E-Book, Deutsch, 310 Seiten
Andersen Nexø / Spreckelsen Die Küste der Kindheit
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8412-1351-8
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die schönsten Erzählungen
E-Book, Deutsch, 310 Seiten
ISBN: 978-3-8412-1351-8
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Martin Andersen Nexö wurde am 26. Juni 1869 in Kopenhagen geboren. 1877 Übersiedelung der Familie Andersen nach Neksø auf die Insel Bornholm, Arbeit als Hütejunge und Dienstmann. Nach Beendigung einer Schuhmacherlehre Besuch der traditionsreichen Volkshochschule in Askov, danach Lehrer in Odense auf der Insel Fünen, literarisch-journalistische Betätigung. 1894-1896 Reise nach Italien und Spanien, um eine Tuberkulose auszuheilen. Seit 1910 längere Reisen nach Deutschland, wo er von 1923 bis 1929 seinen festen Wohnsitz hat. 1925 heiratet er in dritter Ehe Johanna May aus Karlsruhe. Andersen Nexö unterstützt alle wichtigen internationalen Aktionen gegen Faschismus und Krieg und nimmt an den Schriftstellerkongressen zur Verteidigung der Kultur in Paris und Madrid teil. Während der deutschen Besetzung Dänemarks 1941 verhaftet, 1943 Flucht nach Schweden, 1944 Exil in Moskau, 1945 Rückkehr nach Dänemark. 1951 Übersiedelung in die DDR, wo er in Dresden-Weißer Hirsch eine Ehrenwohnung bezieht. Hier stirbt Andersen Nexø am 1. Juni 1954. Die Beisetzung erfolgt in Kopenhagen, wo auch sein literarischer Nachlaß betreut wird.
Autoren/Hrsg.
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Bigum Holzbein
Eigentlich war es eine Anmaßung von ihm, mit einem Holzbein herumzulaufen, da er doch niemals im Krieg gewesen war. Aber allmählich gewöhnten sich die Leute daran und nahmen es ihm nicht länger übel; sie gaben ihm sogar seinen Namen danach. Bigum Holzbein nannten sie ihn; er selber aber nannte sich Folmer Sänger.
Bei der Musterung fragte ihn der barsche Musterungsoffizier, ob er mit dem Bein geboren sei. Bigum lächelte – er wußte einen guten Witz zu schätzen. Der Beamte aber war sich nicht bewußt, etwas Spaßhaftes gesagt zu haben, und fragte bissig: »Zum Teufel, warum lacht Er dann? Kann Er nicht antworten?« Da ging es Bigum auf, daß man über den Ursprung des Holzbeins Bescheid zu haben wünschte, und er erzählte also, daß er auf einer Walfangreise den kalten Brand in den Fuß bekommen habe, so daß er abgenommen werden mußte.
Er wohnte allein draußen auf den windgepeitschten, unfruchtbaren Sanddünen im Norden der Stadt, in einer kleinen Hütte gerade über dem hohen Küstenhang. Er besaß eine Büchse und ein altes Boot, und in frostklaren Frühlingsnächten, wenn das Meer regungslos blank dalag, ließ er sein Boot draußen zwischen den großen Felsen des seichten Wassers treiben. Er selbst lag im Vordersteven, die Büchse im Anschlag, und ahmte den langgezogenen Schrei der Seevögel nach, bis er auf Schußweite an sie herankam. Oder er geriet unversehens an einen Seehund, der auf einem der großen Steine schnarchte, und stieß ihm seine Harpune in den Leib.
Und im weißen Winter, wenn das Meereis alles bedeckte, so weit das Auge reichte, und die – Wildenten auf der Suche nach offenem Wasser durch die dicke Luft hin und her sausten, dann schlug er ein großes Loch ins Eis und baute sich aus den Eisblöcken ein Häuschen. Dort lag er dann im Hinterhalt und schoß Enten – oft drei, vier auf einen Schuß.
Aber im Laufe der Jahre fuhr ihm die Kälte dieses Lebens selber in den Leib; er wurde von der Gicht geplagt und mußte zu Hause bleiben. Am schlimmsten saß ihm die Gicht in dem Glied, das er gar nicht mehr hatte, und immer wieder war es den Leuten ein Vergnügen zu sehen, wie er ans äußerste Ende seines Holzbeins faßte, Gesichter schnitt und sich beklagte, er habe so sehr das Reißen im großen Zeh.
