E-Book, Deutsch, 360 Seiten
Schlüter Ausgerechnet zum Feiertag: Historische Mordsgeschichten
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7487-3246-4
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 360 Seiten
ISBN: 978-3-7487-3246-4
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
In Hannover und der weiten Welt ist man um 1900 nicht sicher vor ungewöhnlichen Mord(s)geschichten. Brenzlige Situationen häufen sich ausgerechnet zu den Feiertagen. Es trifft Ehepaare, Maler, Sucher nach einer heiligen Quelle, eine uneheliche Welfentochter gerät selbst Kaiser Wilhelm II. in Gefahr? Schauplätze sind Berlin, Braunschweig, Gmunden in Österreich, Hannover, Konstantinopel, Kuba, La Palma, Linden, Norderney und St. Blasien. Barbara Schlüter, Schriftstellerin und Historikerin, recherchierte wie stets akribisch in unterschiedlichen Milieus und förderte so manch Überraschendes zutage ... Mit vielen historischen Aspekten und Beschreibungen zu Ortschaften und Gegenständen lässt sie das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert lebendig werden.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Der Judaskuss
Hannover und Konstantinopel – Osterzeit 1897
Ostermorgen Wald und Strom im Silberduft, Glockenklang in sonn’ger Luft; Durch die Lande frisches Wehen – Quellensingen, Auferstehen! Mädchenherz, auch dich umblühe Ahnungsreich die Osterfrühe: Fühl den Himmel wieder offen – Und Erfüllung jedem Hoffen! Julius Lohmeyer *
Fritz Bindseil blickte seinen Schwiegervater erstaunt an. »Eine Reise? Noch dazu eine so außergewöhnliche? Wozu soll das gut sein?« »Walburga heiratete dich mit knapp siebzehn – viel zu früh! Ich hätte es gern gesehen, dass sie noch ihre Sprachkenntnisse weiter vertieft hätte – nicht zuletzt wäre dies auch nützlich für die Geschäfte gewesen. Frisch aus dem Pensionat ging sie in die Ehe mit dir, bekam in drei Jahren drei Kinder. Es wird Zeit, dass sie mal etwas von der Welt sieht.« »Lieber Schwiegerpapa«, Fritz Bindseil wusste genau, dass sein fast gleichaltriges Gegenüber diese Anrede hasste, »du weißt, ich lese Walburga fast jeden Wunsch von den Augen ab, aber bei einer so blutjungen Gemahlin galt es, ein gerechtes, aber auch strenges Eheregiment zu führen. Dies ergab sich einfach aus der Natur der Sache, sie war ein entzückendes junges Frauenzimmer, dem jedoch natürlich noch einiges an Leitsätzen für das Ehe- und Familienleben, kurz das Rüstzeug für den Alltag fehlte.« »Fritz, du bist ihr Mann, nicht ihr Vater. Das bin bekanntermaßen ich! Der Altersunterschied war ja allen Beteiligten hinlänglich bekannt. Und dadurch, dass du ihr den umfangreichen Ratgeber von Amalie Baisch Ins eigene Heim geschenkt hast, wurde der auch nicht wettgemacht. Sowohl deine Schwester als auch ich hätten sich für einen Vierzigjährigen eine etwas reifere Frau gewünscht.« »Schnee von gestern«, murrte Fritz Bindseil. »Walburga und ich führen eine gute Ehe. Und eine so junge Frau kann ein Mann eben noch besser nach seinen Vorstellungen formen.« »Das mit dem Formen ist dir ja intensiv gelungen, drei Geburten in drei Jahren! Ich mache mir Sorgen. Kaum war sie der Kinderstube entwachsen, machte sie ja ihre eigene auf.« »Ja, aber mit lauter Mädchen! Nun habe ich eine junge, hübsche Frau, aber was nutzt mir das alles, ohne Stammhalter?