E-Book, Deutsch, Band 1, 316 Seiten
Reihe: Major Li
Tetzlaff Li und der Schatz
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-347-15826-9
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein neuer Fall für Major Li
E-Book, Deutsch, Band 1, 316 Seiten
Reihe: Major Li
ISBN: 978-3-347-15826-9
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sven Tetzlaff, geboren und aufgewachsen in Rostock, studierte in Eisleben und Jena. Seit 2005 lebt er in China. Er ist Redakteur in einem deutschsprachigen Magazin. Darüber hinaus ist er als freiberuflicher Fotograf international tätig.
Autoren/Hrsg.
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Pleite
Hans Hinrichs, Rostock, Tsingtau, 1898
Er konnte es kaum glauben. Eben noch in der mecklenburgischen Provinz und nun steht er mit seiner Frau Lisa auf der Gangway ihres liebgewonnenen Schoners. Sie schauten auf eine neue Heimat, die fremdartiger nicht sein könnte. Die Farben sind anders, die Geräusche haben nichts Vertrautes und die Gerüche erst. Verwest da was oder wo kam dieser Gestank her,2 fragte sich Hans. Noch nie hatte er so etwas gerochen. Es war heiß, bestimmt 40°C und dabei ist es erst Juni. Es war so schwül, dass ihm der Schweiß herunterlief, ohne dass er sich bewegte. Ein weicher Dunst lag über dem Flecken namens Tsingtau. Angesichts der prallen Fremdartigkeit kamen ihm wiederholt Zweifel, ob das eine gute Idee war, Auswandern von Rostock nach Kiaoutschou.
Dabei hatte er nie eine echte Chance, dieses Schicksal abzuwenden. Das Unternehmen seines Vaters wurde im Gründerkrach ordentlich durchgeschüttelt. Es gelang ihm zwar, die Firma eine Weile am Leben zu halten, aber mit dem Tod des Vaters brach auch die Stütze der befreundeten Lieferanten und Gönner weg. Der Notar verkündete ihm dann das, was er schon eine Weile geahnt hatte. Die Hinrichs waren hoffnungslos überschuldet. Ein ehemaliger Lieferant und guter Freund seines Vaters, Paul Evert, nahm ihn in seiner Weingroßhandlung in Anstellung und gab seiner Frau und ihm Logis. Das Haus, der Laden und alle entbehrliche Habe waren verkauft … und doch reichte es nicht. Er würde bis an das Ende seines Lebens für die Schulden arbeiten müssen.
Er dachte zurück. Hans beförderte gerade eine neue Lieferung Wein in die oberste Speicheretage, als ihn Paul Evert aus dem Kontor rief. Er konnte unmöglich den Flaschenzug wieder ablassen und zum Zurückrufen fehlte ihm schlicht die Puste. Paul würde sich aufregen, aber diese Arbeit ließ sich nicht unterbrechen. Im Laden seines Vaters musste er nie körperlich arbeiten. Vaters Pläne sahen ein Studium nach der Kaufmannslehre für ihn vor. Ein paar Semester hatte er studiert, doch dann ging das Geld aus. Er wollte nicht lamentieren, die körperliche Arbeit tat ihm gut und hielt ihn vom Grübeln ab. Paul rief schon wieder. Gleich schickt er einen Lehrling, dachte Hans. Der alte Evert konnte es nicht leiden, wenn das Räderwerk seiner Firma durch überflüssige Botengänge gestört wurde. Das wird beim Essen wieder Thema und Hans’ Frau wird ihn dabei vorwurfsvoll anschauen. Eine Minute noch, dann ist die Stiege oben, drei weitere bis er selbst oben ankommt, um sie ins Regal zu fieren und nochmal vier Minuten, um zum Kontor zu rennen. Verzweiflung machte sich breit.
Es kam kein Lehrling. Zwei Männer, denen man auf einhundert Metern ansah, dass sie Beamte sind, erschienen im Speicher. Einer von ihnen trug einen auffälligen Spazierstock mit einem feinen, silbernen Drachenkopf als Knauf. Oh je, dachte Hans, sind wieder neue Schulden aufgetaucht? Kurz zog er in Erwägung, sich unter den Flaschenzug zu stellen und das Seil zu lösen. „Herr Hans Hinrichs, sind Sie das?“, fragte einer der Beamten.
„Ja“, antwortete er. „Aber was auch immer Sie für mich haben, ich muss erst diesen sündhaft teuren Wein ins Regal bringen, andernfalls fällt die Stiege vielleicht in den Schacht und verletzt noch jemanden.“
Verunsichert schauten die beiden nach oben zu der in zehn Meter Höhe pendelnden Stiege und traten erschrocken in die Durchfahrt zurück.
„Sie können mir trotzdem erzählen, um was es geht. Ich bin Kummer gewohnt. Hat sich ein weiterer Lieferant bei Ihnen gemeldet?“
„Nein, nein, keine Sorge. Wir sind nicht hier, um Ihnen weitere Sorgen zu bereiten. Im Gegenteil, wir haben ein Angebot für Sie, das alle Ihre Probleme auf einen Schlag lösen könnte.“
„Kommen Sie mit nach oben und erzählen Sie um Gottes willen weiter“, antwortete Hans.
„Wir sind vom Reichsmarineamt …“, fing der eine Beamte an.
Ich ahne es, dachte Hans. „Ich bin nicht wehrtauglich“, antwortete er laut.
