Faust / Kädtler / Wolf | Finanzmarktkapitalismus? | Buch | 978-3-593-50174-1 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 8, 412 Seiten, Format (B × H): 139 mm x 213 mm, Gewicht: 510 g

Reihe: Labour Studies

Faust / Kädtler / Wolf

Finanzmarktkapitalismus?

Der Einfluss von Finanzialisierung auf Arbeit, Wachstum und Innovation

Buch, Deutsch, Band 8, 412 Seiten, Format (B × H): 139 mm x 213 mm, Gewicht: 510 g

Reihe: Labour Studies

ISBN: 978-3-593-50174-1
Verlag: Campus Verlag GmbH


'Finanzmarktkapitalismus' fungiert als Chiffre für tief greifende Veränderungen in Wirtschaft, Unternehmen und Arbeitswelt. Mit dem Fokus auf Wachstum und Innovation werden in diesem Buch kontroverse theoretische Positionen und empirische Befunde in Bezug gesetzt, um die Debatte über das Zusammenspiel von Finanzmärkten, Finanzmarktakteuren, Unternehmen und Arbeitswelt voranzubringen.
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Weitere Infos & Material


Inhalt

Vorwort 7

Finanzmarktkapitalismus? Problemaufriss und Einführung 9

Michael Faust, Jürgen Kädtler, Harald Wolf

Das (nicht nur) finanzialisierte Unternehmen - Ein konzeptioneller Vorschlag 33

Michael Faust und Jürgen Kädtler

Finanzialisierung als Mehrebenenphänomen:

Chancen und Probleme einer soziologischen Erklärung 101

Christoph Deutschmann

Die Grenzen der Finanzmärkte 123

Klaus Kraemer

Innovatives Unternehmen oder Sweatshopökonomie?

Auf der Suche nach den Grundlagen ökonomischer Analyse 155

William Lazonick

Finanzmarktakteure und Innovationen - Wie beobachten

und bewerten (Aktien )Fondsmanager und Analysten die Innovationsfähigkeit von Unternehmen? 225

Jürgen Kädtler, Rüdiger Mautz, Michael Faust

Die Konstellationen externer Einflussnahme beim

börsennotierten Unternehmen 269

Michael Faust

Innovationen und Finanzmarkt 333

Hartmut Hirsch-Kreinsen und Katrin Hahn

Innovationsarbeit und Finanzialisierung.

Zum Arbeits- und Organisationswandel in der industriellen

Forschung & Entwicklung 361

Harald Wolf

Arbeit als Investitionsobjekt - Finanzialisierung

und die Externalisierung von Innovationsarbeit 389

Hajo Holst

Autorinnen und Autoren 411


Vorwort

Dieses Buch hat eine längere Vorgeschichte. Der entscheidende Auslöser für das Buchprojekt war die Tagung "Finanzmarktkapitalismus - Arbeit - Innovation", die das Soziologische Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) am 11. und 12. März 2013 im Rahmen seiner Jahrestagungen "SOFI - Work in Progress" in Göttingen veranstaltete. Eine wesentliche Grundlage bildete zudem das von der Hans-Böckler-Stiftung am SOFI geförderte Forschungsprojekt "Finanzmarktorientierung und Mitbestimmung", auf dessen Ergebnisse sich die Herausgeber bei der Konzipierung und Strukturierung der Tagung stützen konnten.

Das Buchprojekt nahm den Impetus der Tagung auf, um ihn durch die Ausarbeitung von Diskussionsbeiträgen fruchtbar zu machen und das Konzipieren neuer Beiträge weiterzuentwickeln. Ziel war es, nicht eine weitere Aneinanderreihung thematisch lose verbundener Einzeltexte zum Thema zu präsentieren, die mit gleichem Ertrag auch in beliebiger anderer Kombination stehen könnten. Angestrebt haben wir vielmehr, die unterschiedlichen, in wichtigen Punkten kontroversen Ansätze und Deutungen der aktuellen und absehbaren Rolle von Finanzmärkten und Finanzmarktorientierung(en) im Rahmen der aktuellen und absehbaren kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung miteinander ins Gespräch zu bringen - fokussiert auf die Frage nach Arbeit und Innovation jenseits der Finanzsphäre. Nicht Klärung von Fronten, sondern Lernen aus Kontoversen sollte im Mittelpunkt einer gemeinsamen Anstrengung von AutorInnen und Herausgebern stehen. Ob und in wieweit das gelungen ist, müssen letztlich die LeserInnen des vorliegenden Ergebnisses entscheiden.

