Primavesi | Das andere Fest | Buch | 978-3-593-38775-8 | www.sack.de

Buch, Deutsch, 587 Seiten, Format (B × H): 150 mm x 220 mm, Gewicht: 883 g

Primavesi

Das andere Fest

Theater und Öffentlichkeit um 1800
1. Auflage 2008
ISBN: 978-3-593-38775-8
Verlag: Campus

Theater und Öffentlichkeit um 1800

Buch, Deutsch, 587 Seiten, Format (B × H): 150 mm x 220 mm, Gewicht: 883 g

ISBN: 978-3-593-38775-8
Verlag: Campus


Mit dem Theater wollte sich das deutsche Bildungsbürgertum des späten 18. Jahrhunderts unterhalten und zugleich moralisch belehren. Wichtig war die Abgrenzung von der höfischen Kultur des repräsentativen Festes wie von den Spektakeln der Volkskultur und den militärischen Festen der französischen Republik. Bei der Suche nach eigenen, bürgerlichen Repräsentationsformen wurde dem Theater häufig die Funktion eines anderen Festes zugeschrieben. Dieses sollte sich selbst reflektieren und dadurch eine kritische Öffentlichkeit hervorbringen in einem gleichwohl exzessiven, vom Alltag verschiedenen Ereignis. Eine wirkliche Überschreitung und Verausgabung wollte die bürgerliche Gesellschaft im Theater aber kaum zulassen. Diese Ambivalenz wird in der vorliegenden Studie erstmals umfassend herausgearbeitet und analysiert, besonders im Hinblick auf die heute wieder akute Frage nach dem Verhältnis von Theater und Öffentlichkeit.

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Weitere Infos & Material


Einleitung: Theater, Fest und Öffentlichkeit

Repräsentation als Problem

Festkultur zwischen Exzess und Ordnung

Theater und Ritual

Schritte der Untersuchung

I. Theatromanie und die Krise des Festes im Theaterroman

Darstellungskrisen

Schauspiel: bürgerliche Passion und sonderbare Anstalt

Theaterroman als anthropologische Versuchsanordnung

Anton Reiser - Hungerkünstler, Prediger und Komödiant

Die Sehnsucht des Bürgers nach dem glänzenden Fest

Krisenerfahrung zwischen Rollenspiel und Performance

Ritualisierung

Wilhelm Meister und die Inszenierung künstlicher Rituale

Initiationszauber: Puppenspiel, Schwelle und Teppich

Die meta-theatralische Sendung der Lehrjahre

Nationaltheater als Phantasma von Öffentlichkeit

Gesellschaftstheater

Das Nichts des Festes - Hypothek der höfischen Kultur

Zeremonialwissenschaft und Repräsentationskritik

Garve 1792 über den Bürger als Schauspieler

Gesellschaftstheater und die Krise des Zeremoniells

Wilhelms katastrophische Theater-Feste

Pädagogisches Nachspiel in den Wanderjahren

II. Öffentlichkeit, Revolution als Schauspiel und anderes Fest

Theatrophobie

Alpträume der Aufklärung: Rousseaus Lettre à d'Alembert

Öffentlichkeit als Schauspiel - das Theater des Herrn Rousseau

Publikum

Die Frage nach dem Publikum: Zur Rezeption des Briefes in Deutschland

Lessings Tragödientheorie zwischen Mitleid und Nationaltheater

Fortsetzung der Frage, nach Rousseau: Was kann ein gutes Publikum eigentlich wirken?

