E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Angelowski Das Haus am Königsforst
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-86358-579-2
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: Maline Brass und Lou Vanheydens
ISBN: 978-3-86358-579-2
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der Mord an einer Musiklehrerin führt Lou Vanheyden und Maline Brass zu einer Familie, die abgeschottet am Rande des Königsforsts lebt. Sohn Levi war Schüler der Toten. Doch während das Verbrechen schnell aufklärt ist, unterschätzen Vanheyden und Brass die explosive Situation innerhalb der Familie: Levi und seine Schwester hüten ein Geheimnis von enormer Brisanz. Und sie sind dabei, einen Plan zu schmieden, der katastrophale Folgen haben wird...
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Heiligenhaus Die Tür im zweiten Stock war nur angelehnt. Dahinter ging es lautstark zu. Ein Kind weinte, weitere lieferten sich ein Wortgefecht, und dazwischen vernahm Lou deutlich die Stimme einer Frau, die zur Ordnung mahnte. Zaghaft schubste Lou die Wohnungstür auf. »Hallo?« Alea kam aus einem Zimmer gelaufen. Lou erkannte Constantin Sukowas Tochter sofort wieder. Das Kind blieb stehen, Lou fielen ihre dunklen mandelförmigen Augen auf. Sie trug eine Wollstrumpfhose und ein rosa T-Shirt mit Lillifee-Aufdruck. Lou stützte ihre Hände auf die Knie. »Ich möchte gerne mit Veronika Engels sprechen.« Die Kleine verschwand. Unmittelbar erschien eine stämmige Frau mit wachem Blick und runden Wangen. Sie trug Rock, Lederstiefel und Strickjacke. Ihr Händedruck war energisch. Lou stellte sich vor. »Kommen Sie herein«, sagte Veronika Engels. »Wir gehen in die Küche.« Im Vorbeigehen schloss sie zwei Türen, die sofort wieder geöffnet wurden, dahinter lugten neugierige Kinderaugen hervor. »Die nerven heute wieder mal gewaltig.« Frau Engels bot Lou einen Platz an, räumte mit wenigen Griffen den Tisch von Spielzeug und benutzten Tellern frei. Die Küche war ziemlich klein und funktional eingerichtet. Wände mit Zeichnungen plakatiert. Am Kühlschrank hingen Stundenpläne. »Wie viele Kinder haben Sie denn?« »Vier Söhne, dazu noch Alea. Sie macht unsere Rasselbande komplett.« »Haben Sie etwas vom Krankenhaus gehört?«, fragte Lou. »Wie geht es Ihrem Freund?« »Die Ärzte sind zufrieden, er erholt sich sehr gut.« Frau Engels füllte einen Wasserkocher, gab Teebeutel in eine Kanne und zog einen Holzstuhl heran. »Das war vielleicht ein Schreck … Danke noch mal, Sie haben Constantin das Leben gerettet.« Lou winkte ab. »Doch, wirklich!« Ein etwa siebenjähriger Junge kam in die Küche und beschwerte sich lautstark über einen seiner Brüder. Frau Engels schickte ihn hinaus. »Was kann ich für Sie tun? Viel Zeit habe ich nämlich nicht. Mein Großer muss zum Fußball.« »Wann ist Ihr Freund am Freitagmorgen mit Alea nach Köln aufgebrochen?« »So gegen sechs Uhr dreißig, denke ich. Constantin lag der Streit mit seiner Mutter im Magen, und er wollte das Thema so schnell wie möglich aus der Welt schaffen. Deshalb ist er so früh los.« »Wissen Sie, worum es bei der Auseinandersetzung gegangen ist?« Wieder erschien eins der Kinder, diesmal weinend. »Der Lasse haut mich immer.« »Entschuldigung.