E-Book, Deutsch, 360 Seiten
Babendererde Indigosommer
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-401-80025-7
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 360 Seiten
ISBN: 978-3-401-80025-7
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1. Kapitel
Hey, lass dich anschauen, Midget«, sagte Alec. »Du siehst toll aus, beinahe hätte ich dich nicht wiedererkannt.« Er grinste und ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Midget, Zwerg, so hatte er mich damals schon genannt.
»Du hast dich auch ganz schön verändert«, bemerkte ich. Meine Zunge fühlte sich taub und mein Englisch ziemlich eingerostet an. Seit zwanzig Stunden war ich unterwegs, war hundemüde und gleichzeitig völlig aufgedreht.
Alecs Grinsen wurde breiter, er schüttelte seinen Kopf mit den blonden Dreadlocks. »Die habe ich seit einem halben Jahr.«
»Steht dir«, sagte ich.
Meine Zähne hatten einen pelzigen Belag und ich bereute, mir nicht wenigstens einen Kaugummi in den Mund gesteckt zu haben, bevor ich aus dem Flieger gestiegen war.
Alec zuckte mit den Achseln. »Finden Mom und Dad nicht.«
Ich blickte an ihm vorbei, ließ meinen Blick suchend durch die Eingangshalle des Sea-Tac Airport schweifen, wo Reisende aller Hautfarben sich tummelten. »Wo sind sie eigentlich?«
»Müssen arbeiten. Janice ist babysitten bei Freunden. Ich bin das Empfangskomitee.« Alec breitete seine Arme aus und umarmte mich. Meine Nase war dabei schätzungsweise zehn Zentimeter über seinem Bauchnabel. Er duftete nach frischer Baumwolle und mein Herz vollführte Purzelbäume.
Alec Turner war meine erste große Liebe gewesen. Wenn man in einem Alter von zehn Jahren schon von Liebe sprechen konnte.
Unsere Väter waren ein Jahr lang Arbeitskollegen gewesen. Warren Turner arbeitete (und tat es immer noch) bei Boeing in Seattle und mein Paps hatte damals gerade eine Stelle im Boeing-Büro in Berlin angenommen. Deswegen waren wir vor sechs Jahren von Suhl (einer kleinen Stadt hinter sieben Bergen) in Thüringen in die Hauptstadt gezogen.
Anfangs kam ich nur schwer zurecht im Großstadtdschungel. Ich vermisste meine Freunde, die Berge, den Wald. Doch dann kamen die Turners nach Berlin. Mein Vater und Warren wurden Freunde und Alec und seine Schwester Janice meine bevorzugten Spielkameraden. Ich schwärmte glühend für den drei Jahre älteren Alec mit den blauen Augen und den hellblonden Locken, deshalb wollte ich alles verstehen, was er sagte. Auf diese Weise lernte ich Englisch.
Alec war damals schon groß für sein Alter und – im Nachhinein betrachtet – sehr geduldig mit dem dünnen Winzling, der ihm auf Schritt und Tritt folgte. Liebevoll nannte er mich Zwerg.
Als die Familie Turner nach einem Jahr zurück nach Seattle zog, dachte ich, die Welt müsse stehen bleiben. Aber das tat sie natürlich nicht.
Sechs Jahre später war Berlin mein Zuhause, ich brachte es auf beinahe einen Meter sechzig, war beinahe sechzehn und hatte meine erste feste Beziehung hinter mir. Sieben Monate lang hatte mein Himmel voller Geigen gehangen, bis schlagartig alles vorbei war. Sebastian machte Schluss, als er erfuhr, dass ich für ein Schuljahr nach Seattle gehen würde. Er sei kein Freund von Fernbeziehungen, hatte er mir kurz und bündig erklärt. Seattle und Berlin, das wäre nicht kompatibel.
»Ich komme wieder«, erinnerte ich ihn, erschüttert und zutiefst verletzt. Aber er meinte, dieses Jahr in Amerika würde mich verändern und er mochte mich nun mal so, wie ich war.
Das war jetzt auch schon wieder drei Monate her. In schwachen Stunden trauerte ich Sebastian immer noch nach. Immerhin, er war meine zweite große Liebe gewesen. Trotzdem brauchte es jetzt nur etwa fünf Minuten und meine alte Leidenschaft für Alec flammte erneut auf. Aus dem niedlichen Dreizehnjährigen war ein strahlend schöner junger Mann geworden. Zum Niederknien schön. Groß und sportlich, braungebrannt, entwaffnend charmant und witzig noch dazu. Und diese wunderbaren blauen Augen, die mich schon damals fasziniert hatten. Nur, dass sie nun eine Vielzahl an Gefühlen in mir hervorriefen, die ich als Zehnjährige noch gar nicht gekannt hatte.
Alec schnappte sich den Gepäckwagen und hievte meine Koffer darauf. Gemeinsam liefen wir in Richtung Ausgang. Er plauderte ganz unbefangen, als wären nur ein paar Wochen und nicht zwei Jahre vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Vor zwei Jahren hatte ich mit meinen Eltern bei den Turners in Seattle Urlaub gemacht, doch ausgerechnet in dieser Zeit war Alec mit seinen Kumpels zelten gewesen, sodass wir uns nur ganz kurz gesehen hatten.
