Axelsson | Ich heiße nicht Miriam | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 496 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Axelsson Ich heiße nicht Miriam

Roman
15001. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8437-1160-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 496 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-1160-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



An ihrem 85. Geburtstag bekommt Miriam Guldberg von ihrer Familie einen silbernen Armreif geschenkt, in den ihr Name eingraviert ist. Beim Anblick entfährt ihr der Satz: 'Ich heiße nicht Miriam'. Niemand in ihrer Familie kennt die Wahrheit über sie. Niemand in ihrer Familie ahnt etwas von ihren Wurzeln. Doch an diesem Tag lassen sich die Erinnerungen nicht länger zurückhalten, und sie erzählt zum ersten Mal von ihrem Leben als Roma unter den Nazis, im KZ und als vermeintliche Jüdin in Schweden.

Majgull Axelsson gehört zu den derzeit erfolgreichsten Autorinnen Schwedens. Ihren Durchbruch hatte sie 1997 mit dem Roman Die Aprilhexe, für den ihr der renommierte August-Preis der schwedischen Verlegervereinigung verliehen wurde. Weitere Romane von ihr wurden ins Deutsche übersetzt. Als Journalistin hat sich Majgull Axelsson schon immer für gesellschaftliche Randgruppen interessiert und ihnen in ihren Büchern eine Stimme verliehen.
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Es ist immer noch Nacht, dennoch scheint die Sonne.

Nässjö ruht still unter dem klarblauen Himmel. Kein Windhauch streichelt die Birken des Stadtparks, kein Motor brummt die Rådhusgatan entlang, kein Zug saust auf den Bahnhof zu. Es ist so still, dass eine einsame Taube, die mit wiegendem Schritt über den Stora Torget eilt, plötzlich stehen bleibt und dem Sonderbaren lauscht. Vollkommen reglos steht sie da, den Kopf etwas zur Seite geneigt, wachsam abwartend, doch dann entdeckt sie ein halbes Brötchen ein Stück weiter und vergisst die Sache, setzt eilig einen roten Fuß vor den anderen und trippelt dorthin, sprachlos vor Glück über dieses Festmahl, das dort auf sie wartet. Nicht dass sie besonders hungrig ist. Niemand ist heutzutage noch besonders hungrig in Nässjö, nicht einmal Vögel oder Ratten. Hier gibt es genug zu essen für alle.

Trotzdem träumt Miriam vom Hunger. Seit mehr als sechzig Jahren versteckt sie sich in dieser Stadt und sie hat während dieser Zeit nicht eine Stunde hungern müssen, dennoch träumt sie jede Nacht vom großen Hunger ihrer Jugend. Das hat nichts mit dem Leben zu tun, das sie als Erwachsene gelebt hat oder das sie heute lebt, dennoch wird sie diese Träume nicht los, sie ziehen heran und beherrschen sie, zwingen sie achtundsechzig Jahre oder mehr zurück in der Zeit, bringen sie dazu, sich zu ducken und wegzulaufen, den Blick zu senken und den Rücken zu krümmen, ein Stück Brot von jemandem zu stehlen, der nicht mehr in der Lage ist, es zu essen, zu versuchen, einen kleinen Bruder zu füttern, der nicht einmal mehr schlucken kann, dicht neben Else beim Appell zu stehen und stumm das Alphabet herunterzuleiern, um nur Sekunden später in Elses unnatürlich groß geweitete Augen zu schauen, diese Augen, die …

All das geschieht immer und immer wieder. Nacht für Nacht. Und wenn außerdem noch Kaiser, der Schäferhund des Nachbarn, anfängt zu bellen, wenn er frühmorgens in den Garten hinausgelassen wird, dann glüht Miriams Inneres vor Angst, wenn sie die Augen aufschlägt.

