Unsere Haltung zum Tierwohl
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-7407-9740-9
Verlag: Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Nicht immer geht es dabei sachlich zu. Die Kontroverse beginnt schon bei der Definition: Was ist überhaupt unter Tierwohl zu verstehen? Woran erkennen wir, ob es einem Tier gut geht? Ein glänzendes Fell? Schwanzwedeln? Wedeln Kühe überhaut mit dem Schwanz, wenn sie sich wohlfühlen? Womit wedelt ein Huhn?
Das Problem ist: Eine allgemeingültige Definition von Tierwohl gibt es nicht. Klar ist nur eines: Der Diskurs über das Tierwohl ist ein Kampf um die Deutungshoheit.
Dieses Buch bildet den aktuellen Diskurs über das Tierwohl mit seinen gegensätzlichen Meinungen ab, liefert auf unterhaltsame Weise Fakten und ordnet diese ein. In diesem Buch kommen Menschen zu Wort, die ganz unterschiedliche Haltungen zum Tierwohl haben: Veganerin und Jägerin, Landwirtin und Tierrechtler, Wissenschaftler und Schlachthofbesitzer.
Das Buch bietet die Chance, unterschiedliche Perspektiven zu diesem kontroversen Thema zu entdecken.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Hans Nehoda, Wissenschaftler und Berater im Gesundheitswesen:
„Die Lohnmästerei gehört abgeschafft und dafür müssen die echten
Bauern mehr gefördert werden.“
von Mechthild Baumann Es ist ein frostklarer Nachmittag in Berlin. Die Sonne scheint, der Himmel strahlt in seinem schönsten Blau und doch ist der Blick auf Professor Nehoda vernebelt von Stein- und Zementstaub. Der Wissenschaftler wartet vor einem Nebengebäude der Humboldt-Universität unter einem Baugerüst. Er hat die Arme um seinen Oberkörper geschlungen, die Schultern bis hoch zu den Ohren gezogen und tritt von einem Fuß auf den anderen. Gerade in Berlin kann es eisig kalt sein, der Wind tut sein Übriges und weht uns, bevor meine Kollegin und ich ihn begrüßen können, eine große Staubwolke und den Lärm eines Presslufthammers entgegen. Wir schütteln kurz die Hände und schon schiebt Nehoda uns durch eine alte, schwere Holztür ins Innere des Gebäudes. Erst im Inneren des großzügig gestalteten Foyers, aus dessen Zentrum sich eine rote Marmortreppe elegant nach oben schwingt, wird klar, dass wir uns in einem historischen Gebäude befinden. Der architektonische Eindruck des 18. Jahrhunderts wird jedoch schnell überlagert vom Geruch der neueren Geschichte. Noch 30 Jahre nach der Wende riecht es hier nach DDR, ein wenig verstaubt. In einem knarzigen, windschiefen Aufzug zuckeln wir dicht aneinandergedrängt in das oberste Stockwerk. Durch einen verwinkelten, dunklen Gang gelangen wir schließlich in Doktor Nehodas Büro, das er sich mit seinem 86 Jahre alten Doktorvater teilt. Wer Klischees über Wissenschaftler sucht, der findet sie hier, in diesem kleinen Eckzimmer, das vom Boden bis unters Dach mit Büchern, Papieren und Aktenordnern vollgestopft ist. Ein betagter Professor mit schlohweißem Haar und akkurat schief sitzender Baskenmütze empfängt uns herzlich und „verzieht sich“ sogleich, um uns Platz zu schaffen in seinem „Refugium“. Nicht jedoch, ohne uns stolz zu verkünden, dass er der einzige Professor der DDR war, der auch nach der Wende an der Humboldt-Universität seine Professur behalten konnte und kurz darauf einen vielversprechenden Doktoranden annahm: Hans Nehoda. Der wiederum ist Westdeutscher. Was bringt einen westdeutschen