An den Herausgebern ist es zunächst einmal, zu danken. Dieser Dank gilt an erster Stelle den AutorInnen, die sich im Rahmen des langwierigen Prozesses der aufeinander abgestimmten Konzeption, Erstellung, Diskussion und Überarbeitung ihrer Beiträge bereitwillig und engagiert auf das diskursive Projekt eingelassen haben. Dank gilt darüber hinaus den Institutionen und Förderern, ohne die das Projekt nicht hätte angegangen und realisiert werden können: dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur, das Tagung und Publikation im Rahmen seines Programms "ProNiedersachsen" bezuschusst hat; der Hans-Böckler-Stiftung, die das zugrunde liegende Projekt am SOFI materiell und durch inhaltliche Begleitung gefördert hat und hier insbesondere dem zuständigen Referenten Dr. Stefan Lücking für sein großes inhaltliches Engagement und seine fast noch größere Langmut angesichts immer wieder revidierter Endtermine; schließlich Frau Dr. Wilke-Primavesi vom Campus-Verlag, die sich für das Buch eingesetzt hat und der wir ebenfalls allerhand an Terminrevisionen zugemutet haben. Herzlichen Dank dafür.

Unser ganz besonderer Dank gilt jenen unsichtbaren Händen und Köpfen, ohne die gar nichts ginge und ohne die auch dieses Buch - wie viele andere Publikationen - nie zustande gekommen wäre, die aber in keinem Inhaltsverzeichnis auftauchen. Namentlich genannt sei hier zum einen Lukas Thamm, der weit über seine Ko-Autorenschaft hinaus mit der Übersetzung des Aufsatzes von William Lazonick, dem Lektorieren von Beiträgen, der Erstellung von Literaturlisten usw. maßgeblich zur Fertigstellung des Buches beigetragen hat. Und dieser besondere Dank gilt zum andern - wie schon so oft - Erika Beller, die mit großer Kompetenz unter widrigen Verhältnissen die Druckvorlage erstellt und damit einen der härtesten Jobs im Rahmen dieses Buchprojekts bewältigt hat - und die trotzdem noch freundlich mit den Herausgebern spricht.

