E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Arabische Welten
Adimi Was uns kostbar ist
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-85787-966-1
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Arabische Welten
ISBN: 978-3-85787-966-1
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was der ahnungslose Student Ryad bei seinem Ferienjob in Algier vorfindet, ist ein geschichtsträchtiger, einzigartiger Ort: In der Buchhandlung, die er ausräumen soll, wirkte einst Edmond Charlot (1915–2004), der hier 1936 mit Les Vraies Richesses ein blühendes Zentrum der Bücher gründete, Bibliothek, Verlag und Treffpunkt in einem.
Charlot entdeckte Albert Camus, Jules Roy und weitere literarische Grössen des 20. Jahrhunderts. Während des Zweiten Weltkriegs galt er als »der Verleger des freien Frankreichs«, namhafte Autorinnen und Autoren gingen bei ihm ein und aus. Trotz politischem Druck, einer Inhaftierung unter dem Vichy-Regime und kriegsbedingtem Papiermangel engagierte er sich unermüdlich für die Literatur. Nach Kriegsende wirkte er in Paris, wo er bald in finanzielle Not geriet und seine Autoren an die grossen Verlage verlor. Doch den Buchladen in Algier gibt es bis heute.
Der jungen algerischen Autorin gelingt mit ihrem preisgekrönten Roman eine Hommage an die Literatur und einen herausragenden Förderer. Lebensnah und einfühlsam skizziert sie in einem fiktiven Tagebuch Edmond Charlots bewegtes Leben. Sie erzählt zudem von einem politisch und kulturell engverwobenen und gleichzeitig zerrissenen Mittelmeerraum in einer turbulenten Zeit. Und sie schlägt den Bogen in die Gegenwart, wo Charlots Welt der Literatur neu zu entdecken ist.
Ausgezeichnet mit dem Prix Renaudot des lycéens, dem Prix du Style, dem Prix Beur FM Méditerranée und dem Prix Goncourt Choix de l'Italie.
Kaouther Adimi gelingt mit ihrem preisgekrönten Roman eine Hommage an die Literatur und einen herausragenden Förderer. Lebensnah und einfühlsam skizziert sie mit Charlots fiktivem Tagebuch Momentaufnahmen aus seinem bewegten Leben, eingebettet in die Geschichte des kulturell und politisch engverwobenen Mittelmeerraums. Und sie schlägt den Bogen in die Gegenwart, wo ein Student Charlots Welt der Literatur neu entdeckt.
Ausgezeichnet mit dem Prix Renaudot des lycéens 2017 und dem Prix du Style 2017
Weitere Infos & Material
Aufzeichnungen von Edmond Charlot Algier, 1935–1936
12. Juni 1935 Ich bekomme einmal eine Glatze. Mit zwanzig Jahren habe ich wenigstens diese Gewissheit. Vor dem Philosophieunterricht bei Jean Grenier im Gymnasium von Algier: zur Täuschung die wenigen Haare auf die Seite kämmen. Dieser Lehrer ist unglaublich. Er unterrichtet nicht, er erzählt. Wenn er zu reden anfängt, wissen wir nie, worauf wir uns einstellen sollen. Er denkt unsere Gedanken mit, er zwingt uns, unsere Überlegungen so weit wie nur möglich auszudehnen. Als wir ihn einmal über sein letztes Werk befragten, hat er sich Streifzüge zu den verschiedenen darin erwähnten Inseln ausgedacht. Meine Jahre in der Jesuitenschule (diesem Konzentrationslager!) liegen lange, sehr lange zurück. 23. Juli 1935 Wieder in Algier nach einem kurzen Paris-Aufenthalt. Diskussion mit meinem Vater spätabends in der Küche. Ich erzählte ihm von meiner tiefen Bewunderung für Adrienne Monnier, deren aussergewöhnliche Leihbibliothek La Maison des amis des livres in der Rue de l’Odéon 7 ich besuchen konnte. Aberhunderte von Bänden. Alles kann man dort finden! Und welch eine aussergewöhnliche Frau, diese Madame Monnier … Sie hat mir anvertraut, dass sie mit nur ein paar tausend Franc angefangen hat. Das Gleiche sollte man in Algerien machen. Mein Vater ist einverstanden, aber in