Gemeinschaft und Öffentlichkeit des Theaters bei Sulzer und Schiller

Das Politische

Enthusiasmus: Zur Wahrnehmung der Revolution als Schauspiel und Fest

Aneignung des öffentlichen Raumes in den Aufzügen des Volkes

Feiern der Nation - Militärgemeinschaft unter Aufsicht höchster Wesen

Die Inszenierung der Feste und das Schauspiel der Propaganda

Das andere Fest als Entwurf und Entzug des Politischen

III. Moderne Vorstellungen des antiken Festes

Rückprojektionen

Winckelmanns Fest des nackten Körpers

Archäologie und griechische Kulturgeschichte

Rekonstruktionsversuche

Feste als Einschnitt und Ordnung der Zeit

Opferdarstellung: Verzicht, Genuss und Verpflichtung

Mysterien, obskures Schauspiel und nächtliche Begeisterung

Theatervisionen

Hölderlin: Das Schweigen der alten heiligen Theater

Schelling, Schiller und Schlegel 1803 zur antiken Tragödie

Ursprungsfiktionen, zwischen Mimesis und Opferkult

Dionysien als Gegenwelt und Vorbild des bürgerlichen Theaters

Satyrspiel, Menschenpferde und das Tierwerden des Chors

Reisebilder

Landschaft mit Schatten und imaginären Touristen

Reisen auf der Suche nach dem eigentlichen Schauplatz

Römische Spektakel und Geisterbeschwörung

Ruine des Amphitheaters als Modell von Öffentlichkeit

Feste des Volkes für sich selbst? Karneval und Saturnalien

Circenses, Feste des Opferkönigs und der Toten

Von der Republik zum Museum: ›antiker‹ Triumphzug in Paris

IV. Entwürfe, Festspiele und Szenen für ein anderes Theater

Kompromissbildungen

Theaterbetrieb als kollektive Disziplinierung

Spiegelungen: "… daß das Publikum sich selbst nicht mehr sehen mag"

Maskenzüge zwischen Hofkultur und bürgerlicher Programmatik

Goethes Festspiele - theatralische Versöhnung mit einer neuen Zeit

Selbstdarstellung des Theaters im Zeichen der Geselligkeit

Drama und Fest

Festkrisen und Opferritual als Vorwurf dramatischer Texte

Ansätze allegorischer Festkritik im barocken Trauerspiel

Faust, Drogen und Gespenster: Phantasmagorien des wahren Festes

Das Aussetzen des Opfers im anderen Fest - Iphigenie, Empedokles

Tödliche Hochzeit und das Fest der modernen Tragödie: Penthesilea

Schauspielszenen

Der unheimliche Gast: Fiktionen ritueller Praxis im Schicksalsdrama

Ion und Phaethon - Katastrophische Feste nach Euripides

Familienopfer: Alarcos, Fernando, Ghonorez/Schroffenstein, Ahnfrau

Kriegstheater, Siegesfeiern und Schlachtfeste

Fiesko und Ugolino: Despotismus und Fest im politischen Trauerspiel

Fest, Gewalt und das Drama der Revolution - Tells Mord und Dantons Tod

Komisches Fest: Repräsentationskritik und Spiel in Leonce und Lena

Fazit und Ausblick

Fest und theatrale Öffentlichkeit nach Wagner

Dank

Abbildungen

Literatur


Und jedermann erwartet sich ein Fest - die universelle Formel, die der Theaterdirektor im Vorspiel zu Goethes Faust seinen Mitspielern, dem Dichter und der Lustigen Person wie auch dem Leser und womöglich dem anwesenden Theaterpublikum vorhält, markiert Grund und Abgrund des modernen bürgerlichen Theaters. Immer wieder knüpft sich an das Theater das Versprechen eines Festes, die Unterscheidung vom Alltag, ein Moment der Überschreitung und der Transformation. Die Erwartungen kreisen um die Idee einer im Ereignis erfüllten Gemeinschaft, welche das Theater hervorbringen soll. Voraussetzung dafür ist jedoch ein traditionelles räumliches Dispositiv, das Akteuren und Zuschauern zwar eine gemeinsame Präsenz, aber nur flüchtige und eher distanzierte Begegnungen ermöglicht. So bleibt der Anspruch des Theaters zweideutig, da es das Fest und die Gemeinschaft zugleich verspricht und vorenthält. Diese Ambivalenz ist eng verknüpft mit einem bürgerlichen Verständnis von Kultur, Bildung und Unterhaltung, das die Idee der Verausgabung stets auch als Bedrohung empfunden hat und dementsprechend einschränken wollte.

