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E-Book

E-Book, Deutsch, 420 Seiten

Ahnert Frühe Bindung

Entstehung und Entwicklung

E-Book, Deutsch, 420 Seiten

ISBN: 978-3-497-61670-1
Verlag: Ernst Reinhardt Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Frühe Bindungen sind "innige" Beziehungen, die das Sozialverhalten prägen. Psychoanalytiker John Bowlby begründete die Bindungstheorie in den 1950er Jahren. Anfängliche Widersprüche können nun zunehmend geklärt werden. Dieses Buch gibt einen anschaulichen Überblick über Entstehung und Entwicklung von frühen Bindungen. Führende deutschsprachige Bindungsforscher erklären, welche Faktoren die Bindungsentwicklung beeinflussen, wie sich frühe Bindung auf das Sozialverhalten auswirkt und wie es zu Fehlentwicklungen kommt. Dabei werden Ansätze der Entwicklungspsychologie, Psychoanalyse, Verhaltensforschung, Neuropsychologie und der Sprachwissenschaft einbezogen.
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Zielgruppe


PsychologInnen, PsychotherapeutInnen und (Sonder-)PädagogInnen in Praxis, Ausbildung und Lehre

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Kapitel 1
Theoretische und historische Perspektiven der Bindungsforschung von Klaus E. Grossmann Einleitung Der Beitrag beginnt historisch. Bindung, Bindungssignale und Bindungsgefühle gehören zur Natur des Menschen und zu seiner Geschichte. John Bowlby hat das Wissen über Bindung theoretisch konzipiert. Dies gelang, weil er die Naturgeschichte (Phylogenese) und die individuelle Entwicklung (Ontogenese) miteinander verknüpfte und damit den falschen Gegensatz von Anlage und Umwelt überwand. Mit der historischen Dimension fügt sich auch das dritte Element – die kulturelle Entwicklung – in das Zeitgeschehen von Bindung zwischen Phylogenese und Ontogenese. Historische Ereignisse können zu Verschleiß oder zur Erhaltung menschlichen Lebens führen. Dem Erleben von Bindung zwischen evolutionärer Verhaltensforschung und psychoanalytischen Fragen ist Abschnitt 2 dieses Kapitels gewidmet. Die Bindungstheorie ist eine offene Theorie, auf deren Grundlage die Bindungsforschung vor allem Unterschiede von mehr oder weniger adaptiven Bindungsqualitäten als Folge unterschiedlicher Bindungserfahrungen untersucht (s. Abschnitt 3). Mary Ainsworth hat uns den empirischen Weg dazu geöffnet. Ihre klassischen Untersuchungen über mütterliche Feinfühligkeit, die sich in sicheren oder unsicheren kindlichen Bindungsmustern mit ihren unterschiedlichen Ausdrucksbewegungen spiegeln, werden in Abschnitt 4 vorgestellt; ein besonderer Fall ist dabei die Desorganisation kindlichen Bindungsverhaltens. Abschnitt 5 des vorliegenden Kapitels verweist ergänzend auf unterschiedliche Rollen von Vätern und Müttern in der Bindungsentwicklung des Kindes. Der Beitrag endet mit einer individuellen Lebensgeschichte, die den Kern der Bindungsforschung enthält: die Qualität des psychischen Gefüges beim Umgang mit sich und der Welt. 1 Bindung, Entwicklung und Kultur Die Bindungstheorie und die Bindungsforschung befassen sich mit der Psychologie von den besonderen Beziehungen zwischen Bindungspersonen und ihren Kindern. Aus der langen Zeit der so genannten „vorwissenschaftlichen Psychologie“ stammen Überzeugungen, dass Bindung die individuelle Entwicklung von Kindern tief beeinflusst. Dem wurde von der „wissenschaftlichen Psychologie“ in den letzten 100 Jahren ebenso häufig zugesprochen wie