Studenten dazu, direkt nach der Wende bei einem ostdeutschen Professor zu promovieren? „Ich hatte keine Lust auf diese selbstzufriedenen, arrivierten westdeutschen Professoren“, antwortet er mit einem verschmitzten Lächeln. Wir haben es offenbar mit einer Persönlichkeit zu tun, der die Auseinandersetzung mit der Wissenschaft und ihrem Dissertationsthema wichtiger ist als ihre Karriereperspektive. Heute ist Dr. Nehoda, Jahrgang 1953, Wissenschaftler und hat neben seiner Psychologieforschung auch in der Wirtschaft gearbeitet. Seit vielen Jahren schon pendelt er zwischen Berlin und seinem Wohnort in Westfalen, wo seine Familie lebt. Nehoda: Ich habe extra Saft gekauft für Sie. Eine Kaffeemaschine haben wir nicht. Beherzt gießt er uns ein und schaut uns erwartungsvoll an. MB: Herr Nehoda, essen Sie Fleisch? Nehoda: Ja, Huhn, das esse ich. Ich bin wahrscheinlich auch ein bisschen durch Indien beeinflusst, da gibt’s eben Huhn. Das ist in Indien Standard, wenn man Fleisch isst, dann gibt’s meistens Huhn. Es gibt auch noch Schaffleisch. Aber das esse ich schon nicht wegen meiner beiden Jungs, Dr. Klinker-Emden und Herrn Müller-Lüdenscheidt, das kann ich auch nicht mehr essen. Das macht uns neugierig. Was haben diese beiden Herren Doktoren mit dem Schaffleischkonsum von Dr. Nehoda zu tun? Sind es Kollegen? Nehoda: Ich habe auch selbst Schafe gehalten, als ich selbst mal einen Bauernhof gepachtet hatte, weil ich das mal erleben wollte. Und meine beiden Schafböcke haben auch auf ihren Namen gehört. Ich habe die immer gefüttert, wenn ich von der Arbeit kam. Die hießen Dr. Klinker-Emden und Herr Müller-Lüdenscheidt, aber es reichte auch, wenn ich „Jungs“ sagte. Dr. Nehoda blickt aus dem Fenster und lacht kurz auf beim Gedanken an seine Schafe. Nehoda: Weil ich die Böcke nicht kastriert hatte, waren sie nicht ungefährlich. Als sie einmal einen Nachbarn geboxt haben, wurde mir das Risiko zu groß. Außerdem lag die Weide auf dem Schulweg der Grundschule und regelmäßig haben die Kinder auf der Weide Äpfel gepflückt. Als ich dann einen Schlachter gerufen habe, sagte er: „Ach, jetzt müssen wir die noch einfangen!“ Und ich erwiderte: „Ich ruf die Böcke und dann kommen sie zu uns.“ Der Schlachter konnte das gar nicht glauben. Dr. Nehoda schaut sehr ernst und versinkt kurz in seinen Gedanken. Nehoda: An diese Situation denke ich noch heute. Meine Schafböcke hatten ja auch einen Namen und ich wusste nicht, was auf mich zukommt mit dem Schlachter. Nachdem die Schafe vom Schlachter verladen waren, habe ich etwas mehr als eine Woche gewartet. Danach rief er mich an und sagte, wir müssten über den Preis sprechen. Ich dachte, ich geh zu ihm und dann sagt er mir in seinem Büro, wie schwer die Tiere waren und wie viel Geld er mir pro Kilo zahlen kann. Aber der Termin bei ihm verlief völlig anders. Ich sah unerwartet, dass meine beiden Böcke dort an einem Haken hingen und der Schlachter wollte über die Qualität des Fleisches mit mir sprechen. Dieses Gespräch war an der Grenze des Erträglichen für mich, weil ich gleichzeitig Herrn Müller-Lüdenscheidt und Dr. Klinker-Emden an dem Haken sehen musste. Der Schlachter sagte mir dann, die beiden seien zu fett und deswegen müsse man da etwas rausrechnen, weil Fett weniger Geld bringt als Fleisch. Das kann ich mir selbst nicht verzeihen, dass ich das gemacht habe. Das nennt man dann