Deshalb nahm er die Schuhmacherei wieder auf, die sein Handwerk gewesen war, ehe er zur See fuhr. Diese Tätigkeit aber hatte er stets gehaßt, und er rührte die Hand nicht mehr, als zum knappsten Lebensunterhalt eben nötig war.
Die meiste Zeit dichtete, musizierte und philosophierte er.
Als Dichter lag seine Stärke im Sentimental-Gefühlvollen. Er dichtete von ungetreuer Liebe, von den Schrecken des Türkenkrieges und vom Untergang der Bark »Albatros«. In seiner Musik hingegen war er ein Fürsprecher der Lebensfreude – er spielte gern zum Tanz auf.
Auf diesen beiden Gebieten hatte er bedeutende Vorgänger gehabt, nicht jedoch in seiner Art zu philosophieren. Hier war er absolut original. Er hatte ein ganzes philosophisches System entwickelt, aufgebaut auf der Beobachtung der Fußbekleidung des Menschen, und er konnte augenblicklich sagen, ob einer verschlossen war oder weitschweifig, verschwenderisch oder knickerig: all das durch die Betrachtung der Schuhe des Betreffenden.
Mit solcher Beschäftigung vertrieb er sich den langen Winter, und wenn sein Magen vor Hunger knurrte, hielt er ihm eine längere Predigt und versuchte ihn scherzend zu überzeugen, wie unvernünftig es von ihm wäre, ständig randvoll sein zu wollen. »Was, knurrst du schon wieder? Du solltest dir ein bißchen mehr Genügsamkeit angewöhnen, ja, das solltest du – vor allem Genügsamkeit! Weißt du nicht, daß der Mensch nicht vom Fleisch allein lebt? Brot ist auch gut, mein Alter – und ein halber Pahl dazu! Steht vielleicht nicht geschrieben, daß wir alle einen Pfahl im Fleische haben müßten?« Und nicht gar so selten schlug er sich einen Pahl ins Fleisch.
Als echtes Original nahm er nicht die geringste Rücksicht darauf, ob Besuch da war oder nicht, sondern folgte unbeirrt seinen Gewohnheiten, sprach mit sich selbst oder seinem Magen, rülpste oder tat ähnliches – und zog sich manchmal aus und ging ins Bett, ehe die Leute noch gegangen waren.
Wenn aber der erste Star über das Meer geflogen kam und sich vor seinen Fenstern niederließ, wurde er närrisch – ganz und gar närrisch. Es sei, als ob ihm alle Knochen im Leibe eiterten, sagte er, so sehr gäre es ihm im Leibe. Und dann saß er an seinem Fenster, flickte Schuhe und starrte übers Meer hinaus, während der Frühling seinen Einzug hielt. Er sah das Eis brechen und forttreiben; die Schiffe im Hafen takelten auf und stachen eins nach dem anderen in See, der Schnee verschwand vor seinen Augen, und das Gras begann zu sprießen.
Und Frühjahr um Frühjahr geschah dann das gleiche: Mitten im Nähen warf er die Arbeit in hohem Bogen hin, lief in die Stadt und kaufte sich ein Paar blaue Baumwollhosen – jedesmal blaue Baumwollhosen. Und wenn er heimkam, schnitt er, von dem einen Hosenbein – dem für das Holzbein – ein Stück ab, heftete das abgeschnittene Ende an dem einen Rand zusammen, so daß eine bequeme kleine Gardistenmütze daraus wurde, und setzte sie auf. Selig wie ein Kind zog er die neuen Baumwollhosen an, die alten aber nahm er und nähte sie oben am Bund zusammen, so daß sie einen Beutel mit zwei Niedergängen – den Beinen – bildeten. Und dahinein packte er seine Lieder, Violinsaiten, eine Schnapsflasche und was er sonst benötigen mochte. Dann nahm er seinen Ranzen bei den Beinen und warf ihn sich über den Rücken, band die Hosenbeine vorn am Hals in einem Knoten zusammen und wanderte hinaus in den Frühling. Die Tür ließ er hinter sich weit offenstehen; da konnten die Leute selber kommen und sich ihre halbfertigen oder noch nicht angefangenen Schuhe abholen.
