E-Book, Deutsch, 340 Seiten
Steckelbruck Der gefangene Sommer
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-95602-145-9
Verlag: CONTE-VERLAG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 340 Seiten
ISBN: 978-3-95602-145-9
Verlag: CONTE-VERLAG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christoph Steckelbruck, geboren 1962, lebt in Mönchengladbach und arbeitet als Artdirector für digitale Kommunikation in Düsseldorf. 'Der gefangene Sommer' ist sein erster Roman.
Autoren/Hrsg.
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Anton
Seine Mutter pflegte eine Vorliebe für Erich Kästner. Weniger für die Bücher, denn sie las kaum etwas anderes als Illustrierte, sondern für deren Verfilmungen. 1953 verfilmt, machte Pünktchen und Anton einen so großen Eindruck auf sie, dass seitdem feststand, dass ihr mehr als acht Jahre später geborene Sohn wie der Junge aus dem Film heißen sollte. Er musste deshalb als Anton durch die Welt gehen, auch weil der Erstgeborene schon den wesentlich nobleren Namen Fabian für sich zu reklamieren wusste. Einen Anton wollte der Vater nicht als Erstgeborenen, als seinen Stammhalter. Beim Zweiten interessierte es ihn nicht sehr. Anton war ja auch ein blöder Name, schlug in dieser Gegend oft nach Tünn oder Tünnes um, aber immerhin besser als Emil. Wer findet seinen eigenen Namen als Kind nicht blöd? Immerhin konnte er sich in dem Zusammenhang beglückwünschen, nicht als Mädchen in diese Welt getreten zu sein, das sein Dasein als Lottchen vielleicht, oder gar als Pünktchen fristen müsste.
Wer ihn sieht, schaut auf einen etwas dicklichen, etwas zu kleinen, etwas zu rothaarigen Jungen mit etwas zu fleischigen Lippen. Sein Bruder sagt immer Schlauchboot zu ihm. Der Betrachter bemerkt ein Übermaß an Sommersprossen und eine dicke Brille mit Kassengestell, braun gefasste Vierecke, Aquarien für die Augen. Umrahmt wird das breite Gesicht durch etwa schulterlanges, rotes Haar, seitlich gescheitelt und leicht fettig gewellt. Oft kneift er die Augen fest zu und legt die großen Schneidezähne des Oberkiefers frei, indem er die Nase kraus und die Oberlippe hochzieht. Daran erkennt der Beobachter entweder, dass Anton in die Sonne schaut oder angestrengt nachdenkt, oder, was am häufigsten vorkommt, lautstark Rotz hochzieht, der eigentlich gar nicht vorhanden ist. Diese Unsitte, wie seine Mutter es nennt (»Du bist ein ganz gewöhnlicher Europäer«, sagt sie dann), hat er sich von einem Klassenkameraden abgeschaut, den er insgeheim bewundert, obwohl er ein Arschloch ist, oder gerade deshalb. Das Bild wird vervollständigt, denkt man sich einen gelb-blau-grün geringelten, zu engen Pullunder und darunter ein giftgrünes Hemd mit gewaltigem Kragen, dazu die dunkelblaue Jeans mit weitem Schlag und braune Hush Puppies oder Sioux-Schuhe mit Fransen und nicht zuletzt die Jeansjacke, die auf dem linken Arm einen kreisrunden Aufnäher mit der Aufschrift The Monster und einem Frankensteinkopf, auf dem rechten Ärmel den poppigen Schriftzug Deep Purple in Gold auf purpurnem Grund trägt. Auf der linken Wange, fast unter dem Ohr, sitzt ein bräunliches Muttermal wie Mutter Spinne, das er hegt und pflegt, weil es die Heimat seiner bisher einzigen Barthaare ist. Anton bemüht sich um eine tiefere Stimmlage, kann aber nur schwer verbergen, dass der Stimmbruch kaum eingesetzt hat. Sein Vater sagt, das komme alles noch, er sei ja erst dreizehn, und er solle sich mal die Hexenwarze rasieren.
