
Um dieses näher zu untersuchen, ist der erste Gegenstand Plessners Stufen-Schrift die Unterscheidung zwischen lebendigen und unbelebten Körpern. Da sowohl unbelebte als auch lebendige Körper eine zeitliche und räumliche Gegenständlichkeit auszeichnet, beide in einer Frontstellung gegen an sie angrenzende Medien zur...




