Wonneberger | Pension Seeparadies | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 180 Seiten

Wonneberger Pension Seeparadies

Roman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-99014-293-6
Verlag: Müry Salzmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 180 Seiten

ISBN: 978-3-99014-293-6
Verlag: Müry Salzmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wir sehen ihn, den Lehrer Winkler, morgens beim Strandspaziergang. Allein. Es gab Streit zwischen ihm und seiner Frau, aus geringfügigem Anlass. Auch die Pension Seeparadies macht ihrem Namen wenig Ehre. Streit hatten sie schon öfter, aber so lange geschwiegen danach noch nie. Ob sie schon beim Frühstück sitzt und wie immer ihr Spiegelei... Obsessiv denkt Winkler sich in den Kosmos seiner Frau hinein, meint zu sehen, wo sie jetzt ist, was sie tut oder denkt. Seltsam nah ist er ihr seit dem Abbruch des Gesprächs. Da fällt ihm Bergthaler wieder ein, der langjährige Freund: Funkstille auch zwischen ihnen. Irgendwann kippten ihre Weltsichten auseinander, konnten sie einander scheinbar nicht mehr hören. Und dann erweist sich auch noch ein Pensionsgast als Wiedergänger des ehemaligen Freundes... An Wirklichkeitssinn nicht zu überbieten: Jens Wonneberger sieht die verletzte Natur des Urlaubslandes als Seelenspiegel seiner Figuren, erzählt ebenso subtil wie realistisch, sodass sich im Alltäglichen Allgemeingültiges zeigt. Wonneberger braucht weder Zuspitzung noch die geringste Zutat, um das Leben, wie es ist, sichtbar zu machen.

Jens Wonneberger wurde 1960 geboren und lebt in Dresden. Seit 1992 arbeitet er als freiberuflicher Autor und Redakteur. Er erhielt diverse Stipendien und wurde mehrfach ausgezeichnet: 2010 mit dem Sächsischen Literaturpreis, 2017 mit einem Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds und 2018 mit dem London-Stipendium desselben Fonds. Wonneberger hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Sachbücher veröffentlicht. Beim Müry Salzmann Verlag erschienen seine Romane 'Goetheallee' (2014), 'Himmelreich' (2015), 'Sprich oder stirb' (2017), 'Mission Pflaumenbaum' (2019, Longlist Deutscher Buchpreis 2020), 'Flug der Flamingos' (2021) sowie der Band 'Weltliteratur. Kleine Prosa' (2023).
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1

Winkler hatte schlecht geschlafen in dieser Nacht, aber müde war er dennoch nicht. Gehen, dachte er nun, du musst jetzt gehen, egal wohin, einfach nur gehen. Und ging also mit entschlossenen Schritten bis zur Strandpromenade, deren einst mondäner Glanz freilich nur noch auf den Reproduktionen der Ansichtskarten mit Bildern aus der Kaiserzeit matt schimmerte, in Sepia oder nachträglich koloriert, wenn die Touristen vor den Souvenirbaracken zwischen Sonnenbrillentürmen und vielgeschossigen Stellagen voller mit Vornamen beschrifteter Kaffeetassen im Vorbeigehen die Ständer drehten. Die Strandpromenade, die im Sommer einem belebten Jahrmarkt glich, jetzt in der Nachsaison aber, erst recht so früh am Morgen, wie ausgestorben war zwischen den angeketteten Stühlen, zusammengeklappten Sonnenschirmen und manchem Unförmigen, das sich noch gut verschnürt unter dunkelgrünen Wetterschutzplanen verbarg. Über die Estrade des Konzertplatzes trieben Papierreste, irgendwo klirrten leere Flaschen. An der Spitze einer glänzenden Metallstele zeigten vier Uhren die Zeit in alle Himmelsrichtungen: kurz nach sieben. Es war Mitte Oktober und vor dem kleinen Supermarkt, in dem, das hatte er gestern bemerkt, im Kassenbereich schon die ersten Pfefferkuchen und Schokoladenweihnachtsmänner Spalier standen, hatte jemand einen Wischeimer ausgekippt, in der Pfütze schwamm zwischen den Schaumresten noch das letzte Licht der Straßenlaternen. Ein paar Krähen zogen auf der Suche nach Fressbarem Plastiktüten und Papierfetzen aus einem Abfallkorb, aufmerksam beobachtet von zwei Möwen, die kampfbereit auf der Reling eines als Spielgerät aufgestellten Piratenbootes Stellung bezogen hatten und unruhig hin und her traten, nervös mal den einen Flügel hebend, mal den anderen. Irgendwo, dachte Winkler, ist immer Krieg.

