E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Becker Das Drehbuch-Tool
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-946930-08-2
Verlag: Master School Drehbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Charaktere und Struktur gestalten mit dem Enneagramm
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-946930-08-2
Verlag: Master School Drehbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Enneagramm beschreibt neun verschiedene Charakterprofile und leitet daraus eine Vielzahl von Beziehungskonstellationen und Persönlichkeiten ab.
Jens Becker erschließt die legendäre Typenlehre aus der Antike für die Drehbuchschreibenden von heute. Er entdeckt sie neu als Instrument zur Entwicklung dynamischer Stoffe und Figuren. In seine Überlegungen zum Enneagramm fließen Erkenntnisse aus Psychologie und Soziologie mit ein.
Jens Beckers Drehbuch-Tool hilft, glaubhafte Charaktere und Ensembles zu entwerfen. Darüber hinaus enthält es ein eigenes Strukturmodell, mit dem fesselnde und bewegende Handlungsstränge entwickelt werden können.
Wenn Sie den nächsten Schritt Ihrer Figuren nicht kennen, wenn Ihr Plot zu spannungsarm ist, wenn es Ihren Charakteren noch an Tiefe mangelt, wird Ihnen dieses Buch den Weg weisen. Jens Becker bereitet das Enneagramm für alle auf, die Drehbücher schreiben oder die an einem Roman, einer Erzählung oder einem Theaterstück arbeiten.
Im Buch finden Sie außerdem den Zugang zu einer Website mit zahlreichen Vertiefungen und einigen szenischen Beispielen.
Zielgruppe
Drehbuchautor:innen, Dramaturg:innen, Redakteur:innen, Produzent:innen, Regisseur:innen, Filmschaffende, Studierende aus dem Film- und TV-Bereich
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
VORFILM
Dieses Kapitel erzählt nichts über Figuren, aber viel über die Natur
des Menschen. Wenn Sie zu ungeduldig sind, können Sie den Vorfilm
auch überspringen. Sie werden den Hauptfilm trotzdem verstehen.
Aber vielleicht verpassen Sie etwas! Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Sie kennen diese alte Weisheit vielleicht. Auf unser Thema bezogen bedeutet sie, bevor wir uns tiefer mit Figuren befassen können, sollten wir uns mit der Natur des Menschen beschäftigen. Denn Figuren bilden doch Menschen ab, oder? 1. MENSCH UND FIGUR
Wir müssen immer klar unterscheiden zwischen Menschen und Figuren. Während Menschen von unendlich vielen Einflüssen geprägt sind, sehr vielfältig handeln können und kompliziert strukturiert sind, verhält sich das bei Figuren völlig anders. Sie können niemals so komplex wie Menschen sein, sondern täuschen das nur vor. Wir erliegen nur zu gern der Illusion, dass die Figuren auf der Leinwand oder dem Bildschirm echte Menschen seien, denn diese Verabredung zwischen Filmschöpfern und Zuschauern ist ein wesentlicher Aspekt des Mediums. Wenn wir das nicht genau wüssten, dann könnten wir die Filme vielleicht nicht ertragen, wenn sie besonders grausam sind oder wenn die Figuren an ihre Grenzen geführt werden. Wir sehen ihnen beim Stolpern, beim Scheitern und wieder Aufstehen zu. Wir leiden und freuen uns mit ihnen, weil wir anhand unserer eigenen Lebenserfahrungen ermessen, welche Intensität, Fallhöhe und Konsequenzen der Konflikt hat, den wir in der Story gerade miterleben dürfen. Für diesen spezifischen Moment der Identifikation zwischen Zuschauer und Figur hat Aristoteles in seinem Grundlagenwerk POETIK den Begriff Katharsis geprägt. Die Katharsis möge der seelischen Reinigung dienen, so Aristoteles, indem wir auf ungefährliche Weise Jammer und Schmerz