E-Book, Deutsch, 151 Seiten
ISBN: 978-3-95865-672-7
Verlag: 110th
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, kennen Sie die Antworten. Dreizehn Topautoren haben aus dreizehn Märchen dreizehn Krimis gemacht: Frank Schätzing, Ingrid Noll, Zoë Beck, Andreas Izquierdo, Stefan Slupetzky, Angela Eßer, Norbert Horst, Thomas Kastura, Sandra Niermeyer, Ralf Kramp, U.A.O. Heinlein, Anke Gebert und Kai Hensel.
Mit märchenhaften Illustrationen von Egbert Greven und einem Vorwort von Julius Moll.
Weitere Infos & Material
Aschenputtel (Gebrüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen) Nach dem Tod der Mutter ergeht es Aschenputtel schlecht: Der Vater heiratet erneut, doch Stiefmutter sowie die beiden Stieftöchter schikanieren Aschenputtel, wo sie nur können. Trost findet sie nur am Grab der Mutter. Als der Prinz heiraten will, lässt er ein dreitägiges Fest ausrichten, zu dem alle Jungfrauen des Landes eingeladen werden. Aschenputtel darf nicht mit. Am Grab der Mutter findet sie ein prächtiges Kleid und nimmt unerkannt am Fest teil, wo sich der Prinz in sie verliebt. Aschenputtel kann zweimal fliehen, beim dritten Mal verliert sie ihren Schuh. Der Prinz lässt nach ihr fahnden. Aschenputtels Stiefschwestern versuchen vergebens, den zierlichen Schuh über ihre Füße zu ziehen, schneiden sich jeweils Zehe und Ferse ab, aber der Betrug fliegt auf. Aschenputtel hingegen passt der Schuh und so wird sie des Prinzen Braut. ASCHENPUTTEL
Andreas Izquierdo Sie stahl wie eine Elster, und ihre Fingernägel waren niemals sauber. Wenn es Nacht wurde in Schottland, wenn Gaslaternen die steilen, engen Gässchen Edinburghs in gelbes Licht tauchten und die Stadt zu Füßen der Burg schlafen ging, dann flog sie davon, über Schindel und schwarzen Kater, und nur wer nicht schlief und sich nach ihr sehnte, konnte sie dann und wann im fahlen Mondlicht tanzen sehen. Sie war die schwarze Fee, die nach kaltem Rauch und heißem Schornstein suchte, die darin abtauchte und sich alles nahm, was durch Fenstergitter und verschlossene Tür gesichert schien. Sie war Königin in der Nacht und Bettlerin am Tag, hat mich beraubt, gerettet und mir die Augen geöffnet für eine Welt, die ich vorher nicht kannte. Das alles ist jetzt schon Jahre her, seltsam, dass ich gerade jetzt daran denken muss, ausgerechnet hier, vor den eisigen Küsten der Arktis, an Bord unseres Robbenfängers Hope, soweit von Zuhause entfernt. Ich blicke durch das kleine Bullauge hinaus auf eine kalte, schwarze See, höre das Pumpen der Dampfkessel und frage mich, was ich hier, am Ende der Welt, eigentlich suche? Abenteuer? Ich sehne mich nach Abenteuern, doch ohne sie bleibt alles grau. In einer Kommode neben meine Bett finde ich die Heilige Schrift und darunter einige Dutzend Bögen Papier, und ich denke, vielleicht könnte das die Lösung sein: schreiben. Ihre Geschichte. Meine Geschichte. Und all die Geschichten, die sich noch in mir wie kleine schwarze Feen verstecken. Auf dass ich sie freilasse und sie über Schindel und Kater im Mondlicht tanzen lasse. Edinburgh, 1874. Es waren ihre Hände. Zu zart für einen Schornsteinfegerjungen, für den sie sich ausgab. Sie selbst war unter Ruß und Asche nicht zu erkennen, wie sie dastand mit ihrem Vater, der gleichzeitig ihr Lehrmeister war, um den Lohn ihrer Arbeit entgegen zu nehmen: