Anselm / Karle / Lilie | Was tun, wenn es unerträglich wird? | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Anselm / Karle / Lilie Was tun, wenn es unerträglich wird?

Die Frage nach dem assistierten Suizid als Herausforderung für Kirche und Diakonie

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-641-30960-2
Verlag: Gütersloher Verlagshaus
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Gibt es ein Recht auf Suizid?Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Paragraf 217 StGB ist verfassungswidrig, weil er es faktisch unmöglich macht, in Deutschland bei einem Suizid professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das Gericht wertet das als unverhältnismäßige Einschränkung des grundlegenden Rechts auf Selbstbestimmung.Seitdem wird eine neue Regelung diskutiert. Kirche und Diakonie sehen sich herausgefordert, schließlich verstehen sich beide als Anwältinnen des Lebens: Wie ist mit der neuen Situation umzugehen?Dieses Buch nimmt die bisherige Debatte auf und geht den Fragen nach verantwortungsvollen Regelungen und konkreten Praktiken in den Einrichtungen nach. Eine notwendige Orientierung angesichts einer ebenso heiklen wie komplexen Debatte.
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Einleitung Reiner Anselm, Isolde Karle, Ulrich Lilie und Hendrik Meyer-Magister Ein älteres Ehepaar berichtet beim Mittagessen, für sie gehöre ein assistierter Suizid zu den denkbaren Optionen, selbstbestimmt und ohne unnötiges Leiden aus dem Leben zu gehen, sollten sie einmal schwer und unheilbar erkranken. Eine in der ambulanten sozialen Arbeit tätige Dame berichtet, wie sie immer wieder von älteren, häufig einsamen und teilweise auch körperlich oder psychisch belasteten Klient:innen auf die Möglichkeit angesprochen werde, auf diese Weise vorzeitig aus dem Leben zu gehen. Das sind nur zwei kursorische Äußerungen aus der Teilnehmendenschaft der Tagung »Praktiken des assistierten Suizids«, die vom 24. bis 25. November 2022 in der Evangelischen Akademie Tutzing stattfand und deren Vorträge größtenteils in diesem Band dokumentiert sind. Das rege Interesse und die intensiven Diskussionen auf der Tagung haben uns gezeigt: Das Thema bewegt die Menschen auch abseits der Fachdebatten und Feuilletons. Die Möglichkeit, sich am Lebensende Hilfe zum Suizid zu holen, ist im Bewusstsein vieler Menschen angekommen. Mit seinem Urteil vom 26. Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeiten, Beihilfe zum Suizid zu leisten, stark ausgeweitet. Das Gericht erklärte § 217 Strafgesetzbuch (StGB) für verfassungswidrig. Der Paragraf hatte seit 2015 die »geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung« unter Strafe gestellt und wollte damit das Wirken von Sterbehilfevereinen in Deutschland unterbinden. Da »geschäftsmäßig« juristisch als ein auf Wiederholung angelegtes Handeln zu verstehen ist, verunmöglichte § 217 StGB faktisch jegliche – insbesondere auch ärztliche – Sterbehilfe. Das Gericht argumentiere daraufhin, der Paragraph mache es letztlich unmöglich, dass Menschen in Deutschland die Hilfe Dritter bei einem freiverantwortlichen Suizid in Anspruch nehmen. Menschen hätten ein Grundrecht auf ein selbstbestimmtes Sterben. Das Gericht leitete dies aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ab. Dies schließe die Freiheit ein, sein Leben – auch unter Inanspruchnahme von Suizidhilfe – zu beenden. Als Ausdruck »autonomer Selbstbestimmung« müsse dies von Staat und Gesellschaft respektiert werden, auch wenn niemand verpflichtet werden könne, Suizidhilfe zu leisten. Es sei zwar generell möglich – wenn auch nicht nötig –, dass der Gesetzgeber die Sterbehilfe reguliere, § 217 StGB sei aber unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig, weil es die Wahrnehmung des Grundrechts auf selbstbestimmtes Sterben zu sehr einschränke. Der Deutsche Bundestag hat am 6. Juli 2023 über zwei Gesetzesentwürfe zu einer weitergehenden Regelung des assistierten Suizid abgestimmt. Keiner der beiden Entwürfe fand dabei eine Mehrheit.1 Damit hat Deutschland nach wie vor eine Regelung, die um die Grenzen des Rechts weiß, wenn es um die Regelung solch höchstpersönlicher Entscheidungen wie dem Suizid und auch dem assistierten Suizid geht. Auf eine eigenständige Regelung des assistierten Suizids im Wissen um die Grenzen des Rechts zu verzichten, bedeutet dabei keinesfalls, diesen in einen rechtsfreien Raum zu stellen. Sorgfaltspflichten, insbesondere die Pflicht, die Freiverantwortlichkeit von Entscheidungen dieser Reichweite zu respektieren, gelten nach wie vor, ebenso beispielsweise das Verbot der Tötung auf Verlangen. In diesem unzweifelhaften Rechtsrahmen herrscht auch ohne eigenständige Regelung des assistierten Suizids Klarheit: Suizid ist straffrei und daher ist es auch die Assistenz zum Suizid. Begleitet wird die politische Debatte seit mehr als drei Jahren von einer mal mit mehr und mal mit weniger Elan geführten gesellschaftlichen Diskussion. Insbesondere das Autonomieverständnis des Verfassungsgerichts, das die Entscheidung grundiert, und das Verhältnis von Lebensschutz und Selbstbestimmung stehen dabei im Fokus. Gleich nach dem Urteil im Februar 2020 wurde auch von theologischer und kirchenleitender Seite Kritik am Urteil laut – etwa von Peter Dabrock, dem damaligen Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats, sowie durch eine gemeinsame Erklärung des