Baberowski | Was ist Vertrauen? | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 30, 154 Seiten

Reihe: Eigene und Fremde Welten

Baberowski Was ist Vertrauen?

Ein interdisziplinäres Gespräch

E-Book, Deutsch, Band 30, 154 Seiten

Reihe: Eigene und Fremde Welten

ISBN: 978-3-593-42238-1
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Vertrauen ist ein ebenso alter wie alltäglicher Begriff. Vertrauen sei gut, Kontrolle jedoch besser, verkündeten die bolschewistischen Revolutionäre. In der aktuellen Schuldenkrise ist davon die Rede, dass man Banken und Staaten nicht mehr vertrauen könne und Vertrauen zurückgewonnen werden müsse. Was aber ist Vertrauen? Wie lässt es sich theoretisch erklären und empirisch erforschen? Historiker, Politikwissenschaftler und Juristen erörtern diese Fragen aus interdisziplinärer Perpektive. Sie zeigen in ihren Beiträgen, dass Vertrauen das Fundament sozialer Beziehungen ist, weil es Menschen Sicherheit gibt und Gesellschaften stabilisiert.
Baberowski Was ist Vertrauen? jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Inhalt

Erwartungssicherheit und Vertrauen: Warum manche Ordnungen
stabil sind, und andere nicht .................................................................7
Jorg Baberowski

Über Vertrauen reden: Historisch-kritische Beobachtungen.................31
Ute Frevert

Vertrauen: Drei Beispiele aus einer praxistheoretisch orientierten
Geschichtswissenschaft........................................................................49
Thomas Welskopp

»Die Wahrung der Finanzmarkte ist Vertrauen«: Nachhaltigkeit
und Hinterhältigkeit eines mentalen Phänomens in historischer
Perspektive ..........................................................................................73
Jakob Tanner

Vertrauen als Voraussetzung, Inhalt und Gegenstand von Recht........101
Ann-Katrin Kaufhold

Vertrauen in Räumen begrenzter Staatlichkeit .
Eine politikwissenschaftliche Analyse ................................................127
Thomas Risse

Auswahlbibliographie ........................................................................147

Autorinnen und Autoren...................................................................153