Göttingen, im September 2016

Michael Faust, Jürgen Kädtler, Harald Wolf

Finanzmarktkapitalismus? Problemaufriss und Einführung

Michael Faust, Jürgen Kädtler, Harald Wolf

1. Finanzialisierung: Ein Epochenphänomen?

Leben, wirtschaften und arbeiten wir gegenwärtig im "Finanzmarktkapitalismus"? In den 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts gab es die ersten Aufsehen erregenden Meldungen, die eine solche neue Lage anzuzeigen schienen. Da war zu lesen, dass gestandene Topmanager deutscher Traditionsunternehmen auf bisher unbekanntem Terrain Londoner Investorenkonferenzen von jungen MBA-Absolventen "gegrillt" wurden. Jürgen Schrempp, später "Mister Shareholder Value" genannt, folgte bei Daimler-Benz Edzard Reuter und erfüllte prompt die Forderungen der Investoren und Analysten, vom "integrierten Technologiekonzern" seines Vorgängers Abschied zu nehmen und sich auf das "Kerngeschäft" Automobil zu konzentrieren. Mit der anfangs viel gepriesenen "Hochzeit im Himmel" mit dem drittgrößten amerikanischen Automobilunternehmen Chrysler stiegen auch die Möglichkeiten für CEOs (wie die bisherigen Vorstandsvorsitzenden bzw. Sprecher des Vorstands nunmehr auch im deutschen Sprachraum oft schon genannt wurden), exorbitante Gehaltsteigerungen, namentlich durch Aktienoptionsprogramme zu erzielen, die mit dem KonTraG von 1998 nun auch in Deutschland erlaubt wurden. Jürgen Schrempp war auch hier der Vorreiter, der durch die Fusion in "himmlische" Einkommenshöhen aufstieg. Wie man ein börsennotiertes Unternehmen angesichts der "neuen Eigentümer" zu führen habe und wie man es "unternehmenswert" macht, verkündeten nach Alfred Rappaport (auf Deutsch erstmals 1994 erschienen), dem ersten Hohepriester des "Shareholder Value", bald alle namhaften international tätigen Unternehmensberatungen (Froud u.a. 2006), die auch in Deutschland ein neues Betätigungsfeld hierfür fanden. Aber auch für den "Mann auf der Straße" schienen sich die Zeiten zu ändern. Nicht nur dass nun täglich auf allen Nachrichtenkanälen die Börsenkurse als Ticker mitliefen und Börsensendungen (bis heute: Börse vor acht) eingeführt wurden, an der Börse mitzumischen schien auch ein für jedermann gangbarer Weg zu schnellem Reichtum. Zeitgenossen erinnern sich noch an Freunde, die sich plötzlich teure Fernreisen leisten konnten, weil sie (im Nachhinein betrachtet rechtzeitig) ein paar Aktien vormals unbekannter "new economy"-Unternehmen wieder losgeschlagen hatten. Die boomende "Volksaktie" der Deutschen Telekom beförderte auch die Ideen und dann die politische Bereitschaft, die dröge, (zumindest aktuell dem Augenschein nach) unnötig ertragsschwache umlagefinanzierte Rente auf Kapitaldeckung umzustellen. "Uralt" erschien auch für eine gewisse Zeit die traditionelle deutsche Industrie, war doch in den Hochzeiten der Internet-Euphorie nahezu die gesamte deutsche Automobilindustrie, sofern sie als börsennotiertes Unternehmen überhaupt einen Marktwert hatte, zum Preis eines Internet-Emporkömmlings wie AOL zu kaufen.