widersprochen. Von der antiken Literatur an, über die bildende Kunst vieler Kulturen finden sich zahlreiche Hinweise über die nachhaltige Wirkung früher Einflüsse. In Platons „Nomoi“, „Die Gesetze“, z. B. bespricht der Athener mit seinem Gesprächspartner Kleinias die Erziehung bis zum dritten Lebensjahr. Er sagt: „Zu große Nachsicht mache die Sinnesart der Jungen mürrisch, niemals heiter, jähzornig und sehr durch Kleinigkeiten erregbar. Zu strenge und harte Unterwerfung dagegen erzeuge eine niedrige, unfreie und menschenfeindliche Gesinnung, die nicht für ein Zusammenleben tauge.“ (Platon 1959, „Nomoi“, 7. Buch, 3). Die Frage des Kleinias, wie denn diejenigen Kinder aufzuziehen seien, die der Sprache noch unkundig und für andere Unterweisungen noch unempfänglich sind, beantwortet der Athener: „Etwa so: Jegliches Geborene pflegt sogleich mit Geschrei seine Stimme zu erheben, vor allem auch der Mensch; und neben dem Schreien ist ihm auch das Weinen natürlicher als anderen Geschöpfen.“ Die Wärterinnen erforschen nun, was das Kind begehrt und schlussfolgern aus seinem Verhalten: „wobei es nämlich, wird es ihm dargereicht, schweigt, das ihm zu reichen, halten sie für gut, wobei es aber weint und schreit, für nicht gut.“ (Platon 1959, „Nomoi“, 7. Buch, 3). In der Bindungstheorie heißt das theoretisch Systemkontrolle und empirisch Feinfühligkeit. Die Bindungsperson möchte dem Bedürfnis des Kindes entsprechen und erkennt an der Beendigung des Weinens ihren Erfolg, nämlich das Richtige getan zu haben, und am fortdauernden Weinen ihren Misserfolg. Kindliches Weinen wird tatsächlich am ehesten durch promptes und angemessenes Verhalten der Bindungsperson beendet (s. u.). Auch die Konsequenzen solcher feinfühliger Art der Behandlung des noch sprachunkundigen Säuglings werden von Platon erläutert: Wenn in den ersten drei Jahren „mit Anwendung aller Mittel das Kind an Schmerzen und Befürchtungen und allem Leid so wenig wie möglich erfahre, glauben wir nicht, daß dies dann die Seele des Aufzuziehenden wohlgemuter und heiterer machen werde?“ (Platon 1959, Nomoi, 7. Buch, 3). Dies entspricht feinfühligem und kooperativem Umgang mit dem Säugling, und dazu muss die Bindungsperson dessen Signale wahrnehmen und richtig interpretieren (Ainsworth et al. 1974). Über die positiven emotionalen Folgen sicherer Bindung – eine Kernthese der Bindungstheorie – hatte der römische Dichter Vergil in seinem vierten Hirtengedicht Zeitloses zu sagen. Er sprach von einem individuellen psychologischen Zustand, der etwas von dem Glück ahnen lässt, das aus Zuneigung frei von Angst und Ambivalenz, von Unzufriedenheit, Einsamkeit und innerem Zweifel ist. Mein Regensburger Kollege Adolph Vukovich bezeichnet es als das Lied vom New Age, vom Paradies, von der Nestwärme. Die Ode, die Vergil die Ehre eintrug, als christlicher Prophet Dante durch das Inferno leiten zu dürfen, endet mit den Worten: „Richte, mein Junge, mit Lächeln den forschenden Blick auf die Mutter – Brachten zehn Monate ihr doch mancherlei arge Beschwerden: Wer nicht als Kind durch sein Lächeln den Eltern ein Lächeln entlockte, speist nie an göttlichem Tische und teilt nie ein göttliches Lager.