kleinerem Massstab, meint er. Ja, kleiner, aber trotzdem in diesem Geist. Das heisst eine Buchhandlung, die Neues und Altes verkauft, die Werke ausleiht und die nicht einfach ein Laden wäre, sondern ein Ort der Begegnung und Lektüre. Gleichsam ein Ort der Freundschaft und zusätzlich mit einem Bezug zum Mittelmeerraum: Schriftsteller und Leser aus allen Mittelmeerländern ohne Unterschied in Sprache oder Religion sollen kommen, die Leute von hier, von dieser Erde, diesem Meer, und sich vor allem den Algerianisten widersetzen. Etwas ganz anderes machen! 18. September 1935 Grossvater Joseph aus Ghardaia zurück. Beim Abendessen erzählte er mir, wie er sich Kamele für seinen Wüstenritt gemietet und einen Löwen- und Pantherjäger zum Schutz vor möglichen Räubern dabeihatte. Ein merkwürdiger Mann, der für seinen Beruf als Händler lebt und mehr erfindet als beschreibt. Grossmutter schüttelte verärgert den Kopf. Bis in die Nacht hinein redeten wir über Literatur und Malerei und tranken. Er schenkte mir ein Exemplar Les Croix de bois mit einer Widmung von Roland Dorgelès und erzählte, dass dieser Roman, bevor er den Prix Femina erhielt, im Rennen um den Goncourt erst in der letzten Runde gegen Proust verloren hatte. Dorgelès’ Verleger verwendete trotzdem eine Bauchbinde mit der Aufschrift Prix Goncourt – 4 von 10 Stimmen. Ich bin von Grossvaters Bildung beeindruckt, er, der nicht studiert hat. Grossmutter ist bald schlafen gegangen, hat mir aber versprochen, am Sonntag mit mir auf den Friedhof Saint-Eugène zum Grab meiner Mutter zu gehen. 9. Oktober 1935 Als ich Bücher ins Regal einordnete, fand ich zehn übrig gebliebene Dosen mit Lakritzbonbons wieder, wie ich sie einmal in einem Sommer an die Händler der Stadt verkauft hatte. In kurzärmligem Hemd war ich in glühender Hitze von einem Lebensmittelladen zum nächsten gegangen, um ein paar Sou zu verdienen. Mindestens ein Jahr wird es dauern, bis sie aufgebraucht sind. Ich werde meinen Freunden davon abgeben. Haben Lakritzbonbons ein Verfalldatum, oder halten sie ewig wie Bücher? 14. Oktober 1935 Ich trug die Einkäufe der Nachbarin nach Hause. Sie bedankte sich und sagte, dass ich sehr nett sei, aber einen Vogelblick hätte, sogar den eines Adlers, der sie gleich verschlingen wolle. Zum Glück lachen Sie, fügte sie hinzu, sonst hätte man Angst vor Ihnen. Was man so alles zu hören bekommt. Ich liess mir keinen Ärger anmerken und setzte meine Brille wieder auf, um Haltung zu bewahren. 6. November 1935 Jean Grenier fragte jeden von uns, was er einmal nach der Schulzeit machen wolle. Ich antwortete, ich sei von allem Gedruckten begeistert. Da machte er mich darauf aufmerksam, dass in Algier Platz für einen Verlagsbuchhändler sei und ich meine Chance wahrnehmen solle. Ich warf ein, dass ich nicht die Mittel hätte, ein Geschäft zu eröffnen. Er sagte: »Wenn man sich zu zweit oder zu dritt zusammentut und etwas wagt, dann kann man ohne weiteres scheinbar Unerreichbares schaffen.« Und weiter: »Wenn Sie einen Verlag aufmachen, schenke ich Ihnen einen Text.« Ich bot ihm Lakritzbonbons an, was ihn sehr amüsierte. 24. Dezember 1935 Wehmütig, deprimiert. Habe in dem Karton mit den Familienfotos gewühlt, die mein Vater gerade in den Schreibtisch räumt. Die Fotos haben etwas unter Feuchtigkeit gelitten: dieses hier, mein Urgrossvater väterlicherseits, Marinebäcker bei der französischen Flotte, 1830 in Algier gelandet. Ebenfalls ein Hochzeitsfoto meiner Eltern. Auf der Rückseite steht mit Bleistift das Datum: 6. April 1912. Dahinter einfach nur Algier. Er, Victor Charlot, wirkt hart, stolz, der Schnurrbart ein umgekehrtes V, die Krawatte festgezurrt. Sie, Marthe Lucia Grima, schön, sehr