Das Platzen der Internet- oder "New Economy"-Blase war nicht nur Anlass zur Schadenfreude bei Freunden der Bundesschatzbriefe oder konservativer Lebensversicherungen gegenüber den (oft nur kurzzeitig) neureichen Freunden der Aktie, sie entpuppte sich auch als eine veritable Wirtschaftskrise (Brenner 2002), die auch die Wahrnehmung des Börsengeschehens drehte. Nun wurde die "hässliche" Seite des Börsenbooms, des Aufstiegs der "neuen Eigentümer" aus der Finanzwelt und des Rückzugs der stabilisierenden Kräfte aus der alten Deutschland AG registriert. "Der Aktienkurs eines Unternehmens steigt, wenn die Unternehmensführung Personalabbau ankündigt". Meldungen dieser Art alarmierten die Öffentlichkeit. Nicht nur, dass "Jedermann" an der Börse nicht so einfach reich werden konnte, man konnte auch noch seinen Arbeitsplatz verlieren, wenn das Unternehmen, bei dem man beschäftigt war, nicht so spurte, wie die Börse das erwartete. Ob nun die Börsenbewertung von Unternehmenspolitiken ursächlich für unerwünschte Beschäftigungseffekte war oder nicht, nur eine sichtbarere Begleitmusik als bisher lieferte oder womöglich einen Verstärkereffekt zu kurzfristigem Krisenmanagement ausübte, blieb weiterhin strittig (vgl. Faust u.a. 2007). Aber es verdichteten sich die Anzeichen, dass die Börsenentwicklung mit ihren eigenen Beobachtungs- und Bewertungsmaßstäben und die "neuen Eigentümer" die Unternehmenspolitiken beeinflussen und darüber Arbeit und Beschäftigung. Da man gleichzeitig, begünstigt und ermöglicht durch gesetzliche Liberalisierung, eine Zunahme von prekärer Arbeit etwa in Form von befristeten Arbeitsverträgen oder Leiharbeit beobachten konnte, entstand eine Diagnose in der Art eines Syndroms wie aus der Medizin bekannt: gemeinsames Auftreten verschiedener Symptome, deren ursächlicher Zusammenhang, also die "Ätiologie", zumindest vermutet werden kann, deren Entstehung und Entwicklung, die "Pathogenese", aber nicht bekannt ist. Seither beginnen auch die arbeits- und wirtschaftssoziologischen Bemühungen der Aufklärung der "Pathogenese". Diese Bemühungen wurden schnell vor neue Herausforderungen gestellt, denn mit der Weltfinanzkrise mit ihren vielfältigen, verzweigten Erscheinungsformen und komplexen und (erst einmal) unklaren Verursachungen wurde das Syndrom, das gleichzeitige Auftreten verschiedener Symptome mit vermuteten Zusammenhängen, vielschichtiger und folglich auch die Aufklärungsarbeit der Pathogenese anspruchsvoller. Erst einmal führte dies dazu, dass sowohl in der kritischen Öffentlichkeit als auch in den an Diagnose und Aufklärung beteiligten Sozialwissenschaften der zuvor schon geläufige Begriffe Finanzmarktkapitalismus und Finanzialisierung mit neuen Bedeutungen ausgestattet wurden. Seither geht es nicht mehr nur um die Veränderungen auf der Unternehmensebene und an den Aktienbörsen, die als "Shareholder Value Ökonomie" bezeichnet wurden, sondern genereller um den Aufstieg der Finanzindustrie, um andere Finanzmärkte und -produkte als nur die Aktie und insgesamt um die dramatisch angestiegene Instabilität des Finanzsystems, speziell der Banken mit systemischen Folgen für die Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. "Finanzmarktkapitalismus" und "Finanzialisierung" werden so noch mehr zu Umbrella-Begriffen, zu "Signaturen der Epoche", eine Kennzeichnung, die nicht lange davor dem Netzwerk bzw. der Netzwerkgesellschaft zukam (Wolf 2000). Finanzialisierung und Finanzmarktkapitalismus entwickeln so eine Bedeutungsschwere und Suggestionskraft wie zuvor schon Globalisierung und Neoliberalismus. Bei manchen Autoren werden diese Begriffe nahezu synonym verwendet, da der "Siegeszug der Märkte" nunmehr mit dem Siegeszug der Finanzmärkte gleichgesetzt wird, bei anderen bleibt Finanzialisierung eine besondere Erscheinungsform von Neoliberalismus und Globalisierung, ist aber gleichursprünglich. Je größer die Projektionsfläche des Begriffs, desto unschärfer wird er aber zugleich und sein analytisches Potential schwindet. Damit schlagen sich die Sozialwissenschaften nun schon seit geraumer Zeit herum. Aus verschiedenen Gründen, auf die wir gleich zu sprechen kommen, halten wir die bisherigen Bemühungen zur Klärung von Kontroversen für noch nicht ausreichend (zu einem ersten Anlauf zur Kritik vgl. Faust u.a. 2011: 395-447; Kädtler 2010, 2012).

2. Problemdimensionen und begriffliche Vorklärungen

2.1 Differenzierung zwischen KontrollFinanzialisierung und Profit-Finanzialisierung

Bevor wir diese Kritikpunkte umreißen, um zu markieren, wo unser eigener konzeptioneller Vorschlag (Faust/Kädtler in diesem Band) und die Beiträge anderer ansetzen, wollen wir eine thematische Unterscheidung vornehmen. Wir halten es für sinnvoll analytisch zu unterscheiden zwischen der Finanzialisierung des Nicht-Finanzunternehmens, die dadurch zustande kommt, dass Unternehmen nunmehr ihre Strategien (auch) gegenüber Kapitalmarktakteuren erklären und rechtfertigen müssen (Froud u.a. 2006) und dem Phänomen (sonstiger) hypertropher Finanzmärkte, der mit wachsenden Anteilen von Finanzinstituten an Wertschöpfung, Beschäftigung und namentlich Profiten einhergeht und auf verschiedenen Wegen zur systemischen Instabilität der gesamten Weltwirtschaft beitragen kann und schon beigetragen hat. Erstere Form der Finanzialisierung wird in der Literatur auch Kontroll-Finanzialisierung genannt, während der andere Phänomenbereich als Profit-Finanzialisierung (Deeg 2011, Krippner 2005, 2011, Faust/Thamm 2015) bezeichnet bzw. unter der Herausbildung eines neuen Akkumulationsregimes rubriziert wird (van der Zwan 2014; Krumbein u.a. 2014).