Janice und ich hielten durch E-Mails Kontakt, aber von ihrem Bruder hatte sie nie viel geschrieben. Ich freute mich seit Wochen auf die Warrens und das Schuljahr in Seattle. Es würde mit Sicherheit eine aufregende Zeit werden und ich hoffte, Sebastian hier schnell und endgültig zu vergessen.
Verstohlen musterte ich Alec von der Seite. Seine Dreads wippten bei jedem Schritt. Als wir draußen auf den Parkplatz zusteuerten, fragte er: »Sag mal, Midget, was ist eigentlich mit deinen Haaren passiert?«
Verdammt! Von wegen: »Du siehst toll aus!« Während des Fluges hatte ich mir eine Vielzahl Erklärungen zurechtgelegt, aber nun geriet ich doch ins Stottern. Ich spürte, wie mir erneut die Röte ins Gesicht stieg. »Ein Missgeschick«, sagte ich und strich mir eine imaginäre Haarsträhne hinters Ohr. Alte Angewohnheit.
»Ein Missgeschick?«, fragte er nach.
»Kleine Tierchen.« Ich versuchte ein lockeres Lächeln.
Alec grinste amüsiert. »Ach so, verstehe. Steht dir aber.«
Na, wenigstens war er höflich. Ich war immer stolz auf meine langen kastanienbraunen Locken gewesen, doch die waren vor ein paar Wochen einer Geburtstagsparty zum Opfer gefallen, als ich im Bett irgendeines kleinen Bruders gepennt hatte. Pech. Sämtliche teuren Mittel gegen Läuse waren wirkungslos geblieben und ich hatte meine Haare opfern müssen. Inzwischen hatte ich eine ganz passable Kurzhaarfrisur, was allerdings nichts daran änderte, dass ich aussah wie ein Junge. Wie ein kleiner Junge. Da war nichts zu machen.
Es war Mitte Juni, Ferienzeit. Die Schule würde erst im September beginnen. Ich hatte mich dafür entschieden, schon zwei Monate vor Schulbeginn nach Seattle zu fliegen, einfach, um Zeit zu haben, mich einzugewöhnen. Mein Englisch war ganz passabel, aber in ein paar Wochen würde ich auch die Feinheiten wieder draufhaben, was mir den Schulstart erleichtern sollte.
Die Turners besaßen ein großes Haus mit Terrasse am Lake Union – ziemlich nobel, wie alle Häuser in der Gegend. Ich hatte mein eigenes Zimmer und teilte mir ein Bad mit Janice. Sie war ein Jahr älter als ich und wir waren bald wieder vertraut. Auch sie war groß und sah ihrem Bruder sehr ähnlich: dieselben blauen Augen mit den dunklen Brauen und Wimpern, der Kussmund, der dunkle Teint und das naturblonde Haar, das sie allerdings meistens ganz unspektakulär zu einem Pferdeschwanz gebunden trug. Wie Alec hatte Janice ein offenes, freundliches Wesen, sie war unkompliziert und ich kam gut mit ihr aus. Überhaupt fühlte ich mich schnell heimisch bei den Turners.
In der ersten Zeit rief ich noch jeden zweiten Tag bei meinen Eltern an, aber das gab sich bald. Ich begann, meine ungewohnte Freiheit zu genießen. Meine Eltern waren zwar nicht streng, aber es gab Regeln bei uns zu Hause. Bei den Turners schien es keine zu geben, was mir ausgesprochen gut gefiel.
Warren und Monica verhielten sich sehr herzlich mir gegenüber. Und abgesehen davon waren sie kaum zu Hause, sodass ich tun und lassen konnte, was ich wollte – genauso wie Janice und Alec.
Zu meinem Leidwesen bekam ich Alec in den ersten Tagen kaum zu sehen. Er war nur selten zu Hause, daraus schloss ich, dass er eine Freundin hatte. Natürlich hatte er eine – so blendend, wie er aussah. Um weibliche Aufmerksamkeit brauchte er sich bestimmt keine Sorgen zu machen. Irgendwann fragte ich Janice beiläufig danach, aber sie meinte nur: »Ich glaube nicht. Wenn er eine Freundin hat, dann schleppt er sie meist gleich zu Hause an. Ist immer total anstrengend, wenn die Grazien mit am Frühstückstisch sitzen und ich mich mit ihnen unterhalten muss.« Sie verdrehte die blauen Augen und grinste mich an. »Also, ich glaube nicht, dass er eine Neue hat. Er trifft sich mit seinen Freunden vom College. Sie planen ihren Surftrip.«
»Ihren Surftrip?«
»Ja, nach La Push. Das ist irgend so ein Nest in einem Indianerreservat an der Pazifikküste. Keine Surfhochburg oder so«, meinte sie achselzuckend, »aber es soll ein guter Platz für Anfänger sein, weil es dort keine Monsterwellen und keine einheimischen Surfer gibt, die einem die Wellen streitig machen. Alec war im letzten Jahr mit zwei Freunden dort.«
»Wie lange bleiben sie denn?«, fragte ich. »Übers Wochenende?«
»Nee, zwei oder drei Wochen.«
Zwei oder drei Wochen. Ich schluckte. Alec hatte nichts von seinen Reiseplänen erzählt. Jedenfalls nicht, wenn ich dabei war.
»Was ist mit dir?«, fragte ich Janice. »Fährst du auch mit?«
Sie zuckte erneut mit den Schultern. »Ich weiß noch nicht. Hängt davon ab, wer alles mitkommt....