Der Beamte grinste ihn an. „Das wissen wir. Es geht auch nicht um ihren Eintritt in die kaiserliche Marine … obwohl …“, der Beamte grinste noch breiter, „wie Sie sicher wissen, hat kürzlich Admiral von Diederichs, nach dem feigen Anschlag der Chinesen auf unser Leben und unsere Werte, die Bucht von Kiaoutschou besetzt3. Der Kaiser wird dort eine deutsche Muster-Kolonie errichten. Unsere Marine kann zwar vieles, aber wie das so ist, ein paar Zivilisten brauchen wir auch. Besonders dann, wenn sie jung sind und eine gute Ausbildung genossen haben.“
Und wenn sie verzweifelt genug sind, um nach jedem Strohhalm zu greifen, fügte Hans in Gedanken hinzu. Er fierte die Stiege in den nächstfreien Regalplatz und setzte den Mosel-Wein unsanfter als gewollt ab.
„Sie meinen, ich soll meine Schulden im Dienst des Kaisers abarbeiten?“
„Im Prinzip ja, aber es ist viel besser, als Sie denken“, sprach der Beamte. „Ihnen werden alle Schulden sofort erlassen, nachdem Sie sich für einen Zehnjahres-Contract verpflichtet haben. Alles, was Sie in den Kolonien verdienen, bleibt Ihres. Sie haben die Chance, noch einmal ganz von vorne anzufangen. Selbstverständlich können Sie Ihre Frau mitnehmen, bekommen eine Wohnung auf Kosten des Reiches und werden eine wichtige Position bekleiden. Denken Sie nach, Mann! Sie sind nicht nur Ihre Schulden los, sondern machen einen Karrieresprung, der hier im Mutterland unmöglich ist. Na ja und ein Abenteuer ist es auch. Was wollen Sie mehr?“
Hans‘ Herz klopfte bis zum Hals. Gemeinsam gingen sie die Treppen wieder hinunter und nach vorn zum Kontor. „Haben Sie dem Herrn Evert schon was erzählt“, fragte Hans.
„Nein, noch nicht. Das können Sie machen, wenn Sie sich entschieden haben. Allerdings kann ich Ihnen nicht viel Zeit geben. Der Dreimastschoner Otto Artel, der sie beide nach China bringen soll, liegt bereits unten im Hafen. Wenn Sie wollen, können Sie sich das Schiff in der Mittagspause anschauen. Es geht noch kurz in die Werft und wird in ca. vier Wochen auslaufen. Ihre Antwort hätte der Kaiser gerne bis übermorgen. Hier sind die Unterlagen und ihr Contract. Bitte melden Sie sich bis spätestens übermorgen drüben in der Admiralität bei mir. Dito wenn Sie Fragen haben.“ Wobei er über die Warnow zeigte. Er übergab Hans ein dickes Paket Unterlagen. Der zweite Beamte, der mit dem Gehstock, hatte die Zeit über geschwiegen. Beide grüßten ins Kontor, von dem Paul und der Lehrling sie drei aufmerksam beobachteten und liefen die Lagerstraße zum Anleger hinab.
Er sah den Beamten nach und wusste, schon bevor sie aus seinem Blickfeld verschwanden, dass er das Angebot annehmen würde. Es war völlig richtig, hier in Deutschland, zumal im beschaulichen Rostock, konnte er seinen Gordischen Knoten nicht zerhacken. Es graute ihm davor, seiner Frau die Sache zu erklären. Sie hatte mit ihm wirklich Pech. Noch vor einem Jahr dachte sie, eine gute Partie zu machen und dann die Pleite. Nun lebte sie mit ihm in einem kleinen Zimmer neben dem Kontor der Weingroßhandlung in der Lagerstraße 10. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sich ihre Eltern über ihn das Maul zerrissen. Er merkte dies jedes Mal, wenn sie von einem Besuch bei ihnen drüben, in Gehlsdorf, zurückkam. Nun hatte die altehrwürdige Apothekerdynastie einen Habenichts in der Familie – was für ein Unglück! Aber sie machten auch nicht den kleinsten Versuch, ihm in dieser Misslage zu helfen. War ja sein Problem und nicht das der Tochter. Da nützte selbst der Hinweis nichts, dass er ebenfalls ohne eigenes Zutun in den Schlamassel gerutscht war. Nun ja, man konnte sich die Verwandten nur bedingt aussuchen. Lisa war aus anderem Holz als ihre Eltern. Sie unterstützte ihn nicht nur mit dem Geld, das ihre Eltern ihr mit der strengen Auflage, „das ist für dich – und nicht für deinen Mann“, regelmäßig gaben, sondern war auch sonst eine große Stütze. Sie stand immer hinter ihm. Egal wie dick es gerade kam. Der alte Evert fasste das auf seine Art zusammen. „Die ist viel zu gut für dich“. Stimmt, dachte Hans, und jetzt würde er sie nach China entführen. Weg von den Eltern und deren finanzieller Sicherheit, weg von den noch verbliebenen Freunden und hinein in eine gänzlich unbekannte und wahrscheinlich auch gefährliche Welt. Das erste Mal dachte er darüber nach, ihr die Scheidung anzubieten. Wenn die Umstände seiner Auswanderung bekannt würden, wäre ihre Ehre wiederhergestellt. Ihre Familie hätte sowieso etliche Nachfolger für ihn zur Hand. Zumindest behaupteten sie das ständig. Doch Hans liebte Lisa und Lisa liebte Hans. Das machte alles unendlich kompliziert. Er würde erst mit Paul Evert sprechen. Doch vorher wollte er runter zum Hafen, um sich den Schoner anzuschauen. Vielleicht packte ihn ja das Fernweh und beflügelte seinen Entschluss.
„Dies ist ihre Kabine“,...