“ John Bowlby, der die Bindungstheorie formuliert hat (Bowlby 2003), sagt folglich: Kriterien, die durch prospektive Untersuchungen zu prüfen sind, indem sie der Persönlichkeitsentwicklung durch verschiedene Phasen des Lebenslaufs und in verschiedenen Umwelten folgen, sind: Bestehen psychiatrischer Störungen (Gegenwärtiges Funktionieren), und gibt es größere oder geringere Verletzlichkeit gegenüber unangenehmen Lebensereignissen oder Situationen (Persönlichkeitsstruktur)? Angeborene Unterschiede müssen dabei natürlich in Rechnung gestellt werden. Vor allem aber ist wichtig – und hier trifft er sich mit Vergil – ob das Lebensgefühl meistens erfreulich und emotional reich ist oder eine Last, die zu ertragen ist, eine emotionale Leere. Und: „Wer dem Leben nur die angenehmen Seiten abgewinnt, es in vollen Zügen genießt und all seine Facetten als emotionale Bereicherung erlebt, ist weit weniger vulnerabel als jener, der das ganze Leben als einzige Last und trostlose Existenz empfindet.“ (Bowlby 1995a, 156ff) Lange Zeit hat man in der Psychologie den Prozess der Entwicklung eines Kindes weniger gut verstanden als heute. Häufig stellte man die kurzsichtige Frage nach dem Vorrang von Anlage oder Umwelt. Das Problem liegt in dem Wörtchen „oder“. John Bowlby war vertraut mit der Metapher der epigenetischen Landschaft Waddingtons, in der ein Ball bergab rollt und dabei – je nach Neigung der Ebene oder nach Seitenwinden – in das eine oder andere Tal rollen kann. Seitenwind und Neigung symbolisieren die Umwelt, aber die Landschaft selbst ist, über den Ball hinaus, potenziell im Genom enthalten. Die vor allem beim Menschen vorhandene Lernoffenheit bedarf also wesentlich reicherer genetischer Information als geschlossene Programme ungesteuert ablaufender Instinkthandlungen, weil sie die aus phylogenetischer Selektion entstandenen „angeborenen Formen möglicher Erfahrungen“ (Lorenz 1943) mit enthalten muss. Welche genetischen Anlagen eintreffen und welche nicht, hängt von den tatsächlichen Gegebenheiten während der individuellen Entwicklung (Ontogenese) ab. Dazu gehören auch Unterschiede zwischen Bindungspersonen und Unterschiede im Verhalten ein und derselben Bindungsperson gegenüber verschiedenen Kindern. Bindung ist folglich ein in der Evolution entstandenes genetisches „Offenes Programm“, auf dessen Grundlage die Qualität ihrer phänotypischen Ausprägung allerdings erfahrungsabhängig ist. Die Psychologen Arnold Sameroff und Michael Chandler (1975) haben die unselige Diskussion um das Anlage-Umwelt-Problem in der Psychologie aufgezeigt und den Weg geebnet vom Anlage-Umwelt-Dogmatismus („Hauptmodell“) über das „Interaktive Modell“, das auf statistischen Varianzanteilen durch Verwandtschaftsvergleiche vor allem bei zwei- und eineiigen Zwillingen sowie Adoptivkindern beruht, bis hin zum „Transaktionalen Modell“, in dem der Lauf der Waddington’schen Kugel als Metapher von der Entwicklung des Kindes durch ständige wechselseitige Einflüsse mit anderen Menschen gesteuert wird. Gilbert Gottlieb hat überzeugend argumentiert und belegt, dass die Ausgestaltung des individuellen genetischen Potenzials zu großen Unterschieden in der adulten Form des Lebens führen kann. Die Qualität des Phänotyps – also das, was aus dem genetischen Potenzial während der Ontogenese geworden ist – kann wiederum die biologische Selektion – also die Maximierung eigener Gene im Genpool der Art durch den wachsenden Anteil von...


Die Herausgeberin Univ.-Prof. Dr. Dipl.-Psych. Lieselotte Ahnert ist Professorin für Angewandte Entwicklungspsychologie an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien.


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