E-Book, Deutsch, 241 Seiten
Thurner Universum in der Tasche
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-946773-45-0
Verlag: Fabylon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anthologie
E-Book, Deutsch, 241 Seiten
ISBN: 978-3-946773-45-0
Verlag: Fabylon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Marcus Thurner, Jahrgang 1963, studierte Anglistik, Geographie und Geschichte, arbeitete in wechselnden Berufen und ist seit 2002 hauptberuflicher Autor mit eigenen Werken bei diversen Verlagen, sowie Teamautor bei Serien, u.a. bei MADDRAX, ELFENZEIT und PERRY RHODAN, und veranstaltet Schreibcamps. Seine große Leidenschaft ist das Reisen mit dem Motorrad, und er ist bekennender Fan des SK Rapid Wien.
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Die Sache mit den Fliegen
Du willst wissen, wie ich IHN kennenlernte? Und du bist Journalist?
Geld? Damit kannst du mich nicht locken. Ich gebe dir das Interview unter einer Voraussetzung: Dass du alles so abdruckst, wie ich es dir sage. Ohne Wenn und Aber, ohne Kommentar.
Du bist einverstanden? Und du gibst mir dein Ehrenwort als Journalist?
Na gut, dann setz dich nieder. Bestellen wir uns etwas. Wein? Oder Bier?
Also. Die Geschichte begann hier, in diesem Lokal …
Das Café hat keinen Namen. Manche nennen es das Blaue Café wegen des farbigen Schildes, das du sicherlich draußen gesehen hast. Aber unter Stammgästen wird es nur Café genannt.
Ich schweife ab? Nein. Ich will dir begreiflich machen, unter welchen Umständen wir IHN kennenlernten. Die Atmosphäre spielte eine wichtige Rolle, und das Café nahm dabei eine wichtige Rolle ein.
Es ist nicht bloß ein Ort, an dem man sich trifft und unterhält. Schau dich mal um, was hier so alles passiert: das Pärchen dort in der Ecke, das sich verliebt in die Augen blickt. Die beiden Jungs am runden Tisch, die Schach spielen und dabei die Welt ringsum vergessen. Die ältere Dame an der Bar, die in ihrer Zeitschrift versunken ist. Fällt dir etwas auf?
Nein, natürlich nicht. Du bist fremd hier, du kannst es nicht spüren. Ich werde dich jetzt in das Geheimnis des Cafés einweihen: Das Lokal ist eine Zeitmaschine.
Du lachst?
Du hältst mich für eigentümlich, nicht wahr? Du brauchst es gar nicht leugnen, ich sehe es dir an. Aber horch mir zu und widerlege mich, wenn du kannst.
Das Café eine Zeitmaschine, aber natürlich bloß im übertragenen Sinne. Die Gäste kommen hierher, um einsam und verlassen über ihre Sorgen nachzudenken. Sie plaudern zu zweit oder in Gruppen. Sie streiten und sie lieben sich, sie lernen neue Leute kennen oder trennen sich von ihnen. Sie gestalten dabei ihre eigenen Zeitabläufe, die sich von jenen der Welt dort draußen gehörig unterscheiden. Äußere Einflüsse gibt es kaum. Die einzige Uhr über dem Tresen ist defekt. Beide Zeiger deuten stets auf die Zwölf. – Ich frage mich schon seit Jahren, ob damit Mittag oder Mitternacht gemeint ist. Doch letztlich spielt es keine Rolle.
Der einzige Eindringling in die abgeschottete Welt der Gäste ist der Barkeeper. Ja, richtig. Er heißt Manfred, besser gesagt: Mandi.
Seit den Ereignissen mit IHM arbeitet er nicht mehr all zu oft. Leider …
Einerlei.
Du wirst jetzt sagen, dass nach meiner Definition jedes öffentliche Lokal eine Zeitmaschine ist. Damit hast du recht. Aber es gibt eine wichtige Nuance, die du nicht überall finden wirst. Das Blaue Café ist für seine Stammgäste eine Art heiliger Ort, ein . Wir spüren, ob jemand alleine sein will oder Gesellschaft benötigt.