Die seltsamen Bänke, flache, langgestreckte Monolithe aus geschliffenem Granit und noch vom Tau befeuchtet, ließ er links liegen, etwas an ihnen kam ihm falsch vor, um darauf zu sitzen, wären sie jetzt ohnehin zu kalt, während sie in der Mittagssonne wahrscheinlich zu heiß sein würden, außerdem war über Nacht Wind aufgekommen, da war es besser, zu gehen, egal wohin. Immer den Schuhspitzen nach, hatte es in seiner Kindheit geheißen. Im Vorbeigehen riss er etwas von einem Strauch, wie er es immer tat, wenn er nervös war, es war gut, etwas in den Händen zu haben, diesmal war es das Blatt einer Kartoffel-Rose, zwischen deren Blättern und den apfelförmigen Hagebutten eine verspätete Blüte das Verblühen verweigerte und dunkelrosa leuchtete. Auf einer der Bänke, fiel ihm ein, hatte er gestern mit Britta gesessen, in jener kurzen Spanne, in der man auf diesen sogenannten Bänken überhaupt sitzen konnte, diesem Licht des frühen Abends, als das Meer faltenlos und unbewegt wie Blei war, bis die Sonne, es vergoldend, sich langsam gesenkt und es dann am Horizont berührt hatte, schließlich ins Meer eingetaucht war. Es war schön gewesen, und er hatte zu lange hingesehen, so dass ihm die Sonne, als er den Kopf abgewandt hatte, vor Augen geblieben und auch über dem Wald und dann in Brittas Gesicht noch eine Weile aufgeflammt war, selbst als er die Augen geschlossen hatte, war das Leuchten geblieben, ähnlich jener Nachsaison-Blüte der Kartoffel-Rose. Winkler zerrieb das Blatt zwischen den Fingern und warf es weg, zog sich die Kapuze über den Kopf, nahm den durch eine schmale Öffnung zwischen den Dünen führenden Bohlenweg und stapfte dann hinunter zum Strand, der jetzt zum Glück noch menschenleer war, sicher wegen des Wetters, nur fern, wo der helle Sand einen sanften Bogen beschrieb, und eine Wasserlache silbern glänzte, stemmte sich eine Gestalt gegen den Wind, noch war nicht zu erkennen, ob sie näherkam oder sich entfernte. Oder war es nur ein Stück Schwemmholz, das jemand in den Sand gerammt hatte, ein mannshoher Baumstrunk, der Pfosten eines Warnschildes? Hundestrand. FKK-Bereich. Baden auf eigene Gefahr! Er dachte an Britta, die jetzt wahrscheinlich noch im Bad vorm Spiegel stand und sich, so hoffte er, keine Sorgen machen würde, denn es war nicht ungewöhnlich, dass er das Zimmer früher als sie verließ und dann beim Frühstück auf sie wartete. Erst an dem kleinen Ecktisch, der seit ein paar Tagen jeden Morgen in der Pension für sie hergerichtet war, würde sie sein Fehlen bemerken, aber bis dahin war noch Zeit.

Während seine derben, marschfesten Schuhe bei jedem Schritt im weichen Sand versanken, erinnerte er sich, wie sie gestern auf der Bank an der Promenade gedankenverloren den breiten Silberring, er war vor Jahren sein Geschenk zu ihrem Geburtstag gewesen, an ihrem Finger gedreht hatte, als wolle sie damit einen Zauber auslösen. Vielleicht war sie auch nur nervös gewesen, dachte er jetzt, das Krächzen der Krähen im Ohr, doch gestern hatte er den Zauber gefürchtet, der, so jedenfalls war es ihm vorgekommen, bewirken sollte, dass er verschwinde, sich auf der Stelle in Luft auflöse, denn noch nie hatten sie so heftig miteinander gestritten, noch nie nach einem Streit so lange geschwiegen, nur in Gedanken hatte er unentwegt mit ihr gesprochen, sie angefleht, ihn nicht zu verlassen, und dann wortlos seine Hand auf ihre Finger gelegt, als nerve ihn nur ihre Spielerei mit dem Ring. Außerdem, fiel ihm ein, hatte er letzte Nacht von Bergthaler geträumt.