Erwartungssicherheit und Vertrauen: Warum manche Ordnungen stabil sind, und andere nicht
Jörg Baberowski
Als nach dem Ende der Sowjetunion Reporter aus Deutschland die Kohlegruben
in Donezk besuchten, wollten sie von den Arbeitern wissen, wie
sie über die Meinungsfreiheit dächten, die Michail Gorbatschows Reformen
ihnen beschert hatten. Natürlich erwarteten die Männer und Frauen
aus dem Westen, dass die Arbeiter ihnen bestätigten, was sie für selbstverständlich
hielten: dass die Macht des freien Wortes über die Finsternis der
Diktatur gesiegt hatte. Zwar war die alte Ordnung zerfallen, und ihre Rituale
wirkten nun seltsam fremd. Aber die Arbeiter empfanden das Ende
der Sowjetunion als tiefe Verunsicherung. Die Inflation hatte die Währung
entwertet, in den Geschäften gab es nichts zu kaufen, und von der
Arbeit in den Kohlegruben und Stahlwerken konnten sie nicht mehr leben.
Auf den Straßen regierte das Faustrecht und in der Politik übernahm
die Mafia, wofür einst die Kommunistische Partei zuständig gewesen war.
Er jedenfalls brauche seinen Mund nur zum Essen, antwortete ein Arbeiter
auf die Frage, was ihm die Meinungsfreiheit gegeben habe.
Wenige Jahre nach dem Ende der Sowjetunion war der Glaube an die
Beherrschbarkeit der Welt erschüttert. Niemand mochte den Versicherungen
der politischen Führung noch glauben, die von freier Marktwirtschaft
und freien Wahlen sprach, aber nur den Mangel und das Chaos verwaltete.
Das Vertrauen darauf, auch am nächsten Tag noch Arbeit und Brot,
Sicherheit und Ordnung zu haben, war zerstört. Als die alte Ordnung zerfiel,
hofften auch die Arbeiter in den Kohlegruben von Donezk, dass alles
besser werden würde. Die Enttäuschung aber tauchte das Leben in der
Diktatur in helles Licht. »Wir müssen alles auf neue Weise tun«, sagte eine
Arbeiterin, die vom amerikanischen Historiker Lewis Siegelbaum im
Jahr 1992 befragt wurde. »Wir sind jetzt wie blinde Welpen.« Was im
Westen für eine Errungenschaft gehalten wurde, empfanden die Arbeiter
aus Donezk als Verhöhnung und Demütigung. Die Diktatur hatte über
die Demokratie, das Verlangen nach Ordnungssicherheit über die Freiheit
gesiegt.
1. Stabilität und Erwartungssicherheit
Nur vor dem Hintergrund überwundener Unsicherheit wird das Leben
in seiner Stabilität wahrnehmbar und erfahrbar. In den Zeiträumen des
Übergangs scheidet sich Altes von Neuem, und es ist zu erwarten, dass
Menschen, die eine Krise hinter sich gelassen haben, sich noch an sie erinnern
und über die Stabilisierung ihres Lebens anders sprechen als all jene
Menschen, für die das Leben in stabilen Verhältnissen eine Selbstverständlichkeit
ist. Die einen werden die Stabilisierung sozialer Verhältnisse zum
Gegenstand ihrer Selbstvergewisserung machen, die anderen werden, was
für sie eine Selbstverständlichkeit ist, nicht als Herausforderung begreifen,
auf die sie eine Antwort geben müssen.
Veränderungen operieren mit schon Vorhandenem. Alles Neue muss
sich zum Alten in Beziehung setzen, und deshalb kann der Wandel nicht
von seiner Deutung getrennt werden. Es kann keine Stabilisierung geben,
die nicht auch in den Köpfen und Herzen von Menschen als Stabilisierung
wahrgenommen wird. Wenngleich Menschen nur selten eine
Verfügungsgewalt über das Geschehen besitzen, das sie mitreißt und an einen
Ort stellt, haben sie dennoch die Entscheidung darüber in der Hand,
wie sich ihr Leben verändert. Wie sich der Wandel vollzieht, hängt davon
ab, ob man ihn auffängt, steuert und für eigene Zwecke nutzbar
macht, ob man Veränderungen aushält, weil man den Institutionen und
Regelsystemen vertraut, die eine Gesellschaft zusammenhalten, oder ob
man an Herausforderungen zerbricht, weil es keine sozialen Mechanismen
gibt, die es Menschen ermöglichen, Veränderungen auszuhalten oder
als Lebensgewinn zu begreifen. Wer Teil einer Misstrauensgesellschaft ist,
Krieg und Zerstörung erlebt hat, wird Veranderungen anders bewältigen
als jemand, der in einer sozial abgesicherten und verregelten Umwelt lebt.