Kontroll-Finanzialisierung ist weitgehend mit der neuen institutionellen Konfiguration deckungsgleich, die verschiedene Autoren, Paul Windolf (2005) folgend, "Finanzmarktkapitalismus" genannt haben. Wir selbst sowie die meisten in diesem Band versammelten Beiträge fokussieren auf Kontroll-Finanzialisierung bzw. die Varianten des "Finanzmarktkapitalismus", die die Kontrolle der nicht-finanziellen Unternehmen durch Finanzinvestoren zu einem Kernelement machen. Autoren die sich mit Profit-Finanzialisierung oder der Herkunft eines neuen Akkumulationsregimes befassen, setzen breiter an und nehmen insgesamt den hypertrophen Finanzsektor in den Blick (Windolf 2008). Diese Perspektive hat mit der 2008er Weltfinanzkrise und den daran anknüpfenden Ursachenanalysen an Bedeutung gewonnen (vgl. etwa Engelen u.a. 2011, Lounsbury/Hirsch 2010). Die Finanzialisierungsforschung, die ein neues finanzbasiertes Akkumulationsregime im Entstehen sieht, hat im Grunde auch schon zwei Wellen hinter sich: eine erste optimistische Variante entstand in der Aufschwungszeit der Aktienmärkte (Aglietta 2000), eine zweite, seit der Weltfinanzkrise die vorherrschende, die kein neues Wachstumsmodell mehr entdecken kann, sondern in Abkehr von der Gleichgewichtsorientierung der Regulationstheorie im finanzgetriebenen Akkumulationsregime nur noch ein permanentes Krisen- oder Niedergangszenario beschreibt (zur Darstellung und Kritik Krumbein u.a. 2014). Zwischen diesen beiden Phänomenbereichen gibt es je nach näherer Definition Überlappungen bezüglich der betrachteten Phänomene und auf hohem Abstraktionsniveau bzw. langen Vermittlungsketten auch gemeinsame Erklärungsfaktoren (siehe etwa Deutschmann in diesem Band). Dennoch halten wir die beiden Phänomenbereiche für ausreichend abgegrenzt, um getrennte analytische Zugänge zu rechtfertigen. Dass man hierfür analytisch neu ansetzen sollte, wollen wir im Folgenden in einer knappen Zusammenschau wesentlicher Mängel der bisherigen Analysen vor Augen führen.

2.2 Analytische Trennung von Finanzialisierungsphänomenen und Effekten

Den ersten Mangel sehen wir darin, dass die zeitdiagnostische Verwendung des "Finanzmarktkapitalismus", wonach dieser die angemessene Formel zur Beschreibung des Gegenwartskapitalismus darstellt, mit einer festen Verkopplung von Finanzialisierungsphänomenen und bestimmten, meist negativ konnotierten Effekten für Arbeit, Teilhabechancen, Innovations ( fähigkeit) und Wachstum einhergeht. Dies wird durch eine "syndromatische" Redeweise (siehe oben) mehr nahegelegt als nachgewiesen. "Finanzmarktkapitalismus" wird so zu einer "totalen" Epochenbeschreibung, so dass keine Einzelprüfung mehr von Nöten ist, welche Finanzialisierungsphänomene in welcher raum-zeitlichen Ausdehnung tatsächlich gegeben sind und ob und wie sie mit anderen gesellschaftlichen bzw. wirtschaftlichen Merkmalen bzw. Entwicklungen, die ebenfalls raum-zeitlich variieren, in Korrespondenz stehen.

