Buch, Deutsch, 333 Seiten, Format (B × H): 139 mm x 216 mm, Gewicht: 422 g
Theorie und Geschichte einer Wissensform
Buch, Deutsch, 333 Seiten, Format (B × H): 139 mm x 216 mm, Gewicht: 422 g
ISBN: 978-3-593-50102-4
Verlag: Campus Verlag GmbH
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Philosophie Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsphilosophie
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften: Allgemeines Wissenschaften: Theorie, Epistemologie, Methodik
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften: Allgemeines Wissenschaftliches Arbeiten, Studientechnik
- Sozialwissenschaften Pädagogik Berufliche Bildung Wissenschaftliches Arbeiten, Studientechnik
Weitere Infos & Material
InhaltEinleitungFall, Wissen, Repräsentation - Epistemologie und Darstellungsästhetikvon Fallnarrativen in den Wissenschaften vom MenschenSusanne Düwell/Nicolas Pethes 9MedizinObservatio und Casus: Status und Funktion dermedizinischen FallgeschichteVolker Hess 34Geschichten aus der KlinikMarietta Meier 60RechtDer Fall in der Jurisprudenz - Zwischen Einzelfallentscheidungund systembildendem Baustein: SchulFÄLLE, EinzelFALLentscheidung und FALLweise Fortentwicklung des RechtsHans Kudlich 82Atropos - Die Acta Marien Louysen Papin von 1743Michael Niehaus 100PhilosophieKasuistik in der Bioethik: Der Fall als Methode ethischer ReflexionMarcus Düwell 121WissenschaftsgeschichteWenn p, was dann? In Fällen denkenJohn Forrester 139PsychoanalyseFälle, Ausfälle, Sündenfälle - Zu den Krankengeschichten FreudsMai Wegener 169SozialforschungZum Fall des Falles - Fallrekonstruktionen in der interpretativenSozialforschung: Dialogarbeit als biographische Arbeit:Der Fall der jüdischen Israeli EllaNicole Witte 195Fallforschung als Praxisreflexion - Pädagogischer Fall underziehungswissenschaftliche KasuistikRoswitha Staege 214Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden - Mündlich erfragte Fallgeschichten als Quellen historischer ForschungUlrike Jureit 227LiteraturZu einer Poetologie literarischer FallgeschichtenMarcus Krause242Von "hässlichen Tazzelwürmern" und "heiteren Blumenketten":Adalbert Stifters Abdias und Gottfried Kellers Ursula im Spannungsfeld von Fallgeschichte und NovelleDaniela Gretz 274Populärkultur und MedienPopuläre Falldarstellungen in Zeitschriften der Spätaufklärung:Der spektakuläre Fall des "Menschenfressers" GoldschmidtSusanne Düwell 293Fallerzählungen in Serie - am Beispiel von Die Super NannyNatalie Binczek 315
Fall, Wissen, Repräsentation - Epistemologie und Darstellungsästhetik von Fallnarrativen in den Wissenschaften vom MenschenSusanne Düwell/Nicolas PethesDer 'Fall' ist in den letzten Jahren mit erstaunlicher Vehemenz in den Fokus der wissenschaftstheoretischen und -geschichtlichen Aufmerksamkeit gerückt. Wie oft ist das eigentlich Bemerkenswerte an einer solchen Konjunktur, dass es so lange gedauert hat, bis die zentrale Funktion von Fallbeispielen, Fallstudien und Fallgeschichten für die modernen Wissenschaften vom Menschen Gegenstand der Forschung wurde. Erst die Infragestellung übergreifender theoretischer Systeme in der philosophischen Debatte sowie die wachsende Aufmerksamkeit für rhetorische und mediale Formen im Prozess der Wissensbildung haben in den vergangenen Jahrzehnten die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Relevanz singulärer Evidenzen, medialer Aufzeichnungspraktiken und narrativer Strukturen für die moderne Wissenschaftskommunikation gewürdigt und diskutiert werden kann. Fälle sind aus dieser Perspektive gewissermaßen 'kleine Erzählungen', die bereits im Zeitalter der 'großen Erzählungen' weit mehr als exemplarische Veranschaulichungen umfassender Theoriegebäude waren, im Rahmen von Ansätzen wie emplotment of history (Hayden White), rhetoric of science (Alan Gross), inscribing science (Timothy Lenoir) und narrative medicine (Rita Charon) aber zunehmend als eigenständiger Untersuchungsgegenstand wahrgenommen werden.Der vorliegende Sammelband nimmt diesen wissensgeschichtlichen Kontext in den Blick, um in Gestalt eines systematischen Aufrisses zu entfalten, was unter dem Begriff des 'Falls' verstanden wird und welche Funktionen mit der Verwendung von Fällen verbunden werden. Auch wenn dieser Aufriss ein Panorama der verschiedenen akademischen Disziplinen eröffnet, die mit Falldarstellungen arbeiten, so ist seine Absicht keineswegs nur wissenschaftshistorischer Natur. Vielmehr geht es darum, auf die eminente Bedeutung hinzuweisen, die dem Fall bis in die bio-, technik- und sozialwissenschaftlichen Diskurse der Gegenwart zukommt. Denn auch wenn die Methodendiskussion der Sozialforschung im 20. Jahrhundert immer wieder auf die mangelnde Repräsentativität exemplarischer Einzeluntersuchungen hingewiesen hat, erweist sich der Ausgang vom Einzelfall in einer ganzen Reihe von Wissens- und Praxisfeldern weiterhin als zentral.Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes ist die Annahme, dass diese anhaltende Relevanz von Einzelfällen für das Selbstverständnis der Humanwissenschaften überaus voraussetzungs- und folgenreich gewesen ist. Insbesondere die moderne Semantik des Individuums verdankt sich nicht nur philosophischen Reflexionen, sondern auch den materiellen Praktiken der Protokollierung, Archivierung und Publikation von Fällen in den ver-schiedenen Institutionen der modernen Wissenschaft und Verwaltung. Vor diesem Hintergrund wird man diese Fälle nicht als eine mehr oder minder austauschbare Darstellungsweise für ein unabhängig von diesen Darstellungen verhandelbares Wissen betrachten. Vielmehr handelt es sich um eine zentrale Repräsentations- und Wissensform, die in den vergangenen 250 Jahren eine bislang erst in Ansätzen in den Blick genommene Menge an Papieren, Texten und Daten hervorgebracht hat, deren Analyse für eine Reflexion der modernen Humanwissenschaften, die sich nicht als bloße Ideengeschichte versteht, unumgänglich ist: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts - so unsere Ausgangsüberlegung - hat sich der Fall als spezifische Wissensform der Humanwissenschaften etabliert und bis heute beruhen das theoretische Wissen über Menschen wie die Grundlegung praktischer Entscheidungen, die sie betreffen, zu einem großen Teil auf einem in die verschiedenen Filiationen der sich ausdifferenzierenden Einzeldisziplinen verzweigten Archiv von Fällen - von der Pädagogik, Psychologie und Gerichtsmedizin über Psychiatrie, Sexualwissenschaft und Psychoanalyse bis hin zu Ethnologie und Soziologie.