Vom schrillen Schrei der Möwen aufgeschreckt, blieb er stehen und blickte noch einmal zurück, sah, wie sie sich im Tiefflug in den Kampf um ein Stück Brot stürzten, das, von den Krähen verbissen verteidigt, immer wieder über den Asphalt wirbelte. Die Möwen, sich offenbar ihrer Überlegenheit sicher, wirkten dabei seltsam gelassen, während die Krähen, das schwarze Gefieder zerzaust, hektisch mit den Flügeln schlugen, als gestikulierten sie um Hilfe. Dann, als er die Strandkörbe passiert und den in Schwüngen aufgehäuften glitschigen Filz aus Tang und Seegras überstiegen hatte, wurde der Sand dunkler und fest, die Wellen der letzten Nacht hatten ihn verdichtet, bei jedem Schritt quoll Wasser aus dem Boden und bildete vor seinen Fußspitzen kleine blasige Halbmonde, die gleich wieder verschwanden, während sich der Sand in exakt gepressten zackigen Formen, die das grobe Profil seiner Sohlen nachbildeten, von den Schuhen löste und auf seine Spur fiel. Das monotone Rauschen des Meeres klang wie verschlafen, und dann das: Er gehört zu mir, wie mein Name an der Tür. Die Behauptung hatte gestern beim Abendessen die Boxen vibrieren lassen. Pension Seeparadies, die Zimmer waren in Ordnung, das Essen gut, aber diese Musik, es musste das Lieblingslied der Chefin sein, an der Wand hing ein Autogrammfoto der Sängerin, und das Lied fehlte an keinem Abend. Winkler hatte Halbpension gebucht, es gab also kein Entkommen, doch gestern war ihm die Musik lauter und aufdringlicher als an den Tagen zuvor erschienen, was wahrscheinlich an ihrem Schweigen gelegen hatte, das Britta nicht einmal beendete, als am Nachbartisch ein Mann mit dem Löffel im Takt des Liedes gegen sein Weinglas schlug, und das auch noch falsch, was Britta, durch ein Jahresabonnement für die Philharmoniker als Expertin legitimiert, gewöhnlich nicht unkommentiert gelassen hätte. Aber Britta hatte geschwiegen, und während dessen Frau, die Augen halb geschlossen, verträumt den Kopf wiegte, klimperte dieser Kerl ungeniert weiter, pensionierter Lehrer, vielleicht sogar Studienrat a.D., hatte Winkler gestern getippt und sich gefragt, ob man auch ihm das Lehrersein, wie Britta manchmal behauptete, anmerkte, und was er, nach seinem Beruf gefragt, nach diesem peinlichen Auftritt eines mutmaßlichen Kollegen antworten würde. Jetzt waren die Wörter und die Melodie dieses Liedes plötzlich wieder in seinem Kopf und ließen sich nicht vertreiben, Er gehört zu mir, wie mein Name an der Tür. Glaubt man den einschlägigen Ratgebern, müsste man jetzt Kaugummi kauen oder ein Rätsel lösen, guter Rat muss nicht teuer sein, aber er hasste Kaugummis, schon nach ein paar Minuten schmerzten ihm die Kiefergelenke und der fade Geschmack ekelte ihn, und dann wusste man nicht wohin mit dem klebrigen Rest, seine Schüler klebten ihn einfach unter die Bänke, es war widerlich. Er hätte jetzt gern geraucht, aber der Wind …, also suchte er in der Ferne nach der Gestalt, die zu allem Überfluss tatsächlich näherkam, wenngleich noch immer kaum mehr zu erkennen war als jener krampfhaft erhobene Arm, dessen Hand offenbar einen Hut festhielt, und Winkler sich fragte, wer denn heute noch und dann bei diesem Wind einen Hut trug? War das schon das rettende Rätsel gegen den Ohrwurm? In den letzten Tagen hatte er in den Morgenstunden gelegentlich ein paar Gassigeher getroffen, die hoffnungsfroh kleine schwarze Plastiktüten in der Faust hielten oder nach erledigtem Geschäft wie Handgelenkstäschchen am gekrümmten Zeigefinger baumeln ließen, während die Hunde gern seine Hosenbeine beschnupperten oder gar mit ihren dreckigen Pfoten und sabbernden Schnauzen hechelnd an ihm hochsprangen, Er gehört zu mir, wie mein Name an der Tür, was die zugehörigen Frauchen oder Herrchen natürlich amüsierte, und ganz selbstverständlich, sind sie nicht süß!, erwarteten sie auch von ihm, dass er den kläffenden Vierbeinern den Nacken kraulte oder wenigstens ein vernehmbares Zeichen der Freude und Anerkennung zeigte. Oder die Jogger, die, in ihren knallbunten Outfits zukünftigen Olympioniken ähnlich, keuchend vorbeitrabten oder sich in schlabbrigen T-Shirts als Werbebotschafter ihrer Kreissparkasse oder des örtlichen Getränkehändlers quälten, wobei sie dafür, man will mit seiner Botschaft ja...



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