Der eine wird Wandel möglicherweise als nicht kalkulierbare Bedrohung
verstehen, der andere als Chance begreifen, weil seine alltäglichen Lebensrisiken
durch Regelvertrauen kompensiert werden können.
Auf den ersten Blick scheinen Wandel und Stabilisierung einander auszuschließen,
denn was dem Wandel unterworfen ist, ist in Bewegung. Aber
aus Bewegung und Veranderung kann Stabilität erwachsen, entweder, weil
Menschen in modernen, differenzierten und arbeitsteiligen Gesellschaften
erwarten, dass sich stets alles ändert, oder weil vormoderne, nicht differenzierte
Misstrauensgesellschaften ihre Stabilität dadurch gewinnen, dass sie
den Wandel durch Bewahren des Bewahrten bewältigen. In beidem ist
der Wandel auf eine Weise im Spiel, dass er sich mit der Stabilisierung
von Lebensverhaltnissen in Einklang bringen lässt.
Im Licht des Wandels zeigt sich, was sich vom Alten im Neuen erhält,
dass es keine Stabilisierung geben kann, die nicht zugleich Praktiken
enthielte, die Menschen gegen Krisen immunisieren: durch Sozialisation
erworbene Fähigkeiten, das Leben zu bewältigen, Erinnerungen, die aus
dem kulturellen Wissen längst vergangener Zeiten schöpfen, Rituale und
Symbole, die Gemeinschaft stiften und Vertrautheit schaffen. Es gibt keine
Erfahrung ohne Tradition und keinen Wandel ohne Widerstand, gegen
den er sich durchsetzen muss. Allein vom sozialen und kulturellen Ort
hängt es ab, auf welche Weise sich Ordnungen stabilisieren, wie haltbar
und von welcher Dauer sie sind. Denn jeder Lebensbereich hat einen eigenen
Veränderungsrhythmus, der ihn von anderen unterscheidet. Was
immer auch ins Gleichgewicht gebracht wird: es gibt keine Stabilität, die
nicht aus der Dialektik von Wandel und Tradition lebt.
Situationen der Stabilisierung sind Momente der Entschleunigung, der
Veränderung des Lebensrhythmus, weil Menschen, die Institutionen und
Regeln vertrauen und sich der Gewohnheit hingeben, Zeit sparen. Denn
der Aufwand, den sie betreiben müssen, um Informationen zu beschaffen
und Risiken vorzubeugen, wird sich in Grenzen halten, wenn sie darauf
vertrauen können, dass die Veränderung der Verhältnisse ihre Lebenswelt
nicht erschüttern wird.
Warum und wodurch sind Ordnungen stabil? Eine mögliche Antwort
könnte lauten: wenn Menschen Erwartungssicherheit haben und sich
durch wiederkehrende soziale Praktiken daran gewöhnen, für normal zu
halten, was ihnen täglich widerfährt. Gegen Gewohnheiten kann die Vernunft
nicht Recht behalten, weil Gewohnheiten das Leben strukturieren
und es in eine stabile Ordnung bringen. Menschen nehmen an Ritualen
teil, obgleich sie wissen, dass sie vor der Vernunft nicht bestehen können,
aber sie tun es nicht, weil sie von ihrem überlegenen Sinn überzeugt sind,
sondern weil sie ihrem Leben einen Halt geben und es berechenbar machen.
Aber damit wäre über die Stabilisierung von Lebensverhältnissen
nur die halbe Wahrheit gesagt. Denn es ist natürlich vorstellbar, dass
Kriege, Blutrachefehden, Diktaturen und Massaker für normal gehalten
werden, vor allem von solchen Menschen, die nie etwas anderes kennen
gelernt haben. Selbst im Ausnahmezustand, in Kriegen und Diktaturen
kann es eine Erwartungssicherheit geben, die auf Selbstverständliches
verweist. Denn man kann mit der Unsicherheit leben und Vorkehrungen
treffen, um sich auf sie einzustellen. Wenn der Tod zur Normalität
wird, Gewalt und Willkür regieren, wird die richtige Einschätzung von
Situationen zur Lebensversicherung. Auch sie wird erlernt, und bald
schon gewöhnen sich Menschen daran, der Unsicherheit so zu begegnen,
dass man sie kulturell bewältigen kann. Ordnungssicherheit entsteht erst
dort, wo Menschen wissen, was sie und was andere tun dürfen und tun
müssen; wenn sie zu wissen glauben, dass die anderen sich auch wirklich
so verhalten, wie es von ihnen erwartet wird. Solche Erwartungssicherheit
ist auch dort möglich, wo Angst und Schrecken den Alltag strukturieren.


Jörg Baberowski ist Professor für Geschichte Osteuropas an der HU Berlin.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.