Buch, Deutsch, 114 Seiten, GEKL, Format (B × H): 140 mm x 210 mm, Gewicht: 150 g
Theaterstück in drei Akten
Buch, Deutsch, 114 Seiten, GEKL, Format (B × H): 140 mm x 210 mm, Gewicht: 150 g
ISBN: 978-3-86660-203-8
Verlag: Leipziger Literaturverlag
Im Zentrum des Theaterstücks steht die Innenwelt des tragischen Helden Daniel Paul Schreber (1842–1911), insbesondere sein ›Stimmenhören‹. Einmal im höchsten Amt angekommen, sitzt er fortan einsam in seinem Anstaltszimmer und wird ganz Ohr! Die permanente Überwachung der vermeintlich oder wirklich bösen, seelenmörderischen Absichten der anderen hält ihn in Wachheit und Schlaflosigkeit gefangen, einer Art permanenter Wachnarkose! Doch anstatt die feindliche Macht im anderen dingfest zu machen und sie dort durch Gewaltanwendung auszuräuchern – wie jüngst die US-Regierung mit ihrem 'war on terror' – identifiziert er sich nicht mit dem Aggressor. Es geht um Macht, ja, aber nicht, um sie auszuüben über oder gegen andere, sondern sie zu unterlaufen und zu bannen.
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ERSTER AKT
( IN DER SEELENKÜCHE )
Erste Szene
Das Stück beginnt damit, dass Schreber alleine mitten auf der Bühne am Boden sitzt. Die Bühne soll das Ambiente eines kärglich eingerichteten Anstaltszimmers in einem psychiatrischen Krankenhaus an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert evozieren. Der Raum ist ohne jeglichen Komfort, wirkt lieblos und funktional: ein Bett, ein Stuhl, ein kleiner Holztisch, ein kleiner Schrank, eine (Gas)Stehlampe. Schreber in langärmeligem, weissem, fast bis zu den Knien reichenden Unterhemd; trägt alte Militärstiefel, mit lose heraushängenden Schnürsenkeln. Er spielt wie ein Kind am Boden sitzend mit Bauklötzchen, die in grosser Zahl vorhanden sind; vor den Bauch, um den Leib, hat er ein Kissen gebunden, mit einem alten Gürtel oder Lederriemen. Ausserdem hat er einen Lederriemen um den Kopf herum, an dem am Hinterkopf eine rosarote Haarschleife befestigt ist. Schreber baut mit den Bauklötzchen etwas auf, z.B. Turm, Haus etc. etc., wirft dann das Ganze wieder um, im Moment des Zusammenstürzens ein kategorisches ›Da!‹ ausrufend: Umwerfen und Daraufzeigen: ›Da!‹ stellen ein und dieselbe Geste dar. Fängt dann wie ohne Erinnerung – als sei nichts gewesen, d.h. als habe er ›nichts getan‹ oder nichts eingebüsst bzw. verloren – erneut an, das Ganze genau wie zuvor wieder aufzubauen; dieser Vorgang von Aufbauen – Zerstören wiederholt sich etliche Male, wird jedoch von Schreber jedes Mal schneller und mechanischer ausgeführt. Irgendwann fängt Schreber an zu singen,
recht eigenwillig, z.B. in der Art eines Ventriloquisten, oder mit sonstwie stark verfremdeter bezw. verstellter Stimme, und zwar die dritte Strophe des Liedes ›Der Mond ist aufgegangen‹ von Matthias Claudius; er singt zuerst nur die zweite Hälfte, und dann nochmals die ganze Strophe.
Schreber:
Es gibt so manche Sachen
die wir getrost belachen
weil unsre Augen sie nicht sehn.
(zwischendurch sich wiederholende Schmerz-Lust ausdrückende,
klagende Interjektionen, fast in der Art eines
›Brunst‹ leidenden Zungenredners:)
– Eh-je, eh-je! –
Seht Ihr den Mond dort stehen
er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön.
(hält sich den Bauch und wiegt sich)
– Eh-je, eh-je! Eh-je! –
Es gibt so manche Sachen
die wir getrost belachen
weil unsre Augen sie nicht sehn.
– Lo ehje! Lo ehje! –
Schreber: (zu sich bzw. zum Publikum als imaginärem Ansprechpartner) Man weiss immer zu viel und immer zu wenig! – Lo-ehje! Lo-ehje! – Man weiss es immer als erster, und erfährt es immer als letzter. – Eh-je! Eh-je! Eh-je! (wiegt dabei seinen dicken Bauch) – Ich sehe etwas, davon wollt Ihr alle nichts wissen. Ich weiss, wie das alles zusammenhängt, worauf das alles hinausläuft, aber davon sag ich Euch nichts, vorläufig wenigstens. (dreht sich abrupt und demonstrativ zur Seite, sodass die rosarote Haarschleife, die hinten an seinem Kopf angebracht ist, jetzt voll zur Geltung kommt; gleichzeitig stösst er mit der Bewegung etliche der Bauklötzchen um) Da! Die Ordnung der Welt hat einen Rissbekommen! Ich weiss, woher es kommt! (klopft oder trommelt sich auf seinen dicken Bauch) Keiner ahnt etwas! Keiner! Keiner will wissen, worauf es alles hinausläuft. Auf meinen Knieen will ich Euch alle beschämen ob Eurer Unwissenheit. (krabbelt auf allen Vieren brüllend und bellend am Boden herum und auf die Zuschauer zu)
Anstaltsbediensteter: (tritt herein und nähert sich leise von hinten dem jetzt am Boden sitzenden Schreber; spricht in freundlich herablassendem Ton) Der Mensch ist absolut harmlos, ein friedlicher Spinner, ein Spintisierer von eigenen Gnaden!
Schreber: Ich will von jetzt an immer lieber geküsst werden, als selber küssen. Eine richtige Frau sein eben. Eine Frau! (befingert seine Schleife und reibt sich sein glatt rasiertes Kinn; legt sich dann plötzlich der Länge nach am Boden auf den Rücken, sich wollüstig windend) Immer geküsst werden, geküsst werden, geküsst werden.......
Anstaltsbediensteter: Man muss ihn spinnen lassen, bis er sich fängt – im eigenen Netz.
Schreber: Mich in eine Frau zu verwandeln ist ein mühsames, aber nicht müssiges Geschäft (richtet sich wieder auf und zieht gleichzeitig einen Stiefel aus, den er in eine Ecke schleudert), dem ich mich seit einiger Zeit ordentlich unterziehe. Allemal besser als das verfluchte Zyankali! (an den Anstaltsbediensteten sich wendend) Oder! Was! – (wieder zum Publikum) Mein Symbolum heisst von jetzt an: (übers ganze Gesicht strahlend) ›mich in dauernder Empfängniswollust üben oder... oder.... oder...... iiigit (zieht jetzt auch noch den anderen Stiefel aus und wirft ihn verächtlich und vehement von sich) als ein Stück Viril-Fleisch verrotten!‹ Ha?!
Anstaltsbediensteter: (greift sich an die Stirn) Tzzz-tztzzzzz! (sich mockierend) Hirngespinste – aber fein gesponnen!