Und nun begann Bigum Holzbein eine Tournee, die bis zum nächsten Winter dauerte und ihn durch die ganze Insel führte. Die Bauern, die beim Frühjahrspflügen mit dem Lenkseil um den Leib hinter ihren Pferden herstapften, behielten die Landstraße im Auge, und wenn sie Bigum Holzbein daherkommen und die Geige streichen sahen, sagten sie: »Jetzt wird es bald Sommer!« – wie man sonst sagt, wenn man den ersten Storch sieht.
Und Bigum fiedelte sich durch die ganze Insel, die Länge und die Quere, sang seine Lieder vor Knechten und Mägden, verkaufte sie allen, die sie haben wollten, und spielte willig die Melodie, bis man sie auswendig konnte. Sie standen mitten auf dem Hof im Kreis um ihn herum und sangen mit. Manchmal waren sie schwer von Begriff, manchmal aber auch ganz gewitzt. Dann stellte Bigum den Stock unter die Hüfte, um das Holzbein darauf auszuruhen, quälte die Saiten, daß sie schrien wie verhungerte Katzendärme, und sang wohl zum zwanzigstenmal:
»Komm her, o Mägdelein, und
winde den Kranz. Ich weiß, du willst
es so ge-erne, so ge-erne …«
Das Bargeld steckte er in die Tasche, und was an Eßbarem abfiel, rutschte durch die leeren Hosenbeine hinab in den Ranzen. Und wenn der Holunder in Blüte stand und der Hering eingelegt werden mußte, sang man Bigum Holzbeins Lieder in jedem abgelegenen Winkel. Es war ein Triumphzug der Poesie, der jeden Freund der Dichtkunst erfreuen mußte.
Wenn aber der Kuckuck längst zum Habicht geworden war und die Ernte von den Feldern eingefahren wurde, ging Bigum auf seine zweite große Tournee. Es war die Zeit der Ernte- und Tanzfeste, und monatelang war Bigums Violine Nacht um Nacht im Gange. Es war eine Zeit, die an den Kräften zehrte; Bigum nannte sie selber seine Zeit der Drangsal. Aber stolz stand er sie durch. Es war im Laufe der Zeit Sitte geworden, daß auf den Festen jeder Mann Bigum Holzbein einzeln zuzutrinken habe; man wollte feststellen, wieviel er aushielte. Aber es gehörten viele Männer dazu, ehe man Bigum etwas anmerkte, und so betrunken machte man ihn nie, daß er unter den Tisch fiel.
Die erste Wirkung des Alkohols war häufig die, daß er gegen den Namen Bigum Holzbein protestierte und sich laut als Folmer Sänger proklamierte. Danach begann er wie rasend zu spielen, besonders wenn er merkte, daß man ihm Schweiß abzapfen wollte. Dann hörte er auch zwischen den Tänzen nicht auf, sondern ging vom einen Tanz in den anderen über, und so begann ein wilder Wettlauf zwischen Spielmann und Tänzern. Die Männer hieben die Absätze auf den Boden und riefen ihm Herausforderungen zu, wenn sie mit ihren Mädchen an ihm vorüberjagten; und Bigum fiedelte den Takt immer rascher, bis sich der Bogen blitzschnell über dem Bruchteil eines Zolls bewegte und die Musik zu einem zitternden, endlosen Kreischen wurde. Dann wirbelten Staub und lärmende Klänge zu einem so wilden Hexentanz empor, daß es gewöhnlichen Sterblichen das Trommelfell gesprengt hätte und sich die Mädchen schließlich halbtot vor Erschöpfung zu Boden warfen.
Nach einer solchen Tour konnten die Männer das Wasser aus ihren Jacken wringen, daß der Fußboden schwamm. Bigum aber saß da und spielte während der Pause ganz langsam weiter – nicht ein einziges Mal ließ er sich herbei aufzuhören.
Ab und zu kam es vor, daß es eine Schlägerei gab, besonders wenn das Gesinde schwedisch war. Dann füllte sich Bigums Gemüt mit heimlicher Erwartung. Er wußte, daß er zu gar nichts taugte, wenn er stand – ein Kind vermochte ihn dann umzuwerfen. Dafür besaß er aber in den Armen große Kräfte, das Fehlen des einen Beins hatte sie stark gemacht. Er konnte mit seinem Mann sehr gut fertig werden, wenn er dabei...