Silbern klimpernd fielen Münzen auf schwarze Haut, während sich ihre Finger zu einer Faust schlossen. Für einen Moment trafen sich unsere Blicke, und es war, als tippte sie gegen mein Herz, und alles schwang und summte und wollte nicht mehr aufhören nachzutönen. Die Hände. Die Augen. Ich musste wissen, wer sie war. Sie verließ unser Haus, während ich ihr in aller Heimlichkeit aus der Altstadt hinaus folgte, dorthin, wo die Armen wohnten, und ich sah, wie sie sich in einem kleinen Hof mit kalten Wasser die Asche aus dem Gesicht wusch und darunter das schönste Mädchen der Stadt zum Vorschein kam, vielleicht vierzehn Jahre alt. Eine Frau kam aus dem Haus, eleganter, als man es für eine Gegend wie diese vermutet hätte, und rief hart: „Aschenputtel!“ Sie blickte auf und folgte ihr nach drinnen. Heimlich schlich ich an ein fast blindes Fenster und sah sie in der Küche neben dem Herd in der Asche sitzen. Zwei Schwestern hatten Linsen und Erbsen hineingekippt und waren kichernd davongelaufen. Ich dachte an sie. Steckte Prügel ein, weil ich im Unterricht meinen Gedanken nachhing. Konnte nicht schlafen, weil ich in der Dunkelheit ihr Gesicht sah, vom Ruß befreit. Sie winkte mir zu, und fast war ich soweit, mich aus der Kammer zu schleichen, vorbei an meinen schlafenden Geschwistern, auf leisen Sohlen über das neblige Kopfsteinpflaster, wie ein Dieb in der Nacht. Hoffen, dass sie wach war. Doch was dann? So blieb ich, wo ich war. Bis zu jenem Tag, an dem zwei Herren bereits am frühen Morgen in unserer Küche standen und sich mit meinem Vater unterhielten, der mich mit ernster Miene zu sich winkte. „Das ist mein Sohn“, sagte er knapp. „Er hat heute Geburtstag! Fünfzehn.“ Der größere der beiden, ein Schlacks mit einer Habichtsnase, dunklem Anzug und Zylinder gab mir die Hand und lächelte: „Was für ein betrüblicher Anlass, sich kennen zu lernen. Wie heißt du, mein Junge?“ „Arthur!“, antwortete ich eingeschüchtert, denn nie zuvor hatte ich mit der Polizei zu tun gehabt. „Arthur Ignatius Conan Doyle.“ Er nickte meinem Vater freundlich zu: „Was für ein wohl erzogener Bursche, ihr Sohn doch ist, Mister Doyle!“ Dann sah er mich wieder an, musterte mich, hielt weiterhin meine Hand. Dieser Blick! Seinen Augen entging nichts, sie suchten unentwegt. „Das ist Inspector Holmes“, sagte mein Vater. „Und der Herr hinter ihm ist Sergeant Watson.“ „Freut mich, Sir.“ Der Sergeant erwiderte meinen Gruß, indem er mit dem Finger an seinen Helm tippte, der für rangniedere Polizisten seit elf Jahren Pflicht war. Er war kleiner und athletischer als Holmes, jedoch mit ebenso aufmerksamen Augen. Der Inspector ließ mich los und nahm von meinem Vater ein Blatt Papier entgegen. „Ich habe Ihnen eine Aufstellung der gestohlenen Gegenstände gemacht, Inspector.“ Holmes warf einen Blick drauf und sah mich dann freundlich an: „Es tut mir leid, dir sagen zu müssen, dass auch dein Geburtstagsgeschenk darunter war, Arthur.“ Ich schluckte und nickte tapfer. „Aber ich verspreche, dass ich den Dieb finden werde. Das soll mein Geburtstagsgeschenk an dich sein.“ „Danke, Sir. Sehr freundlich. Haben Sie denn schon eine Spur?“ Holmes schüttelte den Kopf: „Nein, mein Junge. Es gibt eine Serie von Einbrüchen, aber es gibt keine Spuren. Geschlossene Räume, die nicht geöffnet wurden. Und doch war jemand darin. Sehr mysteriös.