Anton weiß: Er wird es schwer haben mit diesen Voraussetzungen. Deshalb verachtet er seinen Vater, der ganz genau die gleichen Merkmale besitzt und sehr dominant nur auf ihn, nicht aber auf seinen gutaussehenden Bruder Fabian übertragen hat.
Die wohlgeratenen Vorfahren mütterlicherseits lebten ursprünglich in Frankreich, gehörten sogar zum minderen Adel und sahen sich daher genötigt, zur Zeit der Französischen Revolution der Fürsorglichkeit des Wohlfahrtsausschusses zu entgehen, fanden schließlich über die Niederlande ins preußische Rheinland und ließen sich in dieser kleinen Stadt nieder. Die anderen, die väterlichen, denen Anton sein breites Gesicht schuldete, kamen aus dem tiefen slawischen Osten über Thüringen nach dem Zweiten Weltkrieg mit Pferd und Leiterwagen als Flüchtlinge ebenfalls in dieses platte Land.
Nebenan wurden sie einquartiert im Kartoffelkeller, bezeichnet als Souterrain, übernahmen aber bald das Haus von der alten Witwe, die zuvor da gehaust hatte mit ihren sieben Katzen und einem zwar freundlichen, aber aus dem Maul stinkenden alten Dackel. Sie starb, als sie über eines der Katzenviecher stolperte und den folgenden Treppensturz mit einem Genickbruch bezahlte. Dieser Umstand führte dazu, dass die Familie, die Antons Vater hervorgebracht hatte, Einzug in die oberen Geschosse hielt und sich sesshaft machte.
Und so konnte sich Antons Mutter Brigitte, der man große Schönheit nicht nur nachsagte, Jahre später in diesen unansehnlichen Mann verlieben, weil sie genug Zeit hatte, sich an ihn zu gewöhnen. Es gab ja auch kaum noch Männer, entschuldigte sie sich später einmal unabsichtlich, aber zu Recht. Man heiratete also, wie es Brauch war, und pflanzte sich fort, wie es sich gehörte.
Diese Kette unvermeidlicher Zufälle stieß Anton ins Licht der Welt. Nicht nur, dass ihm eine Fehlgeburt vorausging und ihm freiwillig ihren Platz räumte. Auch einen Fieberanfall mit heftigen Krämpfen überlebte er nur knapp. Ein fernes Traumbild Antons nährte sich von daher: So sah er sich selbst, aus schwebender Position, als Baby mit der winzigen Faust rhythmisch gegen sein Bettchen trommeln, schnell und immer schneller. Die alte Tutta, seine treue Wache am Bettchen tagein, tagaus, konnte sich an das rasende Klopfen erinnern. Sie brachte Weihwasser, besprenkelte den ganzen Raum und betete etliche Rosenkränze. Das half.
Anton zeigte früh eine künstlerische Begabung, malte und zeichnete vor allem Comicfiguren, Fantasy- und Horrorszenen. Er las Science-Fiction-Bücher und die Gruselheftserie um den Dämonenkiller Dorian Hunter. Die Lehrer ließen nicht nach, zu behaupten, er sei zwar hochintelligent, aber auch stinkend faul. Das wurde von der Umgebung so weit akzeptiert, als es einen oft vorkommenden Typus Mensch beschrieb. In jeder Familie gab es so jemanden. Das mit der Faulheit mochte ja stimmen, aber sie entsprang keiner Unlust oder mangelndem Interesse, sondern nur und ganz einfach dem Umstand, dass er das Leben nicht verstand und niemand den Versuch unternahm, es ihm zu erklären. Und wenn jemand doch einmal den Versuch machte, beraubte er Anton dadurch aller anderen Möglichkeiten, die Welt zu verstehen. Das gefiel ihm ebenso wenig. Darum machte er nicht mit, übte Zurückhaltung und nahm lieber die Position des Beobachters ein.