durchleben. Gotthold Ephraim Lessing hat in seiner HAMBURGISCHEN DRAMATURGIE von Mitleid und Furcht gesprochen, die den Zuschauer moralisch bessern solle. Warum funktioniert dieses System so gut, jahrtausendelang? Weil wir im Theater, im Spielfilm, in der Serie im weitesten Sinne immer über uns erzählen, über uns Menschen. Wir durchleben unsere Ängste, unsere Abgründe, unsere Hoffnungen wie in einem Spiegel. Ein moderner Erneuerer der Dramaturgie jedoch, Bertolt Brecht, hielt nicht viel von Einfühlung. Er verachtete die Katharsis und wollte stärker das Denken der Zuschauer herausfordern. Dafür fand er ein radikales Mittel – das Heraustreten des Schauspielers aus seiner Rolle mittels Durchbrechen der vierten Wand, der zum Zuschauer. Diesen Effekt nannte Brecht Verfremdung. Indem die Darsteller das Publikum direkt ansprechen, verlassen sie das Stück und die Spielverabredung. Hinter der Figur X wird plötzlich der Schauspieler Y sichtbar. Diese Brechtsche Entzauberung findet im Film nur selten statt. Warum eigentlich? Vielleicht weil die Kunst des Films stärker noch als das Theater eine Abbildung der Realität suggeriert und genau daraus ihre Wirkungskraft gewinnt. Diese Kraft zu schwächen, hält das Medium nur in besonderen Augenblicken oder Konstellationen aus. Ein solcher Ausnahmemoment war zum Beispiel im Jahr 1940 das Heraustreten von Charlie Chaplin aus seiner Rolle am Ende des Films DER GROSSE DIKTATOR. Charlie, der sich als Filmfigur bis dahin auch standhaft geweigert hat zu sprechen, hält plötzlich eine minutenlange Rede an die Menschheit. Indem Chaplin direkt in die Kamera blickt, also seine Zuschauer anschaut, wird hinter seiner Maske der Schauspieler Charlie Chaplin sichtbar. Er hält eine so grundlegende, ergreifende Rede, dass es nicht verwundert, wenn diese Szene zugleich die letzte für diese außergewöhnliche Filmfigur wird. Als der Mensch Chaplin sichtbar wurde, musste die Filmfigur verschwinden. Über 70 Jahre später schaut Kevin Spacey als Francis Underwood in der Serie HOUSE OF CARDS in die Kamera. Er tut dies recht oft und es zeigt sich, dass die Verfremdung nicht mehr so extrem wirkt, wie noch zu Chaplins Zeiten. Der Mensch gewöhnt sich eben an alles, auch an postmoderne Erzählweisen. Dafür entsteht heute mit dem Aufkommen von interaktiven Games und der Verbreitung von Virtual Reality ein ganz neues Level für audiovisuelle Erzählungen: Die Zuschauer werden zu Usern und damit selbst zum Teil der Handlung. Unser Publikum verlässt die Sitze und betritt die Bühne. Es verschmilzt in Rollenspielen interaktiv mit den Figuren. Die User suchen sich ihre Rollen nicht nur aus, sie gestalten sie sogar, im Charakter und im Handeln. Was für ein großer Schritt, was für spannende Chancen und Herausforderungen für die Kunst der Narration! Gerade weil das Verhältnis zwischen Mensch und Figur in der Postmoderne also offensichtlich immer komplexer wird, fangen wir unsere Überlegungen ganz von vorn an – beim Menschen. 2. INDIVIDUALITÄT UND GRUPPENVERHALTEN
Alles ist Schwingung. Ständig ziehen Menschen einander an oder stoßen einander ab. Wir sind immer Teil einer Gruppe, sogar gleichzeitig Teil von vielen Gruppen. Ich gehöre zum Beispiel zu den Europäern, zu den Deutschen, zu den Männern, zu den Vätern, zu den Künstlern, zu den Kaffeeliebhabern, zu den Autofahrern, zu den Fans von Tim und Struppi, zu den ... na und so weiter. Und dabei lege ich großen Wert auf meine Individualität! Die Frage ist: Können wir überhaupt individuell sein, wenn wir zugleich immer auch Gruppenmitglieder