Neue Gäste, die zufällig hierher finden, fühlen sich entweder sofort heimisch oder werden wie Fremdkörper abgestoßen. sieht man garantiert nur einmal im Café.
So wie dich, zum Beispiel. Ich merke es dir an. Du sitzt da, als hättest du saure Zitronen gegessen. Ich bin lange genug Gast und habe ein feines Gespür für entwickelt.
Aber jetzt schweife ich wirklich ab.
Also: An jenem Abend, als ER das Café betrat, spürte ich augenblicklich, dass ein Fremdkörper in unsere Zeitblase vorgedrungen war.
ER betrat das Lokal nicht, ER war einfach da.
Ich unterhielt mich gerade mit Mandi an der Bar über Fußball. Er wollte mir wieder einmal einreden, dass seine Blau-Gelben besser wären als meine Grün-Weißen. Wir heckten soeben die Bedingungen für eine kleine Wette aus, als wir IHN sahen.
Falsch. Wir sahen IHN.
Mandi erschrak. Es erachtete es als eine seiner wichtigsten Pflichten, Gäste beim Betreten des Blauen Café ab- und einzuschätzen. Er besaß ein geübtes Auge und filterte jene Leute aus, die die Harmonie in den Wirtsräumen beeinträchtigten. Doch diesmal versagte unser Wirt. Fassungslos blickte Mandi IHN an, als ER neben uns wie aus dem Nichts auftauchte.
»Guten Abend, moine Herren.«
Nein, ich mache keine Scherze. ER sagte tatsächlich moine. Diese blasierte Sprache, meist mit einem nasalierenden Singsang verbunden, ist hier häufig anzutreffen. Sieh dich um, und du wirst einige Tintenburgen in der Umgebung entdecken: Innenministerium, Landwirtschaftskammer, Arbeiterkammer, Parteizentralen und so weiter.
Du glaubst mir schon wieder nicht, hm? Aber ich sage dir, man lernt im Laufe der Jahre den beruflichen oder privaten Hintergrund der Besucher rasch einzuschätzen.
Die Leute vom Fitness-Studio gegenüber rufen stets laut »Hi!«, wenn sie die Treppe herunterkommen. Darüber hinaus laufen sie das ganze Jahr über mit melanomverdächtiger Bräune umher. Die Jungs vom Security-Haufen, die sich regelmäßig im Café treffen, grüßen gar nicht, gehen steif wie Bretter und zucken bestenfalls nervös mit den Augenlidern, wenn man sie anspricht. Echt harte Jungs, höhö.
Mitglieder des Clubs der einsamen und eisernen Jungfrauen – ja, da hinten an dem großen Tisch sitzen sie – kichern ihre Begrüßungen und halten dabei immer eine Hand vors Gesicht, damit die Schminke nicht verrutscht. Die Studenten der Akademie zeigen mit ihren Fingern das Victory-Zeichen und lächeln ein wenig einfältig, wenn sie wieder mal zu viel von ihrem Kraut geraucht haben. Ein Kawasaki-Fahrer braucht nichts zu sagen, den erkennt man augenblicklich an den öligen und schmutzstarrenden Händen. Und wenn ein Exekutor das Café betritt, reicht ein Blick zu Mandi. Der bekommt dann das nervöse Zucken in den Mundwinkeln. Muss so eine Art Allergie sein.
Wo war ich? Ach ja: ER sagte »moine« Herren, und wir wussten, dass ER nur Beamter sein konnte. Mandi und ich wechselten Blicke. Der Abend hatte so nett begonnen – und nun das.
Diese Schreibtischtäter mieden das Café gewöhnlich wie der Teufel das Weihwasser. Sie passten nicht hierher, sie fühlten sich unwohl. Kein Wunder. Ab und zu konnte es im Café ein wenig … ungeregelt zugehen.
Warum schüttelst du den Kopf? Du hast versprochen, dir meine Geschichte anzuhören.