damaligen Ratsvorsitzenden der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz. Isolde Karle und Jacob Joussen griffen das Thema bereits im Juni 2020 in der Zeitschrift ›Zeitzeichen‹ auf. Insgesamt kam die Debatte um den assistierten Suizid in Theologie und Kirche aber nur zögerlich in Gang. Katalysator einer heftigen Debatte war schließlich der Artikel, den drei Personen aus dem Kreis der Herausgebenden dieses Bandes – Reiner Anselm, Isolde Karle und Ulrich Lilie – als Ergebnis eines breiteren, interdisziplinären Austauschs am 11. Januar 2021 unter dem Titel »Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen« in der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ (F.A.Z.) veröffentlichten. Im Zentrum der damaligen Überlegungen stand die Beobachtung, dass in der bis dato geführten Debatte viel über grundsätzliche philosophische, theologische und anthropologische Fragen sowie über grundrechtsdogmatische Probleme gesprochen wurde, aber der Umstand, dass nun konkrete Leitlinien für den Umgang mit dem Wunsch nach einem assistierten Suizid erarbeitet werden müssten, kaum Beachtung fand. Manche Menschen wünschen sich einen assistierten Suizid und können sich dabei auf ein vom Bundesverfassungsgericht bestätigtes Grundrecht berufen. Vor diesem Hintergrund schien die Frage dringend, wie in der Praxis mit diesem Wunsch umgegangen werden kann, insbesondere angesichts des Umstands, dass christliche Träger sich in besonderem Maße dem Schutz des Lebens verpflichtet sehen. Das Anliegen war, eine breitere Debatte in Kirche, Diakonie und Zivilgesellschaft darüber anzustoßen, wie – dem Urteil entsprechend – ein professionell assistierter Suizid ermöglicht werden kann, ohne christliche Grundüberzeugungen zu verraten und ohne Bewohnern:innen und Klient:innen diakonischer Einrichtungen in dieser existenziellen Situation »im Stich zu lassen« und im Zweifelsfall an dubiose Anbieter weiterverweisen zu müssen. Daraus resultierte das Plädoyer, auch in diakonischen Häusern über gangbare Wege, einen assistierten Suizid zu ermöglichen, nachzudenken und damit eine Praxis zu etablieren, die sich an professionellen ethischen und seelsorglichen Standards orientiert und Lebensschutz und Selbstbestimmung in ein angemessenes Verhältnis bringt. Der Artikel löste starke Reaktionen aus, sowohl zustimmende als auch ablehnende. Ebenfalls in der F.A.Z. reagierten Peter Dabrock und Wolfgang Huber und wiesen diese Überlegungen klar zurück. Es entspann sich eine Diskussion, die in der F.A.Z., in ›Zeitzeichen‹ und anderen Organen der evangelischen Publizistik, in Gremien von Kirche und Diakonie und politischen Konsultationen, auf Tagungen in evangelischen Akademien sowie auf unzähligen Pfarrkonventen geführt wurde. Den vorläufigen Abschluss der unmittelbaren F.A.Z.-Debatte bildete im Mai 2021 ein Artikel von Reiner Anselm, Isolde Karle und Ulrich Lilie, in dem sie Missverständnisse, die der erste Beitrag auslöste, aufnahmen und dabei ihre Position im Licht der Debatte präzisierten und weiterentwickelten. Da diese in der F.A.Z. geführte Diskussion in der sich daran anschließenden, breiteren Debatte in Theologie, Diakonie und Kirche stets präsent war und auch in etlichen Beiträgen dieses Bandes in der einen oder anderen Form darauf Bezug genommen wird, werden zum Auftakt dieses Bandes die drei genannten Artikel noch einmal abgedruckt. Während der engagiert geführten Debatte wurde eines immer deutlicher: Die Erörterung der unzweifelhaft vorhandenen, grundsätzlichen ethischen und juristischen Fragen darf nicht zu Lasten einer Diskussion konkreter Probleme gehen, etwa der Frage, ob Sterbehilfevereinen der Zugang zu stationären Einrichtungen von Kirche und Diakonie gewährt werden kann, oder ob es möglich ist, dies über das Hausrecht zu verhindern, um nur ein Beispiel zu nennen. Immer klarer wurde auch, dass die vermeintlichen Gegensätze – etwa von Autonomie und Relationalität, von Selbstbestimmung und Fürsorge oder auch von »Begleitung« und »Beteiligung« an assistierten Suiziden, die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts noch einmal aufgeworfen worden waren – stark relativiert werden, sobald man auf die konkreten Anforderungen für Lösungen in der Praxis blickt, wie sie in Einrichtungen der kirchlichen und diakonischen Träger nach dem Urteil gesucht werden müssen und teilweise bereits gefunden wurden. Damit verbindet sich auch die Einsicht, dass sich die im Nachgang des Urteils diskutierten Problemlagen am ehesten induktiv und pragmatisch lösen lassen, statt sie deduktiv und gewissermaßen »dogmatisch« zu bearbeiten. Bereits 2020 hat die ›Diakonie Deutschland‹ einen breiten Diskussions- und Konsultationsprozess initiiert, um aus der Beteiligung der Einrichtungen und Werke die Frage nach dem Umgang mit dem assistierten Suizid verbandsintern einer Klärung zuzuführen. Als wichtigste Ergebnisse lassen sich festhalten, dass erstens Suizidassistenz nicht ohne Suizidprävention diskutiert werden sollte. Entsprechend ist es eine zentrale Forderung von Diakonie und Kirche geworden, die Suizidprävention insgesamt zu stärken und neben einem möglichen »Sterbehilfegesetz« auch ein Suizidpräventionsgesetz zu verabschieden, was der Bundestag in seiner Sitzung vom 6. Juli 2023 erfreulicherweise aufgegriffen hat. Zweitens wurde deutlich, dass es um »Schutzkonzepte« gehen muss für Menschen mit Suizidwunsch am Lebensende, aber...