Als er zum Beispiel eingeschult wurde, da drückte man ihm eine Zuckertüte in die Hand und übergab ihn kommentarlos und wie selbstverständlich seiner Klassenlehrerin Frau Schulte, die ihn Kreise und Kringel auf eine Schiefertafel malen ließ und nicht ein einziges Mal die Bedeutung dieser merkwürdigen Tätigkeit erläuterte. Er schaute dann aus dem Fenster. Da fuhren, genau auf der Linie des Horizontes entlangschwebend, Dampflokomotiven vorbei, mächtig weiße Wolken ausstoßend. Und die Kreise und Kringel wurden zu Dampfwolken, die im Takt der mächtigen Maschinen in den Himmel pufften. So strebten sie hinaus aus den vorgegebenen Linien der Tafel, wie der Dampf aus der Horizontalen, verketzerten ihren eigentlichen Sinn, nämlich den der Disziplinierung der Phantasie in eine festgeschlossene Reihe, und veranlassten Frau Schulte zunächst zu freundlich leisem, dann aber vehement drängendem Tadel.
So kam es, dass Anton meist leise in sich hineinheulend, manchmal auch zähneknirschend den Heimweg antrat und oft genug folgenlos ankündigte, nicht mehr zur Schule gehen zu wollen.
Und in gewisser Weise fordert man ihn bis zu diesen Tagen im März immer wieder auf, Kringel und Kreise zu malen und behauptet, es gäbe nur eine einzige Weise, das zu tun. Er besitzt einen Freund, einen Spielkameraden, und rennt auch manchmal mit einer ganzen Horde um die Vorgärten der Straße, immer einem Anführer, einem großmäuligen Kerl namens Burkhardt, genannt Burki (in diesem Landstrich Boaarkie ausgesprochen) hinterher. Weil man das so tut als Kind. Aber er weiß immer noch nicht genau, warum. Ja, das Warum steht ihm im Weg und er will immer das Dahinter sehen.
Als Anton vier Jahre alt war, spielte er oft im Garten der Großmutter, der sich sehr schmal und weit in die Tiefe erstreckte, seitlich begrenzt durch Hecken und durchsetzt von alten Birnbäumen. Ganz am Ende dieses Gartens, für Anton das andere Ende der Welt, befand sich eine Mauer, und darin eine metallene Tür, die stets verschlossen blieb. Die Tür bestand aus massivem, grün lackiertem Eisen, und nur ein kleines Gitterfenster hoch oben ließ einen dunstigen Lichtstrahl herein, der ein gelbes Viereck auf den kurzgeschnittenen Rasen zeichnete. Antons Bruder Fabian schaffte es unter Zuhilfenahme eines Stuhles, über den Rand des kleinen Fensters zu spähen. Und er wusste Unglaubliches zu berichten. Hier, an dieser wundersamen Gartentür, prägte sich in Anton ein Gefühl, eine Art Gewissheit ein. Obwohl er genau wusste, dass sich auf der anderen Seite ein schäbiger, von Hundescheiße verseuchter Spielplatz befand, da er oft genug mit der Großmutter um den Block gegangen und auf dem Weg zum Milchgeschäft daran vorbeigekommen war, so glaubte er trotzdem jedes Wort der phantastischen Berichte seines Bruders. Er wusste ganz genau, wenn es ihm eines Tages möglich sein sollte, diese Türe zu durchschreiten, dann würde er eben nicht auf dem schäbigen Spielplatz herauskommen, sondern in einer ganz anderen Gegend, die Elfen, Riesen und Gespenster, schöne Jungfrauen, Drachen und Ritter und alle denkbaren wunderbaren Geschöpfe beherbergte. Auch später noch, als er längst, auch durch eigenen Blick durch das Fensterchen, erkannt hatte, dass die Geschichten seines Bruders reiner Phantasie entsprungen waren, blieb doch dieses Gefühl, diese undeutliche Gewissheit bestehen. Alle Arten von verschlossenen Durchgängen, von Zäunen und Barrieren,...