Doch in dieser Nacht bellt Kaiser nicht, er schläft noch im Bett seines korpulenten Herrchens, also kann sie sich erlauben, langsam wach zu werden und eine Zeitlang zwischen Schlaf und Wachzustand zu verweilen. Diesen Zwischenraum liebt sie über alles, ein äußerst realer Raum, obwohl er nur in ihrer Phantasie existiert, ein Raum, in dem sie ihre Träume lenken und sie sanft und freundlich werden lassen kann, ein Raum, in dem all die Toten noch leben, in dem sie die Freiheit hat, zu sein, wer sie will und wo sie will, frei zwischen Zeiten und Orten schweben kann, zwischen Erinnerungen, Traum und Wirklichkeit. Aber das tut sie nicht. Nicht heute. Ganz im Gegenteil: Jetzt bleibt sie stehen und schaut sich um, registriert, dass der Zwischenraum an diesem Morgen kreisrund ist und dass alle seine Türen angelehnt sind. Gestern waren es vierundachtzig, heute sind es fünfundachtzig geworden, das weiß sie, ohne nachzählen zu müssen. Sie sind alle aus Teak, mit einer glänzenden Klinke versehen. Tatsächlich ähneln sie den Schranktüren in ihrer allerersten eigenen Küche, dieser Küche, die sie heißer und inniger geliebt hat, als sie jemals Olof liebte, und das will schon etwas heißen. Doch daran denkt sie im Augenblick nicht. Sie bleibt stattdessen vor ihren Schranktüren stehen und mustert sie, versucht auszurechnen, welches die erste und welches die letzte ist, hütet sich aber davor, eine von ihnen weit zu öffnen. Und siehe da! Hinter einer Tür entdeckt sie ein gestreiftes Stück Baumwollstoff, und das genügt, sie streckt die Hand aus und schlägt sie zu, lässt dann die Hand über die fünfzehn Türen davor und die fünf danach gleiten und schlägt sie alle mit kurzem, präzisem Schlag zu. Peng-peng-peng! Dann schaut sie sich um und lässt die Schultern sinken, lächelt und zieht ihren langen weißen Zopf über die Schulter nach vorn, streicht ihn unter der Nase entlang, als wäre er ein verschmustes kleines Haustier. So. Jetzt ist es an der Zeit, ganz allein für sich Geburtstag zu feiern, bevor der Rest der Familie aufwacht und ihre Erinnerung stört.

Fast eine halbe Stunde lang schaut sie in die vielen Schränke ihrer Erinnerung. Da läuft ihr ein kleiner Thomas entgegen, da nimmt sie ihn ganz fest in den Arm und wirbelt ihn herum, immer im Kreis herum, ihr gepunktetes Kleid huscht vorbei, und sein Kinderlachen lässt auch sie lachen. Und da ist sie Brautjungfer bei Hannas Hochzeit, und der Brautstrauß zittert in ihrer Hand, als Hanna in herzzerreißendes Weinen ausbricht, genau in dem Moment, als Egon ihr den Ring auf den Finger schiebt. Ich bin so glücklich, schluchzt Hanna und fährt sich ganz unpassend mit der rechten handschuhbekleideten Hand unter der Nase entlang. Entschuldigt! Ich bin nur so glücklich! Und alle lachen. Egon lacht und Olof lacht, der Bürgermeister lacht, der Notar lacht und Miriam lacht, doch plötzlich jammert Thomas in seinem Kinderwagen, und sie beugt sich hinunter und stopft die hellblaue Baumwolldecke fester um ihn. Aber hinter der nächsten Schranktür ist sie selbst die Braut, und sie kann sehen, wie schön sie ist, als sie in ihrem weißen Kleid den Mittelgang der Kirche entlanggeht. Sehr jung, sehr dunkel und sehr schön, doch Olof sieht etwas ängstlich aus, wie er an ihrer Seite geht. Vielleicht denkt er an seine vorige Hochzeit, seine richtige Hochzeit, die in der großen Kirche in der Innenstadt stattfand, aber diese Ehe währte nur gut ein Jahr, bis zu dem Tag, an dem seine junge Ehefrau Thomas gebar, an dem sie aufhörte zu atmen und ihr Herz aufhörte zu schlagen, und an dem sie sich unter keinen Umständen wieder zurück ins Leben locken ließ. Es kann auch sein, dass er sich Sorgen macht, weil Miriam, ohne ihm ein Wort davon zu sagen, nur einen Tag nachdem er um ihre Hand angehalten hatte, ins Kirchenbüro ging und erklärte, sie wolle dem Glauben ihrer Väter abschwören und in die schwedische Staatskirche eintreten – wenn sich das denn machen lasse. Und natürlich ließ sich das machen. Pfarrer Klintberg sabberte fast vor Begeisterung und machte sofort einen Termin für die Taufe gleich am kommenden Sonntag aus. Olof weiß, dass Miriam sich nicht so sicher ist, ob es tatsächlich einen Gott gibt, und er teilt ihre Zweifel in dieser Richtung, dennoch belastet ihn ihr Entschluss. Könnte es sein, dass sie nur wegen der Hochzeit konvertiert ist? Weil sie den Mittelgang der Sankta-Valborgs-Kapelle im weißen Kleid, mit Schleier und Myrtenkranz entlanggehen will? Weil sie hinterher in ihrem geliebten weichen Kaninchenpelz auf der Vortreppe der Kapelle stehen will, wenn seine Verwandten und Freunde Reis über sie regnen lassen? Und wenn dem so ist: Zu welcher Art von Mensch hat sie das werden lassen?