Seit dem späten 18. Jahrhundert soll das Theater sich als Bildungsanstalt rechtfertigen, gleichzeitig aber als Unterhaltungsbetrieb funktionieren und so dem Ideal einer diskursiven und kritischen Öffentlichkeit entsprechen. Gegenwärtig scheint es fast schon absorbiert zu sein von einer Gesellschaft des Spektakels, der permanenten Feste und Events, die alle geprägt sind durch Elemente theatraler Inszenierung und Performance. Guy Debord erkannte darin das Moment einer Betäubung und illusionären Befriedigung, mit der die ökonomischen und politischen Verhältnisse der Konsumgesellschaft verdeckt werden. Auch Theater vermarktet sich als Event im endlosen Festival einer Medienkultur, die zur Norm von Öffentlichkeit geworden ist und deren weitgehende Funktionalisierung für ökonomische und politische Zwecke manifestiert. Viele Theatermacher entziehen sich mittlerweise aber gerade der Behauptung des spektakulären Ereignisses, arbeiten eher an einer Unterbrechung des Erlebnisstromes, an der Störung gewohnter Wahrnehmungs- und Interpretationsweisen, mithin an einer Kritik des Festes. So gesehen ist der Abstand aktueller Theaterkultur zur Epoche um 1800, in der sie ihre Begründung als bürgerliche Institution erfahren hat, geringer, als es zunächst scheinen könnte. Erneut steht zur Diskussion, was einst etabliert wurde, der Ausgleich zwischen den beiden Seiten des Theaters - Ereignis, Fest und Überschreitung zu sein und doch gleichzeitig auch Reflexion, Diskurs und Kritik.

Schon in Goethes Faust-Vorspiel zeichnet sich die Enttäuschung ab, die mit der Erwartung und dem Anspruch des Theaters als Fest einhergeht. Die Enttäuschung über das ausbleibende oder misslingende Fest ist jedoch als produktives Potential anzusehen, als Aufrechterhaltung eines notwendigen Mangels. Dass die bei jedem verschiedene Vorstellung des Festes im Theater durch keine Verwirklichung eingeholt und vereinheitlicht werden kann, macht das Ungenügen zu einer kollektiven Erfahrung von Zuschauern, die gerade darum nach immer neuen Festformen verlangen. Das von Jürgen Habermas als Grundlage bürgerlicher Öffentlichkeit beschriebene Räsonnement des Publikums begnügt sich nicht mit dem szenischen Diskurs über private Bedürfnisse und Vorstellungen von Humanität, sondern fordert immer wieder Momente der Überschreitung seiner eigenen institutionellen und ökonomischen Grenzen. Dem entsprechend berühren sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts bereits Entwürfe eines anderen, die damals etablierten Normen der Repräsentation durchkreuzenden Theaters mit der Vorstellung eines anderen Festes, das sich selbst in Frage stellt und sich dennoch, wenngleich ›uneigentlich‹, vollzieht. Solche Entwürfe in ihrem historischen Kontext lesbar zu machen und auch nach ihrer Relevanz für ein gegenwärtiges Denken von Fest und Theater zu fragen, ist das Anliegen dieser Untersuchung. Sie wird die Auseinandersetzung mit dem Fest als wesentliches Element eines neuen Denkens von Theater und Öffentlichkeit um 1800 beschreiben. Dabei wird das Thema des anderen Festes unter verschiedenen Aspekten reflektiert - in einer kulturgeschichtlichen Perspektive, als Bestandteil einer Rhetorik, Theorie und Poetik des Festes und als deren radikale Kritik.

Die Behauptung der ›Andersheit‹ ist schon in der Abgrenzung des Festes vom Alltag angelegt. Ihre historische Bedeutung erhält sie aber vor allem als Kritik schon etablierter Traditionen, und das sind hier besonders die des höfischen und des religiösen Festes. Um 1800 wird zunehmend ein Mangel an Gemeinschaft artikuliert und die Sehnsucht nach einer authentischen kollektiven Präsenz im Fest. Diese Aspekte des ›anderen Festes‹ überlagern einander. Die Selbstbegründung bürgerlicher Kultur aus einer Kritik des repräsentativen, höfischen Festes führte zu Gegenentwürfen, die dem Anspruch auf allgemeine Identitätsstiftung ihrerseits nicht genügen konnten. Je rascher auch die Feste der bürgerlichen Öffentlichkeit, der Kunst und des Nationalstaates, in Strukturen der Repräsentation erstarrten, desto mehr wurde die Flucht ins Private, Innerliche und Individuelle verteidigt. Der von Richard Sennett beschriebene Verfall des im Kontext der Aufklärung entwickelten öffentlichen Lebens ist auch an der Festkultur zu beobachten. Kehrseite des Rückzugs auf eine Geselligkeit im kleinen Kreis war aber die Idee nationaler Gemeinschaft, welche die Bürgerkultur im 19. Jahrhundert immer wieder propagiert hat.


Patrick Primavesi, Dr. phil. habil., Professur für Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig.



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