wohl unethisches Verhalten. Stille im Raum. Herr Nehoda blickt traurig aus dem Fenster. MB: Was genau können Sie sich nicht verzeihen? Nehoda: Das ich zu diesem Schlachter gegangen bin und mit ihm den Wert des Tieres verhandelt habe anhand der Fettstruktur. Mein Verhalten damals fand ich unentschuldbar. MB: Unentschuldbar Ihren Schafen gegenüber? Nehoda: Man sagt ja immer, man sollte Tieren keinen Namen geben, weil sich dann eine Beziehung aufbaut. Auch aus diesem Grund haben die Masttiere ja auch eine Nummer. Weil meine beiden Böcke einen Namen hatten, und fünf Jahre auf meinen Hof lebten, und von den Bauern der Umgebung im Winter mitversorgt wurden, weil ich mich zeitlich nicht kümmern konnte und auch kein Futter hatte, hat sich natürlich eine Beziehung zu ihnen aufgebaut. Ich kann sogar sagen, dass beide einen unterschiedlichen Charakter hatten. Die Bauern sagten mir damals: „Bist du bekloppt? Die müssen geschlachtet werden!“, und ich sagte: „Nein, die gehören zur Familie.“ Und dann hatte ich einen Nachbarn, „Schulten-Hannes“, der zu mir zum Apfelpflücken gekommen ist. Ich hatte ungefähr zwei Hektar Obstwiese und er fragte mich an diesem Tag, ob er Obst für einen Apfelkuchen pflücken dürfte. Nachdem er die Weide betreten hat, sind meine beiden Böcke auf ihn losgegangen. Dann habe ich mir gedacht, dass die beiden Böcke zu einem Risiko werden können, weil auch Kinder sich manchmal Äpfel geholt haben. Das Risiko wurde mir einfach zu groß. Deswegen habe ich mich so entschieden, sonst hätten die noch viel länger gelebt. Herr Nehoda greift zur Glaskaraffe und schenkt uns Wasser ein. Diese kurze Pause erlaubt es allen, kurz innezuhalten. Die Erinnerungen an seine geschlachteten Schafe wecken Schuldgefühle in dem Wissenschaftler, der es gewohnt ist, Dinge nüchtern und rational zu bewerten. Nehoda hat den Begriff „Ethik“ ins Spiel gebracht. Ist es unethisch, zwei aggressive Schafe zu schlachten? Oder ist es unethisch, den Fleischpreis von Tieren zu verhandeln, die einem ans Herz gewachsen waren? Es wäre an dieser Stelle interessant, den Schlachter dazu zu befragen. Für ihn waren Herr Müller-Lüdenscheidt und Dr. Klinker-Emden wahrscheinlich zwei Nutztiere wie die vielen anderen, die er jeden Tag tötet und für die Weiterverarbeitung zerlegt – nur fetter. Doch Dr. Nehoda hatte ihnen Namen gegeben, sie aus der Anonymität geholt und so eine Beziehung zu diesen Tieren aufgebaut. Das Fleisch seiner Schafe konnte er anschließend nicht essen. Auch das anderer Schafe seitdem nicht mehr. Fast klingt es, als habe hier ein Städter zur Selbstverwirklichung einen Bauernhof gepachtet und sein erstes (traumatisches) Erlebnis mit der Lebenswirklichkeit der Nutztierverarbeitung gehabt. Doch dem ist mitnichten so. Nur auf den ersten Blick wirkt Nehoda, als sitze er den ganzen Tag im wissenschaftlichen Elfenbeinturmbüro der altehrwürdigen Humboldt-Universität. Nehoda ist auf einem Bauernhof groß geworden, zumindest teilweise. In mehreren Generationen hat seine Familie mütterlicherseits als Bauern gearbeitet. Sie hatten Schweine und Hühner zu Hause und vom Großvater hat er mit sieben Jahren gelernt, Hühner zu schlachten. Nehoda: Das Huhn machte er erst bewusstlos, indem er es drehte. Dann hat er ihm den Kopf abgeschlagen. Das Huhn, das er damals schlachtete, hat sich befreit und flog weg. Das hat mich als Kind sehr...