« Frau Engels nahm den Jungen an die Hand und rauschte aus der Küche. Lou hörte sie im Nebenzimmer den Konflikt regeln. Konsequent und deutlich. Köln-Rath Levi baut Mist, und ich kann es ausbaden. Mutter schickt mich allein auf die Samstagsrunde, weil mein lieber Bruder sich schon wieder verdünnisiert hat. Ich muss Essensspenden und Gaben mildtätiger Menschen abholen. Manche Leute unterstützen uns regelmäßig mit Lebensmitteln, überlassen uns Sachen, die entweder abgelaufen sind oder die sie selbst nicht mehr verzehren wollen. Samstags fahren wir herum und holen die Spenden ab. Ich esse allerdings nur Ausgesuchtes, von bestimmten Menschen. Von anderen Sachen lasse ich die Finger, manches hat einfach einen merkwürdigen Beigeschmack. Da kann Mutter mich ruhig Dummerchen nennen. Als wir nach Köln zogen, haben wir uns weitestgehend selbst versorgt. Wir hatten sogar zwei Ziegen, aber nachdem sich die Nachbarn ständig über das Meckern beschwerten, haben wir sie abgeschafft, bevor Behörden sich für die Sache interessierten. Soweit es möglich ist, ernähren wir uns aus unserem Garten. Mutter backt regelmäßig Brot, den Rest stecken uns wildfremde Menschen zu. Das ist erniedrigend, ich komme mir vor wie eine Bettlerin. Dabei haben wir Geld. Auf der Bank und im Haus. Meine Eltern sind vermögend. Der braune Lederkoffer, der auf dem Speicher steht, ist bis oben hin voller Scheine. Daraus können wir uns bedienen, wenn es ohne Geld nicht geht. Aber es geht, erstaunlich gut sogar. Blöderweise ist es schon Mittag. Um die Zeit sind viele Leute unterwegs, sie kaufen fürs Wochenende ein und starren mich an, wenn ich an ihnen vorbeiradele. Manchmal rase ich stellenweise über den Bürgersteig und schließe während der Fahrt einfach die Augen. Klar, das ist rücksichtslos und gefährlich. Aber ich will so schnell wie möglich vorwärtskommen und niemanden ansehen. Sollen die Glotzer doch an die Seite springen und mir ruhig Schimpfworte nachrufen. Sollen sie doch. Der Verkehr staut sich über die gesamte Hauptstraße. Vor dem Platz an der Kirche drängeln sich die Menschen vor Marktständen. Es ist schweinekalt, meine Strickjacke hält den Wind kaum ab. Ich hätte so gern eine Daunenjacke. An der Bäckerei halte ich kurz an. Das ist der einzige Stopp, den ich mir erlaube. Frierend drücke ich meine Nase an die Schaufensterscheibe. Lebkuchenhäuschen sind mit bunten Süßigkeiten beklebt und stehen neben Schalen mit Weihnachtskeksen. Wenn die Tür des Ladens aufschwingt, strömen Wärme und ein unwiderstehlicher köstlicher Duft auf die Straße. Früher haben wir Plätzchen gebacken, zusammen den Adventskranz gebunden und unsere Nikolausstiefel auf die Fensterbank gestellt. Längst hat die Vorweihnachtszeit ihren Glanz verloren. Jonah hat sie nie erlebt. Der Gedanke macht mich unsagbar traurig. Ich steige aufs Rad und fahre durch zu den Kiesewetters. Das Rentnerpaar legt das Essen, das ich mitnehmen darf, immer in einer Tüte vor der Garage ab. Das ist mir ganz recht. So gibt es keine Wartezeit und keine Fragen. Ich halte an und lege den schweren Beutel in den Fahrradanhänger. Unverzüglich mache ich mich auf den Weg zu Frau Jaschke. Bei ihr muss ich klingeln, aber sie macht nie viele Worte, und meist drückt sie mir eine Leckerei in die Hand. Heute ist es ein dickes Stück Christstollen. Bei ihr kann ich ruhig zugreifen, sie hat sanfte Augen, ist bestimmt eine von den Guten und würde mir nie etwas tun. Ich schmecke Butter heraus, lasse den Kuchen auf der Zunge zergehen und wische mir Puderzucker von den Lippen. Eigentlich muss ich solche Köstlichkeiten ablehnen, aber das schaffe ich bei Frau Kiesewetter