Anselm, Reiner
Reiner Anselm, Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Vorsitzender des Bereichs „Kirche und Gesellschaft“ im Kammernetzwerk der Evangelischen Kirche in Deutschland und Mitherausgeber der Zeitschrift für Evangelische Ethik.

Meyer-Magister, Hendrik
Hendrik Meyer-Magister, Dr., ist Pfarrer und Studienleiter an der Evangelischen Akademie Tutzing. Er leitet dort das Referat für Gesundheit, Künstliche Intelligenz und Spiritual Care und ist zugleich stellvertretender Direktor der Akademie. 2017 wurde er an der Ludwig-Maximilians-Universität mit einer ethisch-theologischen Arbeit promoviert.

Lilie, Ulrich
Ulrich Lilie ist Pfarrer und Präsident der Diakonie Deutschland sowie stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung e.V. Er ist Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) und hat lange als Krankenhausseelsorger und Hospizleiter gearbeitet.

Karle, Isolde
Isolde Karle, geb. 1963, Dr. theol., ist seit 2001 Professorin für Praktische Theologie, insbesondere Homiletik, Liturgik sowie Poimenik, an der Ruhr-Universität Bochum. Sie ist in den letzten Jahren vor allem durch Publikationen zum Thema Kirchenreform hervorgetreten wie z.B. die viel diskutierte Monographie "Kirche im Reformstress" (2010/2011). Mit der neuen Publikation schließt Karle wieder an ihre Forschungen zu Theologie und Gender an ("Da ist nicht mehr Mann noch Frau", 2006) und führt diese fort.


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