« Gustav Behrends zuckte mit den Schultern. »Du hast drei bildhübsche, nette kleine Töchter! Dafür kannst du doch dankbar sein. Und du weißt ja, dass der Arzt nach der Geburt des dritten Kindes dringend anempfohlen hat, keine Schwangerschaft mehr zu riskieren. Jede weitere Geburt bringt Walburga in Lebensgefahr.« »Soll ich etwa leben wie ein Mönch? Du weißt selber, dass die Verderbnis der Säfte für einen Mann ungesund ist.« »Nun sei mal nicht päpstlicher als der Papst. Wie ich dich kenne, wirst du dafür wohl eine Lösung gefunden haben.« Fritz Bindseil zog an seiner Zigarre, die ihm Gustav angeboten hatte, und brummte vor sich hin. In der Tat hatte ich mich arrangiert, dachte er. Anna, eine dralle kleine Weißnäherin aus dem Hannover benachbarten Linden, für ihre sechzehn Jahre doch recht kess, kam ihm da gerade recht. Im Gegensatz zu Walburga, die die ehelichen Pflichten lediglich über sich ergehen ließ, fand Anna ganz offensichtlich Spaß an der Freud. Das führte dazu, dass er des Öfteren in Linden weilte und Anna sich eine winzige Wohnung, die ihr ganzer Stolz war, leisten konnte. Diese Puppenstube hielt sie peinlich sauber. Allerdings fragte er sich manchmal, ob er der einzige Verehrer war, der sie dort besuchte. Jedenfalls war sie jetzt schwanger, was ihn veranlasste, davon auszugehen, dass es noch andere gab. Seine Besuche bei Anna hatte er ebenso prompt eingestellt wie seine Zuwendungen. Lasse mich schließlich nicht für dumm verkaufen, auch wenn sie Stein und Bein geschworen hat, das Kind sei von mir. Dummes Weibergeflenne, schimpfte er innerlich. Allerdings, das enthaltsame Leben, das ich jetzt wieder führe, passt mir überhaupt nicht. Und im Bordell holt man sich ruck zuck den Tripper oder Schlimmeres. Sein Schwiegervater riss ihn aus seinen Überlegungen. »Also, ihr holt die versäumte Hochzeitsreise, die ihr aus uns wohlbekannten Gründen damals nicht unternehmen konntet, nach.« »Zu frühe Geburten kommen in den besten Familien vor, Gustav!« Der überhörte den Einwand vornehm und fuhr fort: »Eine Fahrt mit dem Orient-Express, das ist doch eine extraordinäre Sache. Das spannendste und modernste, was es zurzeit gibt. Konstantinopel, die Endstation Europas, die Stadt auf den zwei Kontinenten. Der Luxuszug wird euch ebenso auf andere Gedanken bringen wie die Stadt selber.« »Aber, Gustav, das wird teuer! Und unsere Geschäfte!« Fritz fühlte sich völlig überrumpelt. »Außerdem kann ja wohl von Hochzeitsreise keine Rede sein«, fügte er halblaut brummig hinzu. Sein Schwiegervater überging dies erneut geflissentlich. »Unsere Geschäfte laufen glänzend. Behrends und Bindseil Import & Export steht so gut da wie lange nicht mehr. Und du könntest dich nach einigen Waren für unsere Firma umsehen. Der Zeitpunkt ist auch günstig. Denn die Muslime feiern Ostern nicht, also könnt ihr Geschäfte machen. Walburga kann dich da bestens unterstützen, sie hat einen exzellenten Geschmack und Gespür für Qualität – ich denke vor allem an türkische Shawls aus Kaschmir, Goldschmuck, Gewürze und hochwertige Sultaninen. Dazu einige exquisite Süßigkeiten, wie Halwa, die natürlich Walburga kosten muss. Auch Produkte für die nächste Ostersaison könnt ihr ordern. Naschereien zu Ostern werden ja immer beliebter, und verpacken lassen können wir hier. Oder wir befüllen zum Beispiel mit Ostermotiven gestaltete, zweiteilige Pappeier. Ich habe mich bereits im Fabrikantenverein erkundigt. Ihr werdet im besten Hotel absteigen, im Pera Palace.