schön, wirkt verlegen. Sie sind dreiundzwanzig beziehungsweise achtzehn Jahre alt. Und dann ein alter Zeitungsausschnitt vom 5. August 1919, der den Tod meiner Mutter anzeigt. Diagonal gelesen, damit es nicht zu schmerzlich wird: Monsieur Victor Charlot und seine beiden Söhne, Edmond und Pierre … die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen … grausamer Verlust … Gattin, Mutter, Tochter … gestorben in Kouba … gestorben in ihrem sechsundzwanzigsten Lebensjahr … Beisetzung heute … sechzehn Uhr dreissig … Villa Hélène in Kouba, Haltestelle Oasis … Kirche Saint-Augustin … Friedhof Saint-Eugène. Sich wieder fangen. Die Literatur hingegen wird mich nie verlassen. Mein Vater brachte mir mehrere Bücher. Ich weiss nicht, wie ich meinen Lesehunger befriedigen sollte, wenn er nicht einen Bücherservice bei Hachette leiten würde. 6. Januar 1936 Ich denke wieder an das, was mir Monsieur Grenier gesagt hat. Mit ein paar Freunden darüber gesprochen. Jean Pane und Madame Couston – seit sie Witwe ist, legt sie Wert darauf, so genannt zu werden – sind begeistert. Ich träume Tag und Nacht davon. 12. Februar 1936 Beim Abendessen gab mir meine Grossmutter einen Zettel, den sie beim Aufräumen gefunden hatte. Dabei lächelte sie schelmisch. Es war die Notiz eines ehemaligen Lehrers an der Jesuitenschule. Schwieriger Schüler, immer den Kopf in den Wolken. Ein Kommentar, der mich in meinem Entschluss bestärkt, nicht an die Universität zurückzugehen, sondern mich mehr der Literatur zu widmen. 2. März 1936 Ich rechne hin und her. Ich habe kaum Ersparnisse: gerade einmal das, was ich mit ein paar Kursen an einer Handelsschule verdient habe. 4. März 1936 Madame Couston möchte sich nicht zu sehr bei der Sache engagieren, denn sie hat nur wenig Zeit dafür, sie muss ihre Kinder allein erziehen. Es ist mir gelungen, 12 000 Franc zusammenzubringen. Das müsste für unser Vorhaben eigentlich genügen: eben für einen Verlag, eine Buchhandlung und was weiss ich! Ein Abenteuer ohne Wüste und Panther, aber trotzdem ein Abenteuer. 9. März 1936 Die Runde in der Familie gemacht, sie ermutigen mich, sind aber nicht einverstanden mit meiner Wahl. Sie sahen mich schon als PTT-Angestellten. Trotzdem glaubte ich, einen Funken Stolz in den Augen meines Vaters zu sehen, der mir zwar kein Geld geben kann, aber verspricht, mir alle Bücher zu überlassen, die er von Hachette bekommen kann. Mein Bruder Pierre hat applaudiert. Grossvater versteht nicht. Für ihn ist die Beschäftigung mit Büchern ein wunderbares Vergnügen, aber auf keinen Fall Arbeit. »Schau doch, was dein Vater verdient, einen Hungerlohn …« Er denkt, dass ich auf einem Irrweg bin, und ich habe sogar gehört, wie er zu meiner Grossmutter sagte, den Weinoder Obsthandel hätte ich wählen sollen, wenn ich wirklich etwas verkaufen wolle. 11. März 1936 Den Nachmittag in dem privaten Lokal der Musikgesellschaft L’Africaine verbracht, im Quartier Belcourt, mit Sicard, Camus, Poignant, Bourgeois und den Schauspielschülern des vor kurzem gegründeten Théâtre du Travail. Sie üben leidenschaftlich Révolte dans les Asturies, ein Stück in vier Akten, das sie als Skizze aufgeschrieben haben. Das Geschehen spielt zur Zeit des spanischen Arbeiteraufstandes in einer zweigeteilten Kleinstadt: auf der einen Seite die Bourgeois, auf der anderen die Proletarier. Sie versammeln sich in einem Wirtshaus, um im Radio die Wahlresultate zu hören, die bald verkündet werden. Die Rechte gewinnt. Im gleichen Moment erfahren sie, dass streikende, bewaffnete Bergleute in die Stadt eindringen. Geschäftsleute werden getötet, ein Lastwagen explodiert … Die Regierung schickt Truppen und Bombenflugzeuge, die auf die Bergleute...