Zu einem Menschen, der dich liebt, flüstert Miriam mehr als sechzig Jahre später die Antwort. Zu einem Menschen, der bereits alles verloren hatte, sogar sich selbst, und der wusste, dass er es nicht überleben würde, sollte er auch dich verlieren; zu einem Menschen, der bereit war, zu lügen und einen Meineid zu schwören, nur damit du ihn niemals verlässt, und der in seiner großen Naivität glaubte, dass eine kirchliche Trauung mehr für dich bedeutete, wichtiger wäre und die Ehe sicherer und stabiler machen würde als eine standesamtliche. Du durftest nicht gehen! Deshalb mussten wir uns in der Kirche trauen lassen. Trotz Gott. Sicherheitshalber.

Sicherheit war das wichtigste Wort dieser Zeit, das hatte sie damals schnell begriffen. All diese sicheren Schweden wollten mehr Sicherheit haben, größere Sicherheit, geradezu übermenschliche Sicherheit. Die Schatten der Vergangenheit jagten sie, und sie jammerten die ganze Zeit über das, was gewesen war. Die letzte große Hungersnot vor nur vier Jahrzehnten! Die Arbeitslosigkeit, die Armut und Demütigung mit sich gebracht hatte, vor zwei Jahrzehnten! Der Krieg, der vor nur einem Jahrzehnt bis dicht an die Grenzen des Landes gekommen war, der Krieg, in dem Menschen auf der anderen Seite der Grenze erschossen und zerfetzt wurden, verhungerten und vergast wurden, zu Tode misshandelt und durch Zwangsarbeit vernichtet. Nichts schien die Erinnerung an ihre schrecklichen Schreie dämpfen zu können, aber niemand hier im Land mochte sie noch hören, niemand wollte daran denken, dass es Augenblicke des Verrats gegeben hatte, sogar ziemlich viele Augenblicke des Verrats, nein, höchstens wollten sie an ein paar verspätete Augenblicke des Heldenmuts denken, sogar ziemlich viele Augenblicke voller Heldenmut, aber am liebsten dachten sie doch daran, dass alle, sogar die Arbeiter, inzwischen am Sonntagmittag einen Braten auf dem Teller hatten, dass sie alltags Frikadellen und Bratwurst statt gebratenen Hering essen konnten, dass alle, wirklich alle, jeden Sommer drei Wochen bezahlten Urlaub bekamen und dass einige besonders fleißige Arbeiter sich sogar ein Auto anschaffen konnten. Ein eigenes Auto! Einen winzigen Volkswagen, der vor ihrem winzigen Eigenheim stand. Die Zukunft war also nicht länger auf dem Weg zu ihnen. Die Zukunft war da.

Und so erging es auch Miriam, das erkennt sie, als sie hinter die Schranktüren schaut, die sich kurz nach der Hochzeit öffnen. Da läuft sie lächelnd in ihren Garten, ein Tablett in den Händen, und es ist Sommer um sie herum. Die aprikotfarbenen Rosen blühen in den Beeten, die rosa Pfingstrosen zeigen ihre Blüten, und ein noch kümmerlicher, frisch gepflanzter Falscher Jasmin hat seine ersten Knospen geöffnet und präsentiert seine weißen Sterne. Auf dem Tablett steht ihre selbstgemachte Rhabarberlimonade aus dem vorherigen Jahr, ihr frischgebackener Marmorkuchen und die luftigen Zimtwecken, die inzwischen ihr ganzer Stolz sind. Olof lächelt sie an und erklärt, er hätte gern vor dem Kaffee ein Glas...


Axelsson, Majgull
Majgull Axelsson gehört zu den derzeit erfolgreichsten Autorinnen Schwedens. Ihren Durchbruch hatte sie 1997 mit dem Roman Die Aprilhexe, für den ihr der renommierte August-Preis der schwedischen Verlegervereinigung verliehen wurde. Weitere Romane von ihr wurden ins Deutsche übersetzt. Als Journalistin hat sich Majgull Axelsson schon immer für gesellschaftliche Randgruppen interessiert und ihnen in ihren Büchern eine Stimme verliehen.

Majgull Axelsson gehört zu den derzeit erfolgreichsten Autorinnen Schwedens. Ihren Durchbruch hatte sie 1997 mit dem Roman Die Aprilhexe für den ihr der renommierte August-Preis der schwedischen Verlegervereinigung verliehen wurde. Weitere Romane von ihr wurden ins Deutsche übersetzt. Als ausgebildete Journalistin hat sich Majgull Axelsson schon
immer für gesellschaftliche Randgruppen interessiert und ihnen in ihren Büchern eine Stimme verliehen.



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