« »Na, du bist ja mit deinen Planungen schon weit gediehen«, murrte Fritz, dem zugleich schwante, dass weiterer Widerstand gegen die Pläne seines Schwiegervaters zwecklos war. »In der Tat, denn wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe. Wir verbinden das Geschäftliche mit dem Privaten. In Konstantinopel treffen sich Ost und West, da lassen sich gute Geschäfte anbahnen«, versuchte Gustav Behrends sein Gesicht zu wahren. Die Gesundheit und das Glück seiner einzigen Tochter, um die er sich große Sorgen machte, waren ihm das Wichtigste auf der Welt. Als Walburga ein hübsches kleines Mädchen war, entdeckte er bereits ihre rasche Auffassungsgabe. Es hatte ihm Spaß gemacht, sie Sprachen lernen zu lassen und sie mit den Waren bekannt zu machen. Welch ein Jammer, dass sie nur ein Mädchen war, sie hätte ohne Weiteres das Zeug gehabt, ins Geschäft einzusteigen. Er riss sich zusammen und wandte sich wieder an seinen Schwiegersohn. »Wir werden uns noch um einige Kontaktadressen kümmern, Fritz, und dann könnt ihr vor Ostern losfahren.« Walburga sah ihrem vierten Ehejahr mit gemischten Gefühlen entgegen. Niemand würde der immer noch schlanken, bildhübschen Neunzehnjährigen mit dem seidigen blonden Haar zutrauen, Mutter von drei Kindern zu sein. Ihre Ehe mit dem wesentlich älteren Geschäftspartner ihres Vaters war so lange recht harmonisch verlaufen, wie sie sich anpasste. Das Problem des fehlenden Stammhalters jedoch ließ sich nicht durch Anpassung lösen. Alle Sorgfalt, die sie anwendete, um einen perfekten Haushalt zu führen, eine gute Gastgeberin zu sein, auf die Gesundheit ihres Gatten zu achten, konnte dies nicht wettmachen. Sie sorgte dafür, dass ihr Fritz keine Speisen zu sich nahm, die Nüsse enthielten. Denn egal ob Hasel- oder Walnüsse waren diese ihrem Manne unverträglich. Wie gut, dass der Hausarzt dieser Tatsache überhaupt auf die Spur gekommen war, denn Fritz hatte sowohl nach dem Genuss einer Walnusstorte mit Sahne als auch einem Dessert mit Haselnüssen heftige Erstickungsanfälle bekommen, was Anlass zu großer Besorgnis gewesen war. Nun wusste sie, was strikt gemieden werden musste und erkundigte sich stets, wenn sie auswärts speisten, genau nach der Zubereitung der Gerichte, die er zu bestellen wünschte. Indessen konnte sie nicht mehr die Augen davor verschließen, dass eine gewisse Entfremdung eingetreten war. Dies lag nicht nur daran, dass sie das Ehebett nicht mehr miteinander teilten – jegliche Maßnahme, um eine Schwangerschaft zu vermeiden, lehnte ihr Gatte als unmännliche Zumutung ab –, sondern es auch zu keinerlei Austausch von Zärtlichkeiten mehr kam. Fritz, der bisher wesentlich jünger als ihr Vater gewirkt hatte, wurde stattlicher. Die Tränensäcke unter seinen Augen und sein Embonpoint verrieten, dass er den Mahlzeiten wie dem Wein reichlicher zusprach als früher. Walburga fühlte sich allein gelassen – Fritz bot ihr nicht mehr die starke Schulter und den sicheren Hafen des älteren Beschützers. Er hatte sich in einen vorzeitig alternden Nörgler verwandelt und ließ sie beständig ihr Versagen...