“ „Verstehe, Sir.“ Holmes antworte mit freundlicher Ironie: „Hören Sie, Watson? Der junge Mann versteht!“ Watson lächelte still über die Bemerkung. Dann nickten beide meinem Vater zum Gruß zu und verließen das Haus. Menschen versteckten ihre Geheimnisse, doch wer genau hinsah, konnte sie sehen, ganz gleich unter wie viel Ruß sie verborgen sein mochten. Und auch verschlossene Räumen gaben nur dann Rätsel auf, wenn man ihre Eingänge so verbissen suchte, dass man nicht mehr sah, was für jedermann offensichtlich war: Kamine. Oh, ich verstand! Und bewunderte Aschenputtels Wagemut. Und doch hatte sie jetzt etwas, was mir gehörte. Ich schlich davon und hoffte, dass mein Vater nicht herausfinden würde, dass ich die Schule schwänzte, denn ich musste sie sehen. So durchquerte ich die ganze Stadt, wich den Kutschen und Reitern aus, den eleganten Damen mit den gerafften Kleidern und den hochgeschlossenen Kragen, den Gentlemen in Anzug, Hut und den wuchtigen Backenbärten, verließ das feine Edinburgh und betrat das unfeine. Die harte Arbeit hatte die Menschen hier krumm und grau gemacht, und obwohl mein Aufzug auffallen musste, beachtete mich niemand. Der Hof vor Aschenputtels Haus war menschenleer, so dass ich einen heimlichen Blick durch das Küchenfenster wagte. Dort war sie, zusammen mit ihren Schwestern, der Mutter und dem Vater, der gerade Geld – viel Geld – aus einer Schatulle nahm, um in der Stadt einzukaufen. Er hatte sich einen guten Anzug angezogen und hörte sich die Wünsche der Mädchen an, die Perlen, Edelsteine und schöne Kleider haben wollten. Als die Reihe an Aschenputtel war, höhnte die Mutter, ihrer Stieftochter würde ein Haselreis gut stehen. Aschenputtel sagte nichts und lief davon. Sie sah mich nicht, als sie aus dem Haus stürmte, und ich folgte ihr, so gut ich konnte. Eine ganze Weile lief sie vor mir her, als sie plötzlich auf den Friedhof abbog, an ein Grab kam und dort niederkniete. Lange blieb sie dort. Weinte leise. Und ich wagte nicht, sie zu trösten. Es wurde Nacht und ein großer, weißer Mond ließ die Katzen singen, als ich sie über First und Giebel springen sah, meine kleine, schwarze Fee, die jeder Schwerkraft zu trotzen schien, so flink und lautlos huschte sie die Wände hinauf, um im nächsten Moment in einem Kamin zu verschwinden. Bald darauf tauchte sie wieder auf, und sprang mit einem auf dem Rücken geschnürten Bündel zurück in die Dunkelheit, dort, wo kein Licht war und sie mit einem Wimperschlag im Nichts verschwand. Eine halbe Nacht hatte ich auf sie gewartet, hatte gehofft, dass ich sie sehen würden, war ihr mit klopfendem Herzen gefolgt und voller Bewunderung für ihre Geschicklichkeit, ihren Mut und ihre Raffinesse. Und als ich sie dann Zuhause wusste, als ich selbst müde und beglückt in mein Bett kroch, da wurde mir klar, dass ich ihr Geheimnis vor den Augen anderer verstecken wollte, ganz gleich wie sehr die danach suchen würden. Schon bald wurden meine nächtlichen Ausflüge Routine, und ich wurde recht geschickt im lautlosen Ausbüchsen aus dem Elternhaus, so dass ich mir keine Sorgen machte, eines Tages dabei ertappt zu werden. Erstaunlicherweise waren Aschenputtels nächtliche Raubzüge kein Thema in der Zeitung, was möglicherweise damit zusammenhing, dass die Stadt schon seit Wochen der Ankunft eines orientalischen Prinzen...