nicht immer. Ich gestatte mir dieses kleine Geheimnis, auch wenn mich mein schlechtes Gewissen danach verfolgt. Um Dr. Benders Haus mache ich einen riesigen Bogen, verlasse die Hauptstraße, fahre durchs Feld und strampele über Umwege zu den Marquards. Sie sind meine letzte Station. Hier muss ich immer zweimal klingeln, bevor jemand zur Tür kommt. Diesmal öffnet eins der Mädchen. Sie trägt eine lila Jogginghose und einen Pulli mit Rentieraufdruck. Auf ihrem Scheitel sitzt ein Haarstrang, der mich an einen Springbrunnen erinnert. Ich beuge mich zu ihr hinunter. »Ist deine Mama zu Hause?« Sie hält sich die Hand vor den Mund, guckt mich an und bewegt sich nicht. »Kannst du bitte deine Mutter an die Tür holen?« »Mama, die Bettlerin ist da«, ruft die Kleine mit heller Stimme und verschwindet im Haus. Am liebsten würde ich im Erdboden versinken, abhauen, aber wenn ich das mache, dann bekomme ich Ärger und meine Familie hat am Wochenende ziemlich wenig zum Essen. Wir sind auf diese Spenden angewiesen. Ich weiß, Mutter. Es dauert noch einmal eine gefühlte Ewigkeit, bis Frau Marquard erscheint. »Scheußliches Wetter«, sagt sie statt einer Begrüßung. Sie schnattert unaufhörlich, während ich bibbernd von einem auf das andere Bein trete. Dabei schiele ich unentwegt auf die Plastiktüten mit Lebensmitteln, die Frau Marquard in den Händen hält. Ihre drei Töchter drängeln sich in den Vordergrund, bleiben wenige Schritte vor mir stehen und flüstern miteinander. Sie haben alle die gleiche Fontänenfrisur. Die Kleinste hält eine Astrid-Lindgren-DVD in der Hand. Diese Filme habe ich geliebt. Früher. Es fällt mir schwer, Frau Marquard weiter zuzuhören, die nun davon spricht, wie teuer alles geworden ist. Ihre Kinder mustern mich ungeniert. Tuscheln und lachen. »Hab ich doch gesagt, dass die Lumpen anhat«, quiekt die Kleine, die mir die Tür aufgemacht hat. Die beiden anderen nicken, bohren in ihren Nasen und stecken die Köpfe zusammen. Endlich bekomme ich die Lebensmittel ausgehändigt. Als ich die Sachen in den Packtaschen meines Rads verstaue, höre ich die Marquard-Kinder singen: »… hat Kleider nicht, hat Lumpen an. So helft mir doch in meiner Not, sonst ist der bittere Frost mein Tod.« Auf dem Rückweg bevorzuge ich den Feldweg, der einsam und verlassen liegt und zwei riesige Ackerflächen voneinander trennt. Der Wind bläst hier so extrem, dass ich kaum vorwärtskomme. Ich stehe über dem Sattel und trampele. Als die letzte Wegbiegung in Sicht kommt, sehe ich das Fahrzeug. Das ist nichts Besonderes, häufig parken hier Jogger oder Hundehalter. Normalerweise am Seitenrand. Dieser Wagen steht mitten auf der schmalen Straße. Ich werde mit meinem Rad plus Anhänger nicht vorbeikommen. Trotzdem fahre ich weiter. Soweit ich es erkennen kann, sitzt eine Person am Steuer. Sie wird das Auto zur Seite fahren. Ich rumpele mit meinem Anhänger vorwärts. Als ich circa dreihundert Meter entfernt bin, gehen die Scheinwerfer des Wagens an. Mit quietschenden Reifen setzt sich das Auto in Bewegung und schießt direkt auf mich zu. Rechts Acker. Links Acker. Neben dem Feldweg verlaufen hüfthohe Gräben. Ich bleibe stehen und starre dem Wagen entgegen. Dr. Bender schießt mir in den Kopf. Natürlich. Wer sollte sonst mit einem derartigen Affenzahn auf mich zuhalten? Von Glubschauge geht eine Bedrohung aus, der Mann ist irre. Fernlichter blenden auf, der Motor heult. Noch hundert Meter bis zum Crash. Ich...