So legen sich Haipeter u.a. (2016) im Buchtitel fest, dass "Arbeit und Arbeitsregulierung (nunmehr) im Finanzmarktkapitalismus" zu erforschen sei, obwohl der Untertitel zu erkennen gibt, dass es notwendig sein könnte, "Chancen und Grenzen eines soziologischen Analysekonzepts" erst einmal auszuloten. Auch Heiner Minssen (2012: 11) schlägt vor, die Gegenwartsgesellschaft als "Finanzmarkt-Kapitalismus" zu fassen, wohl wissend, dass auch andere aspekthafte Auszeichnungen etwa als "Wissensgesellschaft" oder "Risikogesellschaft" möglich wären, "weil das Begreifen der modernen Gesellschaft als Finanzmarkt-Kapitalismus besonders geeignet scheint, die Veränderungen in der Arbeitswelt zu erklären". Der Schlüssel für diese Verknüpfung ist für Minssen die "Shareholder-Value-Orientierung", die sich auf der Ebene der Organisationen, in denen Arbeit überwiegend erbracht wird, durchgesetzt habe und vorherige pluralere Orientierungen an diversen Stakeholder-Interessen abgelöst habe. Gerd Schmidt (2010: 141) zitierend steht für Minssen nunmehr fest: der strategische Zugriff auf Arbeit habe sich "kategorial" verändert (Minssen 2012: 11). In wechselnden Begrifflichkeiten (Finanzkapitalismus, Finanzmarktkapitalismus, finanz-kapitalistische Landnahme) geht auch Klaus Dörre davon aus dass die neue Phase kapitalistischer Entwicklung nunmehr durch eine finanzkapitalistische Rückeroberung im Fordismus verloren gegangenen "Landes" in Gestalt des Sozialstaats und geschützter Arbeitsmärkte gekennzeichnet ist (Dörre/Haubner 2012: 74ff). Auch bei ihm ist die finanzkapitalistische Landnahme mit den in der Arbeitssoziologie gängigen Kennzeichnungen des Wandels "Vermarktlichung", "Entgrenzung" und "Subjektivierung" eng verknüpft, namentlich mit den negativ konnotierten Effekten. "Funktionierender Finanzmarktkapitalismus und diskriminierende Prekarität (sind) zwei Seiten einer Medaille" (Dörre 2009: 59). Haipeter (2016: 17) formuliert ganz ähnlich, wenn er behauptet, dass es zwischen den Institutionen des "Finanzmarktkapitalismus" und der Arbeit (Arbeitsorganisation und Arbeitsregulierung) ein "neues Ensemble institutioneller Entsprechungsverhältnisse" (Haipeter 2016: 17) gibt.

Den im Ergebnis als "Finanzmarktkapitalismus" titulierten Wandel beschreiben verschiedene Autoren auch als "(Kontroll-)Finanzialisierung". Froud u.a. (2006) wählen diesen Prozessbegriff ausdrücklich, um eine Vorab-Festlegung auf eine neue Formation des Kapitalismus zu vermeiden, der wie in den oben skizzierten Festlegungen bei Haipeter, Minssen und Dörre über "Entsprechungsverhältnisse" immer schon mit einem definierten Set von Konsequenzen verbunden ist. "Financialization is not associated with one invariant set of consequences in terms of firm performance or management behaviour" (ebd.: 7), etwa dass der Siegeszug des Shareholder Value mit einer Umstellung von "retain and invest" auf "downsize und distribute" verbunden ist, wie Lazonick und O'Sullivan (2000) für die USA argumentiert hatten. Vielmehr hat Finanzialisierung "effects that are conjunctural, contradictory and non-totalising" (Savage and Williams 2008: 9).