SEINE Stimme war eintönig, fast ohne Betonungen. SEIN gestelztes Benehmen hob unsere Laune auch nicht gerade. Das Beamtentum war IHM ins Gesicht gestempelt. Korrekte Kurzhaarfrisur, dicke, runde Hornbrillen mit wässrigen Augen dahinter, eine abgezirkelte, leicht angegraute Rotzbremse, die Wangenhaut unrein und voller Pickel, ein Ansatz zum Doppelkinn.
Nach meiner kurzen Musterung grüßte ich ihn mit »Hallo«, so leise wie möglich, in der Hoffnung, dass ER uns in Ruhe lassen würde.
Aber ER ließ sich nicht beirren. »Darf ich mich zu Ihnen gesellen, moine Herren? Ich bin ein wenig müde und würde mich über ein freundschaftliches Schwätzchen froien.«
Mandi bekam erst jetzt den Mund zu. Es hatte ihn wirklich getroffen, dass er IHN nicht schon beim Betreten des Lokals bemerkt hatte.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte Mandi.
Beabsichtigt oder nicht – er verfiel in die gestelzte Redeweise unseres merkwürdigen Gastes.
»Warum nicht, Herr Wirt? Ein kloines Glas Mineralwasser, wohl temperiert und mit viel Kohlensäure, wenn es geht, bitteschön.«
Mandi atmete tief durch. Ich ahnte, dass er darüber nachdachte, den Kerl kurzerhand vor die Tür zu setzen. Doch er fing sich wieder, nickte freundlich und machte sich an die Arbeit. Ich blieb indes mit dieser personifizierten Beamten-Karikatur alleine.
Ich fühlte mich unwohl. Jawohl, unwohl, das kannst du ruhig schreiben. ER hatte eine negative Ausstrahlung. Nein, nicht negativ, das ist das falsche Wort. ER verursachte ein Unwohlsein, das man fühlt, wenn man in eine Decke beißt. Es stellen sich einem die Nackenhaare auf, ohne dass man dagegen etwas tun kann.
»Mein Name ist Carl V.«, sagte er. »Carl mit geschrieben, haha.«
Mit SEINEM Humor stand es also auch nicht zum Besten.
»Angenehm.« Ich beschränkte mich auf jenes Mindestmaß an Höflichkeit, in der Hoffnung, dass ER mich bald in Ruhe lassen würde.
»Wissen Sie, eigentlich bin ich kein besonders geselliger Mensch, aber manchmal benötige ich doch jemanden, mit dem ich moine Sorgen teilen kann.«
Innerlich schrieb ich den Abend ab, der so ruhig und friedlich begonnen hatte. ER ließ sich einfach nicht abwimmeln.
Ich wollte IHM gerade ins Gesicht sagen, dass ER sich Duweißtschonwohin begeben sollte, als Mandi mit dem Glas Mineralwasser zurückkam. Er kannte mein Temperament und versuchte, beschwichtigend einzugreifen.
Er stellte das Getränk vor IHM ab und fragte: »Wo drückt Sie denn der Schuh, Carl?«
»Ach, wissen Sie, es ist dieses Problem mit meinen Schilddrüsen.« ER nippte mit gespitzten Lippen am Wasser. ER umklammerte das Glas mit einer kleinen, blassen Hand, die fein manikürt war. In diesem Moment hätte ich meine gesamten Besitztümer darauf verwettet, dass dieser Mensch in seinem Leben nie etwas Schwereres als einen Bleistift gehalten hatte.
ER schwafelte drauf los. Er redete von Beschwerden im Kehlkopfbereich, hormonellen Schwankungen, medizinischen Eingriffen, Substitutionsbehandlungen, alternativen Heilmethoden und unendlich langweiligem medizinischen Blabla. Ich gab mir nicht die Mühe, SEINEN endlosen Ausführungen zu folgen. Das zweite, dritte und vierte Glas Rotwein, das Mandi in rascher Folge vor mir abstellte,...