sind? Ich saß einmal vor einer Seminargruppe an der Filmuniversität Babelsberg, ein Ort, an dem individuelle Selbstverwirklichung ein hohes Gut ist. Während die Gruppe an einer Aufgabe schrieb, fiel mir auf, dass alle diese Individualisten schwarz gekleidet waren und silberne Notebooks vor sich hatten mit einem leuchtenden Apfel darauf. Wirklich alle. Wie ist das einzuordnen? Wir haben ein starkes Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Menschseins. Wir sind Teil von Gruppen, weil wir Bestätigung suchen für ganz wesentliche Schwingungen in uns, man könnte sagen: für unser Weltbild. Wir definieren uns durch diese Gruppenzugehörigkeit und reduzieren dadurch unsere Unsicherheit. Eine Gruppe kann unserem Leben einen Sinn geben, einen Halt. Sie verschafft uns Bindung an andere Menschen, denn wir sind soziale Wesen. Und was ist mit den Einsamen, könnte man kritisch einwerfen. Nun, die gehören eben zur Gruppe der Einsamen. Warum wir uns Gruppen suchen, dazu gibt es verschiedene Theorien. Es ist wie immer, drei Wissenschaftler – vier Meinungen. Die sich vielleicht nicht mal widersprechen, sondern ergänzen. Die Evolutionstheoretiker sind überzeugt, dass Gruppen uns elementare Vorteile verschaffen beim Kampf gegen Feinde, bei der Beschaffung von Nahrung und beim Hüten der Kinder. Die Erfahrung, dass wir in Zusammenarbeit und damit in Gruppen besser überleben, habe sich inzwischen genetisch manifestiert in einem tief verankerten Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Der Sozialpsychologe Leon Festinger entwickelte 1954 eine Theorie des sozialen Vergleichs. Sie besagt, dass wir uns Gruppen aussuchen, zu denen wir gehören wollen, weil wir hier Bestätigung für unsere Meinung finden. Gleich und gleich gesellt sich gern. Das können virtuelle Filterblasen bei Facebook sein oder politische Parteien, Fußballfangruppen oder der Imkerverein. Das Gefühl, mit seinen Auffassungen nicht allein zu sein, ein Verständnis für die Welt mit anderen zu teilen, verstärkt das Selbstbewusstsein und gibt unserem Leben mehr Sinn. Und dann gibt es noch die utilitaristische Austauschtheorie von John Thibaut und Harold Kelley aus dem Jahr 1959. Sie sehen den Sinn von Gruppen etwas nüchterner. In der Gemeinschaft würde man sich einfach Vorteile verschaffen durch den Austausch von Gütern – und zwar psychologischen (Zuneigung), materiellen (Dinge) und sozialen (Unterstützung). Das sei eine Kosten-Nutzen-Rechnung und man bleibe solange in einer Gruppe, wie der Nutzen die Kosten übersteigt. Wenn jedoch die Kosten den Nutzen übersteigen, dann würden wir aus der Gruppe austreten und nach Alternativen suchen. Halten wir also einen Gedanken fest, der später noch wichtig sein wird, wenn wir uns mit Figuren beschäftigen: Zwar sind wir Menschen alle Individuen, aber aus vielerlei Gründen sind wir stets auch Mitglieder von vielen Gruppen, deren Merkmale wir gern teilen, um dazuzugehören. 2.1 FREIHEIT UND NORM
Wenn wir Mitglieder in bestimmten Gruppen sein wollen, dann müssen wir uns den Normen dieser Gruppen natürlich möglichst unterordnen. Moslems sollten kein Schweinefleisch essen, Bayern-München-Fans keine St.-Pauli-Trikots tragen, katholische Priester nach dem Zölibat leben und Polizisten gesetzestreu handeln. Wir sollen also angepasst sein, möglichst durchschnittlich nach den Normen der Gruppe. Und dazu sind wir auch bereit, weil wir dazugehören möchten. Dieser Gruppenzwang wird Normalität genannt. Und er ist das Gegenteil von Individualität. Wir geben also freiwillig unsere Freiheit auf, denn Freiheit...