2.3 Prozessbegriff statt Formationsbegriff: gradueller Wandel und Reversionen möglich halten

Aus diesem Grund bevorzugen wir (Kädtler 2012, Faust/Thamm 2015) selbst auch den Begriff der Finanzialisierung; er hat offenbar nicht die gleiche Verführungskraft wie der Formationsbegriff. Dessen zweiter Mangel besteht darin, dass er unwillkürlich Wandel gewissermaßen einfriert; wenn wir einmal definitorisch im Finanzmarktkapitalismus angelangt sind, ist ein Set von strukturellen Merkmalen (und oft Effekten) gegeben. Finanzialisierung eignet sich als Prozessbegriff hingegen besser zur Beschreibung graduellen Wandels, der in einem spannungsreichen Verhältnis zu anderen Wandlungsprozessen und/oder Kontinuitäten stehen kann. Prozessbegriffe sind auch besser geeignet, Wandlungsprozesse denkmöglich zu halten, in denen Wandel in eine Richtung nicht notwendigerweise zu einem Umkipppunkt in eine neue Formation fortschreiten muss. Durch Erlahmen des Momentums bzw. Gegenbewegungen kann eine einmal eingeschlagene Richtung des Wandels auch wieder revidiert werden (für eine entsprechende empirische Einlösung siehe Faust/Thamm 2015). Somit leitet die Prozessperspektive auch offenere Suchbewegungen der wissenschaftlichen Beobachter an.

2.4 Finanzialisierung mehrdimensional analysieren statt willkürlicher Merkmalsauswahl

Finanzialisierung (auch in der engeren unternehmensbezogenen Variante) hat mittlerweile einen breiten Bedeutungshorizont. Froud u.a. (2006) fassen (wie erwähnt) als Finanzialisierung den neuen Umstand, dass das Management börsennotierter Unternehmen den Kapitalmarktdruck in seinen Strategien und den darauf bezogenen "Erzählungen" berücksichtigen muss und nicht nur - wie in den vorherrschenden Konzeptionen des strategischen Managements vorgesehen - die Produktmarktkonkurrenz. Vollmer verwendet einen zugleich weiteren und engeren Begriff von Finanzialisierung. Er (2012: 88) versteht unter Finanzialisierung eine spezifische Ausrichtung individueller Akteure. Sie entsteht "als Resultat der vielfachen Verwendung von und Orientierung an Finanzzahlen in sozialen Situationen und den lokalen Verhaltensordnungen, die aus diesen Verwendungskontexten erwachsen". Dadurch wird Finanzialisierung ein viel breiteres Phänomen, da es in verschiedenen organisationalen Kontexten (nicht nur in Organisationen der Wirtschaft, geschweige denn nur in börsennotierten Unternehmen), sondern auch in alltäglichen, "organisationsfreien" Handlungssituationen vorkommen kann. Sofern es um organisationale Kontexte geht, ist eine so definierte Finanzialisierung auch nicht an spezifische strukturelle oder institutionelle Faktoren gebunden wie bei Froud u.a. (2006) oder im Konzept des "Finanzmarktkapitalismus" nach (Windolf 2005), nämlich börsennotierte Unternehmen und institutionelle Finanzanleger. Dadurch ist der Begriff bei Vollmer auch zugleich enger, denn es muss nur das eine Kriterium erfüllt sein. Die Orientierung an Finanzkennzahlen reicht hier aus, Börsennotierung und Finanzinvestoren als Eigentümer und/oder diese ermächtigende institutionelle Regeln müssen nicht hinzutreten. Unter den Autoren, die Finanzmarktkapitalismus für eine geeignete Formationsbezeichnung für den gegenwärtigen Kapitalismus in Deutschland halten, gibt es ebenfalls keine allseits geteilte Definition. Oft werden für einzelne Untersuchungen ausgewählte Merkmale herangezogen (zum Beispiel an Finanzkennzahlen orientierte Steuerungssysteme), die dann unter der Hand zum definierenden Merkmal für Finanzmarktkapitalismus werden. Haipeter u.a. (2016) unternehmen in ihrem Sammelband den ambitionierten und begrüßenswerten Versuch, langjährige Forschung zu verschiedenen arbeits- und industriesoziologischen Themen in der nunmehr für gültig gehaltenen Rahmung "Finanzmarktkapitalismus" zu reinterpretieren. Dies geschieht durchaus detailreich und differenziert. Sie teilen aber das Problem, dass die Rahmung Finanzmarktkapitalismus selbst ein "moving target" bleibt. Im konzeptionellen Eingangskapitel nimmt Haipeter (2016) eine Definition vor, die für die Buchbeiträge und die einzelnen Phänomene als Rahmung dienen soll. Aus einer Literaturexegese gewonnen, lassen sich ("zumindest"!) fünf Merkmale bestimmen, die den Finanzmarktkapitalismus ausmachen: (1) Übersparen, d.h. ein struktureller Überschuss des Sparens gegenüber dem Investieren, (2) neue Finanzakteure als Kapitalsammelstellen und zugleich neue Eigentümer der Unternehmen, (3) Wandel der Kontrollform vom Insider- zum Outsidersystem und eng damit zusammenhängend Veränderungen der Corporate Governance, hier gemeint als Ensemble von institutionellen Regeln und neuen Orientierungen im Interesse der Shareholder, (4) eine Finanzialisierung der Unternehmenssteuerung und (5) die Messung des Unternehmenswerts auf der Basis der Definition einer Mindestrendite (ebd.: 19-25). Neben diversen Ungereimtheiten im Einzelnen bleibt in dieser Definition ungeklärt, ob nur dann der Finanzmarktkapitalismus als gegeben angesehen werden soll, wenn alle diese fünf Merkmale zugleich erfüllt sind bzw. ob es einen Mindesterfüllungsgrad bestimmter Merkmale geben muss, damit man von einem Formationswandel sprechen kann. Der Beitrag enthält sich jeder Aussage hierzu und die sich darauf beziehenden Beiträge sehen sich dann in der (nur vordergründig) komfortablen Lage, jeweils für sich zu bestimmen, auf welche Merkmale der/die Autor/in abheben will und welche "Entsprechungsverhältnisse" zwischen Merkmalen des so definierten Finanzmarktkapitalismus und Arbeit und Arbeitsregulierung er oder sie nachgehen will (vgl. Faust/Thamm 2015). Wenn man eine enge Definition wählt, in der immer alle fünf Merkmale erfüllt sein müssen, dann trifft "Finanzmarktkapitalismus" in Deutschland nur für einen zwar zeitweise gewachsenen, insgesamt aber begrenzten Ausschnitt der Wirtschaft zu, nämlich die börsennotierten Unternehmen in institutionellem Streubesitz. Diese Engführung trifft sich mit der Definition bei Windolf (2005a). Es bleibt offen, ob das so gemeint ist oder ob man "Finanzmarktkapitalismus" auch analysieren kann, wenn etwa nur Merkmal (4), die Finanzialisierung der Unternehmenssteuerung gegeben ist. Forscher sind gewiss frei darin, wie sie "Finanzialisierung" definieren (wovon reichlich Gebrauch gemacht wurde). Wir plädieren hier erst einmal dafür, die jeweils gewählten Kriterien und ihr Verhältnis zueinander offen zu legen. Hierfür präsentieren Faust/Kädtler (in diesem Band) einen Vorschlag zur Systematisierung, der Finanzialisierungsphänomene in einer allgemeineren (handlungs-)theoretischen Rahmung. Beckert (2010) folgend unterscheiden sie dort zwischen einer strukturellen (im Sinne von Netzwerkstrukturen), institutionellen und kognitiv-kulturellen Einbettung wirtschaftlichen Handelns bzw. von Organisationen der Wirtschaft. Diese theoretische Rahmung erlaubt es auch, den Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Dimensionen der Einbettung in einem jeweiligen Feld auf Basis allgemeinerer soziologischer Einsichten systematischer nachzugehen. Andere Beiträge in diesem Band greifen solche Unterscheidungen ebenfalls auf, wenn auch in abgewandelter begrifflicher Fassung (Kraemer in diesem Band). So sind für Hirsch-Kreinsen/Hahn (in diesem Band) die Rechtsformen und Eigentumsstrukturen von Unternehmen und die damit verbundene Kapitalmarkexposition der Ausgangspunkt ihrer Typologie von Innovationsstrategien.


Michael Faust, Diplom-Volkswirt und Soziologe, ist wiss. Mitarbeiter am Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI) Göttingen und Privatdozent an der Universität Göttingen. Jürgen Kädtler ist geschäftsführender Direktor des SOFI sowie Professor für Soziologie an der Universität Göttingen. Harald Wolf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am SOFI und Privatdozent an der Universität Kassel.


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